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Das Kind macht sich nützlich von Jürgen Hühnke
Tante Pia von Dieter Fleischmann
Geisterstunde von Jürgen Hühnke
Silberlöffel von Uwe Neveling
Rohrbruch von Fritz Schukat
2 Anläufe, ein Bürger Schles.-Holsteins zu werden von Jürgen Hühnke
Heimattümelei? von Jürgen Hühnke
Halbgötter in Nadelstreifen von Jürgen Hühnke
Denglisch - Verenglisch - Angleutsch von Jürgen Hühnke
Die Autoanmeldung von Klaus Trautmann
Der Kakaoabend von Petronella Schukat
Die Hand, die nicht mehr arbeiten wollte von Uwe Neveling
Es geht alles vorüber... von Fritz Schukat
Haarwäsche von Uwe Neveling
Was war früher eigentlich anders als heute? von Fritz Schukat
Selbstverwirklichung von Jürgen Hühnke
Lieblingsessen von Fritz Schukat
Fische von Uwe Neveling
Die Spieluhr von Fritz Schukat






 

Das Kind macht sich nützlich

Jürgen Hühnke Jahrgang 1935 

von Jürgen Hühnke

Der Obst und Gemüsehof meines Großvaters, eine für Notzeiten wie die frühen Nachkriegsjahre gedeihliche Selbstversorgungsanlage, lag am äußersten Stadtrand von Stade etwas abseits einer großen Ausfallstraße, an der sich noch dörfliche Struktur durchsetzte: Bauernhöfe und Handwerksbetriebe, nämlich eine Tischlerei, eine Zimmerei und eine Schlosserei; zum Einkaufen freilich musste man die drei Kilometer „in die Stadt" mit dem Bus zurücklegen.

Auch für Kinder und Heranwachsende gab es hier genug zu tun, je nach Alter, Kraft, Geschick und Vernunft. Das begann mit dem sog. „Spreenhüten", d. h. dem Verjagen der in die Kirschen einfallenden Stare, setzte sich fort im Gießkannenschleppen zwecks Bewässerung der Erdbeerfelder und im Abernten der Apfelplantage und der sie umstehenden Haselnussbüsche.

An zwei Seiten bildeten Gräben die äußere Grenze. Sobald ich hinreichend kräftig war, oblag die Sauberhaltung dieser Gewässer mir. Mit Langschäftigen versehen, stapfte ich dann durch die flachen Fluten und rupfte heraus, was da nicht wachsen sollte. Da war Qualitätsarbeit gefragt, da war Opa ganz eigen und noch um einige Grad pedantischer als die Inspektoren vom Marschenbauamt bei der sommerlichen Grabenschau.

Einiges an Tätigkeiten fiel an für mich, wenn eines der drei Schweine geschlachtet wurde - nicht am Arbeitstisch des Hausschlachters natürlich, auch wenn man am Probieren des gesalzenen und gepfefferten Metts gern teilgehabt hätte. Der Transport jener Fleischmengen, die nicht als Wurst oder Sülze in Darm und Blase oder die als Ganzes in der Räucherkammer verschwanden, war meine Sache.

Eine vom Schlosser mit Rädern von Drahteseln versehene Kastenkarre wurde mit gefüllten Dosen und aufgelegten Deckeln vollgestellt und mir die ganze, höchst wacklige Angelegenheit logistisch anvertraut für den Weg zum Schmied, der dann die Dosen mit einer überbordelnden Rädelmaschine hermetisch verschloss. Eine andere Art des Transports, jetzt von Rohprodukten, lag für mich an, wenn es ans Brotbacken ging. Oma, eine exzellente Küchenfee, knetete einen Teig und formte zwei Laibe daraus, die mir auf eine Schiebkarre gelegt wurden, damit ich sie zum nächsten Bauern mit Backofen brächte. Diesen erreichte ich am besten über ein Feld, wenn es gerade gepflügt oder just abgeerntet war, im ersten Fall über eine Ackerfurche. Mit den noch heißen Brotlaiben ging es auf gleichem Weg retour.

Es gab also viele Möglichkeiten für ein Kind, sich nützlich zu machen. Da schwellte sich manchmal stolz die Brust ob der Verantwortung und des Geschicks. Schließlich gehörte nicht eben viel Tapsigkeit dazu, Teigrohlinge oder dampfende Brote in gute deutsche Scholle zu kippen.

Die Drahteselkarre wurde oft auch mit Spargel, Erdbeeren und Kernobst beladen und durch mich in die Stadt zu den Abnehmern geschoben. Das hatte einen enormen Vorteil, indem die belieferten drei Kinobesitzer mir zum Dank Dauerabonnements für die meisten Filmvor-führungen spendierten. Wer das Dolcefarniente genießen will, darf nun einmal eine gehörige Fron nicht scheuen.

 

Tante Pia

Dieter Fleischmann Jahrgang 1937 

von Dieter Fleischmann erstellt am 24. August 2014

Tante Pia war gar nicht meine Tante, sondern unsere Nachbarin in der Lenaustraße in Berlin-Neukölln im vierten Stock. Unsere Wohnungen lagen direkt nebeneinander und waren gleich geschnitten, mit den Fenstern und Balkonen über den hohen Robinienkronen der Straßenbäume. Von Balkon zu Balkon konnten wir uns zuwinken, was ich als kleiner Junge auch gerne tat.

Pia war von hagerer Gestalt, um nicht zu sagen dürr. Beim Sprechen klapperte ihr Gebiss, was sie nicht daran hinderte, erst einmal eine Zigarette zu rauchen, wenn sie nervös wurde. Verheiratet war sie mit Häns‘chen Sittner, der vor dem Krieg aus dem Sudetenland gekommen war.

Wenn Pia mit mir in den Jahnpark zum Buddeln ging - sie hatte keine Kinder - kamen wir auf dem Rückweg über den Hermannplatz an Häns‘chens Arbeitsplatz vorbei. Er saß in einem Fahrkartenhäuschen der U-Bahn und knipste die Fahrscheine oder verkaufte sie.

Anschließend bekam ich im „Hammer“ an der Urbanecke oder im „Blauen Affen“ eine Fassbrause, bevor es den Kottbusser Damm entlang zurück in die Lenaustraße ging.

Hänschen war nicht sehr gesund und starb bald, so dass Pia ihre Schwester Else aus der Schönleinstraße zu sich holte. Sie hatte eine sehr dicke Brille und war sehr energisch, obwohl sie nur eine kleine Person war.

Pia kümmerte sich um mich, während meine Mutter am Küchenfenster an der Nähmaschine saß und die Kinderkleider zusammennähte, die meine Großmutter in der Pannierstraße zugeschnitten hatte und die dann später am Tauentzien in den feinen Geschäften teuer verkauft wurden. Bei meiner Großmutter und meiner nähenden Mutter blieb nicht viel hängen, obwohl sie viele Stunden am Tag mit den Kleidern zubrachten.

Mit mir hatte meine Mutter meist Ärger, weil ich in der Küche spielte, wo sie am Fenster an der Nähmaschine saß, meine Spielsachen aus dem „Kohlenkasten“ in der Küche verstreute und sie nicht wieder wegräumen wollte.

Meine Mutter war genervt und schimpfte mit mir, wenn ich meinen Bock bekam und schließlich verprügelte sie mich mit dem Teppichklopfer und sperrte mich in die dunkle Toilette. Da war ich froh, wenn ich zu Pia hinüber durfte. Hier fühlte ich mich wohl. Es war wie ein zweites Leben. Aus Wollresten wurde mit Hilfe einer Holzspindel ein dicker Faden gewebt, den ich meinem Teddy aus Paris - ich hatte ihn von meinem Vater - um den Hals als Schal legen konnte.

Als der Krieg vorbei war, wir aus Schlesien und Thüringen wieder in Berlin waren, lernte ich bei Tante Pia ganz andere Dinge.
Der neue weiße Teddy - der Pariser war in Schlesien auf der Flucht vergessen worden - musste einen Schal und eine Jacke bekommen.

Um sie herstellen zu können, lernte ich bei Tante Pia stricken. Auch das Stricken kleiner Decken mit Blumenmuster wurde mir beigebracht. Um die Decken herum häkelte ich einen blauen oder roten Rand.
Das brachte meinen Vater auf die Palme: „Was macht Ihr mit meinem Sohn?“ Er war richtig wütend. „Er soll auf der Straße Fußball spielen, sich zu verteidigen wissen, aber doch keine Weibsarbeit machen!“ Einmal sagte er zu mir: „Wenn Du weinend von der Straße hochkommst, werde ich Dich auch noch verprügeln.“ Jungen haben auf der Straße herumzurennen, sich mit gleichaltrigen Kindern zu zanken und zu streiten, dachte er sicher.

Pias Mann war dagegen von einer Sanftmütigkeit, die beruhigend auf mich wirkte. Von ihm stammt auch das Bild, auf das der Blick sofort fiel, wenn man in ihr Wohnschlafzimmer kam; es hing über dem Sofa: Böcklins „Toteninsel.“ Diese künstliche Stille, die nicht von dieser Welt war, hatte mich schon als Kind tief beeindruckt und nie wieder losgelassen.

Von „Häns‘chen“ erbte ich auch mein erstes Schachspiel mit gedrechselten Figuren. Im Schachspielen hat er wohl die Aggressionen ausgelebt, die er sich im richtigen Leben versagt hatte, ganz anders als mein Vater, von dem ich eine Ohrfeige zu unrecht erhielt, als er auf Urlaub von der Front bei uns war.

In der Hungerzeit 1945 - 1946 ging es uns nicht gut, aber wir wurden satt. Mein Vater hatte sich von Dresden aus nach Berlin durchgeschlagen, um die Wohnung zu retten. Wegen der großen Wohnungsnot nahm er einen Untermieter auf: Zundel. Der war Monteur bei Deutz in Köln und reparierte Motoren bei den Brandenburger Bauern und in Berlin. Getreide und Zuckerrüben waren oft seine Entlohnung, so dass es bei uns durch die Kaffeemühle geschroteten Weizen gab: morgens war der Brei in warmen Wasser geweicht, mittags in der Pfanne aufgebraten und abends eine der beiden Varianten. So mussten wir nicht von den Rationen der Lebensmittelkarten allein existieren, von denen man weder richtig leben noch sterben konnte.

Pia und Else ging es schlecht. Da sie nicht arbeiteten - Pia hat später Steine geklopft - bekamen sie die geringste Ration. Was es auf Marken gab, reichte nie, und so hungerten sie entsetzlich. Aber Not und Hunger machten erfinderisch und zerstörten jegliche Moral und alle Hemmungen.

Meiner Mutter fiel auf, dass während unserer Abwesenheit sich unser Brotlaib verringerte, ohne dass einer von uns sich eine Scheibe genommen hätte, weil wir nicht zu Hause waren.
Eines Tages überraschte meine Mutter Pia, die aus unserer Wohnung kam, denn die Schlüssel waren fast identisch und schlossen in beiden Türschlössern. Ich weiß nicht, wie Pia sich herausgeredet hat, aber sie war sehr verstört. Meine Mutter überging diese Angelegenheit, denn sie ahnte längst, dass der Hunger sie zu dieser Tat getrieben hatte.

Da mein Vater wegen seiner früheren Parteimitgliedschaft auf dem Bau gelandet war, bekam er eine bessere Lebensmittelkarte, was zusammen mit dem Zundel‘schen Brei zum Sattwerden reichte. Meine Mutter sorgte von nun an auch dafür, dass Pia und Else von unserem Brot auch etwas erhielten.

Für meine geistige Entwicklung war Pia auch mitverantwortlich. Sie schmökerte gern. Das war in Zeiten ohne Fernsehen noch eine beliebte Beschäftigung. Ich hatte in dem Zeitungsladen am Kottidie Groschenhefte „Die Deutschen Auswanderer“ entdeckt, in denen von einer Familie im 19. Jahrhundert berichtet wurde, die in den „Wilden Westen“ auswanderte. Die Hefte erschienen wohl alle 14 Tage und begeisterten mich und natürlich auch Tante Pia, die sie gegen ihre Arztromane austauschte. So erwarteten wir immer mit Spannung das nächste Heft. Leider sind die Hefte verloren gegangen.

Als ich älter wurde, lasen wir umfangreichere Werke.
Neben „Woolworth“ am Kotti gab es das „Buch“, das dem Herrn Nächster gehörte. Da viele Leute sich Bücher nicht leisten konnten, verlieh er spannende Romane für 30 Pfennige pro Woche. Pia und ich lasen sie gemeinsam, das war billiger. Hier lernte ich Winnetou, Tarzan, aber vor allem Zane Grays Wildwestromane kennen. Bis zu ihrem Untergang in den achtziger Jahren bin ich der Buchhandlung treu geblieben. Zusammen mit der Lesekultur in Neukölln starben diese Läden aus.

Pia ging auch mit mir ins Kino. Damals gab es einen spannenden und gruseligen Krimi: „Die Wendeltreppe“. Den wollte Pia unbedingt sehen, aber nicht allein, weil sie Angst hatte. So musste ich sie in das Spektakel am Kotti ins Kino begleiten.

Als meine Mutter schwer krank bei uns zu Hause lag und ich sie pflegte, half mir Pia und kochte für uns Kartoffelsuppe. Eines Morgens atmete meine Mutter nicht mehr und ich holte Pia, die den Puls fühlte und mich dann tröstete. Sie wollte zur Ärztin gehen, ich sollte meinen Großvater in der Pannierstraße, dem Vater meiner Mutter, Bescheid sagen. Inzwischen banden wir meiner Mutter noch ein Tuch um Kopf und Kinn, damit sich ihr Mund schloss und sie aussah, als würde sie schlafen. Es war der 10. August und der Geburtstag meines Großvaters, der bei der Nachricht heulte und jammerte, dass er noch weiterleben müsse.

Die Ärztin schimpfte mit uns, wir hätten der Kranken wohl zuviel Morphium gegeben.

Tante Pia sprang auch ein, als ich meine Examensarbeit schrieb und mein Vater wieder mit der Mietzahlung im Rückstand war. Das hatte zur Folge, dass unser Vermieter unseren maroden Kachelofen im Wohnzimmer nicht reparieren ließ. So saß ich im kalten Januar im ungeheizten Raum. Vor Pias Ofen konnte ich in wohliger Wärme meine schriftliche Examensarbeit abtippen.

Pia war so bescheiden, dass sie aus meinem Leben einfach verschwand, als sie nicht mehr notwendig war. Sie gehörte zu jenen Menschen, die gar nicht von dieser Welt sind.
Lag ihr Verschwinden wohl auch an mir?

erstellt am 24. August 2014
Erläuterungen

Robinien sind winterfeste hochwachsende Bäume, die ursprünglich aus Amerika kommen. Sie eignen sich vorzüglich für die Straßenbaumbepflanzung.

Sudetenland (auch Sudetengau) ist das Randgebiet um das Kernland der früheren Tschechoslowakei, das überwiegend von den deutschsprechenden Sudeten bewohnt wurde. Es wurde im Herbst 1938 von Hitler-Deutschland völkerrechtswidrig annektiert.

Der Jahnpark ist Teil des Neuköllner Volksparks Hasenheide, eines großflächigen Park inmitten des Häusermeers. Den volkstümlichen Namen „Jahnpark“ bekam ein Teil des Volksparks, weil „Turnvater Jahn“ dort Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung initiierte.

Mit „Kotti“ kürzt der Autor den „Kottbusser Damm“ ab, der am Neuköllner Hermannplatz beginnt und zum Kreuzberger Kottbusser Tor (Hochbahnstation) führt.
Die Lenaustr. und die Schönleinstr. sind Querstraßen zum Kottbusser Damm, vom Hermannplatz aus etwa 200-400 m entfernt.

Die beiden Lokale „Hammer“ und „Blauer Affe“ waren Großdestillen in unmittelbarer Nähe des Hermannplatzes, in denen man auch deftiges Essen (z.B. Eisbein mit Sauerkraut und Erbspüree) bekam.

Vor dem Krieg bereiste der Vater unseres Autors das europäische Ausland, u.a. auch Frankreich. So kam er zu seinem Pariser Teddy, der 1945 auf der Flucht aus Schlesien zurückgelassen wurde.

Parteimitgliedschaft: Fleischmanns Vater trat gemeinsam mit seinen Kollegen um 1936 in die NSDAP (Nazi-Partei) ein, weil sie sonst keinen deutschen Reisepass bekommen hätten, den sie für Auslandsfahrten mit der MITROPA, ihrem Arbeitgeber, benötigten. Nach dem Krieg wurde er anstandslos „entnazifiziert“.Die amerikanische Firma „Woolworth“ (Billig-Läden im Non-Food-Sektor) betrieb schon seit 1928 bis zu 300 Filialen in ganz Deutschland.

Arnold Böcklin malte in den 1880er Jahren insgesamt vier Versionen seines bekanntesten Motivs „Die Toteninsel“. Es wurde auch von anderen Malern aufgegriffen und sogar in einer Comic-Version verhunzt.

Unterstützende Recherche F. Schukat

 

Geisterstunde

Jürgen Hühnke Jahrgang 1935 

von Jürgen Hühnke aufgeschrieben im August 2014

Den ganzen Tag hatte es geregnet, sodass wir uns im Schullandheim in der Nordheide entsetzlich langweilten. Wir, das waren ein Klassenlehrer d.h. ich, und seine Quartaner oder Siebtklässler; Schuljahr 1970/71. Alles, was die lieben Kleinen und ich aus Jungschar oder Jugendgruppe, wenn nicht gar aus dem Kindergarten an Spielchen kannten, von der Reise nach Jerusalem gar bis „Laurentia, liebste Laurentia mein", hatten wir bis zur Erschöpfung durchgezogen.
Am Spätnachmittag klarte es überraschend auf, also musste ein Programm her, etwas Neues zur Abwechslung. Und da die Abende zwei fast verflossene Wochen hindurch so allerlei unternommen worden war, soweit man in einer Heimeinrichtung Abwechselndes unternehmen konnte, verfiel ich auf die alberne Idee einer mitternächtlichen Wanderung über einen dörflichen Friedhof, dessen Pforten, wie ich erkundet hatte, nachts nicht versperrt waren.

Da man weiß, dass solch ein Vorhaben mit Pubertierenden und Vorkonfirmanden gewisse Risiken birgt, nämlich die Totenruhe störende Faxen, stand am Anfang eine väterliche Instruktion desbezüglich. Und alles ging gut. Die Gören benahmen sich ausgezeichnet und gar nicht unziemlich, als wäre so eine Geisterstunde zwischen Gräbern ihr Alltag - oder sollte ich sagen: ihre Allnacht.
Kaum aber hatten wir gegen ein Uhr den Gottesacker verlassen, erschallte ein Entsetzensschrei von unserer Klassensprecherin Britta, die sich in den Arm ihres Stellvertreters Thomas verkrallte: Im fahlen Mondschein und im diffusen Licht entfernt stehender Straßenlaternen zeichneten sich die Schatten dahinhuschender Gestalten auf der Friedhofsmauer ab.
Darauf hörten wir einen etwa so lautenden Dialog von zweien der vermutlichen Geister, die wir auch im Schein von Taschenlampen sowie dem aufgeblendeten Licht eines Panzerspähwagens zu sehen bekamen: „Was ist da Ios, Hauptfeldwebel?" schnarrte die eine Stimme, der geantwortet wurde: „Zu Befehl, Herr Major, Zivilisten im Planquadrat E 8, offensichtlich Pennäler." Wieder Kasernenhofschnarren: „Vermerken, aber keine veralbernden Kommentare ins Regimentstagebuch!" - „Ironie unterbleibt, Herr Major!" Der Schnarrer trat auf Britta zu, tröstete sie und entfernte sich wieder: „Gestatte mich zu empfehlen, die Herrschaften."
Mit ihm machte sich seine Geistertruppe davon, wohl eine Kompanie Panzergrenadiere mit einer Nachtübung ähnlich der unseren. Alle hatten rußgeschwärzte Gesichter und hatten die Stahlhelme mit Birken- und Hainbuchenzweigen drapiert, ganz so, wie sich auch ein Karnevalsverein als „Bundeswehrkompanie im Manöver" verkleidet hätte. Wie ich auf Panzergrenadiere komme? Eigentlich war ich nämlich „Weißer Jahrgang" und wurde nie gezogen. Aber man bekommt in der Referendarsausbildung Einblicke in jederlei pädagogisches und sonderpädagogisches Tun, etwa in den Chemieunterricht an der Sonderschule, in den Jugendstrafvollzug auf Hahnöfer Sand oder erlebt eine Musterstunde zur Offiziersausbildung beim Bund. Eben aus dieser Vorführstunde hat sich mir noch heute der denkwürdige Satz des instruierenden Majors im Gedächtnis erhalten, als Nachklapp zu einer Frage: „Das müssten nun die Panzergrenadiere unter Ihnen wissen, dumm und faul, wie sie sind!" Die in diesem Fall Angesprochenen hatten normmodisch dieselbe Variante der Uniformgewandung getragen wie unser Geisterbataillon.
Als die Siebtklässler diese nächtliche Begegnung überschlafen hatten, brach schon der letzte Tag unseres Aufenthaltes hier an. Für diesen Abend stand ein kleines Tanzfest zu Plattenmusik an. Ich würde also in etwa den Ablauf und das Wesen einer Teenie-Disco kennenlernen.
Es war ein rundum erfreuliches Bild, das die Kleinen boten, wie sie sich in der Imitation des Erwachsenseins abmühten. Die Mädchen in ihren kurzen Röcken - der Minirock wurde gerade erst erfunden - zeigten ihre langen Beinchen, was aber weniger fraulich als mehr schlaksig wirkte; allenthalben war das Vorbild Twiggy unverkennbar. Auf dem Höhepunkt des Abends verlangten die Gören lauthals, dass der DJ nun doch Platten auflegen solle für einen „Schmusetanz". Offenbar war er dieses Begehr durch seine Tätigkeit in einem Discoschuppen gewohnt und spielte prompt Slowfox, English Waltz und den seit den „Caprifischern" üblichen relativ langsamen mediterranschmalzigen Tango ab, also nicht den stakkato ablaufenden Tango argentino. Wange an Wange schoben die Bürschchen ihre Mägdelein über das Parkett, einige mit anhimmelndem Blick, die meisten träumerisch-geschlossenen Auges, alle aber im Zustand fast nicht mehr irdischer Seligkeit. So viel Turtelei kann wohl nur ein Schmusetanz bringen, aber die Pubertät ist - man denke an die eigene Jugendzeit - eben immer ein permanenter Ausnahmezustand.
Aus der eigenen Vergangenheit ist jedoch auch erinnerlich, wie man selber als Schülerin und Schüler (so muss ich jetzt ja politically correct sagen) die lehrerliche Aufsicht umging. Insofern konnte ich nicht hundertprozentig sicher sein, ob nicht irgendwo, backstage sozusagen, eines der Teenies Dope rauchte oder zwischengeschlechtlich über die Stränge schlug, schließlich schrieben wir das Hippiejahr 1970, das Jahr nach Woodstock. Immerhin hätten die beseligten Augenaufschläge als ein Indiz für psychedelisches Angeschickertsein gedeutet werden können.
Will man als Klassen- und Aufsichtslehrer nicht päpstlicher sein als der Papst, lief der Schmusetanz ebenso gesittet ab wie die Nachtwanderung.

Britta und Thomas, deren Intimleben ich bis dahin nicht als parallellaufend vermutet hatte, blieben den ganzen Abend in aller Züchtigkeit unzertrennlich; vielleicht hatte ja die Friedhofs-Geisterstunde den erotischen Funken tatsächlich erst entzündet. Etwa ein Jahrzehnt später - ohnehin wurde ich zu weiteren Klassenfesten und nach dem Abitur zu den Klassentreffen eingeladen - erreichte mich brieflich die Ankündigung vom bevorstehenden Einlauf der beiden im Hafen der Ehe. Folglich mag ein nächtlicher Geisterschreck beziehungsweise der Anteil der Deutschen Bundeswehr daran doch zu etwas nütze gewesen sein.

 

Silberlöffel

Uwe Neveling Jahrgang 1937 

von Uwe Neveling aufgeschrieben um 2004

Wir waren wieder einmal unterwegs, Ottokar und ich. Es war mittlerweile schon Tradition, dass wir einmal im Jahr auf große Fahrt gingen. Viel Geld hatten wir nicht. Das günstigste Verkehrsmittel waren unsere Räder. Ich hatte mir meins vor einigen Jahren während der großen Ferien erarbeitet. Ich arbeitete damals bei einem Hoch- und Tiefbau-Unternehmen als Hilfskraft, d.h. der Polier setzte mich für vielfältige Aufgaben ein. Ich versorgte die Mannschaft mit Getränken und Verpflegung, half beim Auf- und Abladen von Baumaterialien, pflasterte Innenhöfe und hub gelegentlich Gräben aus. Offensichtlich war man mit mir zufrieden. Der Lohn reichte für den Kauf eines neuen Fahrrades, sogar mit Gangschaltung. In den letzten Jahren waren wir in Holland, Belgien und Norddeutschland gewesen. Dieses Mal sollte es nach England gehen.

Ottokars Schwester arbeitete zu der Zeit in einem Fellowship-Friendhouse in der Nähe von Eastbourne. Die wollten wir besuchen und dann auch weiter nach London fahren. Mitte der neunzehnhundertfünfziger Jahre war eine derartige Tour schon etwas ungewöhnlich und in Anbetracht unserer finanziellen Möglichkeiten sogar abenteuerlich. Übernachten wollten wir in Jugendherbergen und Youth Hostels. Für Notfälle nahmen wir ein einfaches Zweimannzelt mit. Später stellte es sich heraus, dass wir das Zelt gut gebrauchen konnten. Wir nächtigten einmal bei englischen Pfadfindern, die uns freundlich aufnahmen und uns an ihrem Lagerleben teilnehmen ließen. In Eastbourne zelteten wir auf dem Zeltplatz nahe der Steilküste.

Wir fuhren mit dem Zug nach Brüssel, das wir am späten Nachmittag erreichten. Wir holten unsere Räder aus dem Gepäckwagen und starteten sogleich Richtung Ostende. Wir fuhren die ganze Nacht durch. Ich erinnere mich daran, dass wir um Mitternacht Gent erreichten und am frühen Morgen im Hafen von Ostende ankamen. Wir nahmen dann die Fähre nach Dover, quälten uns die englische Steilküste hoch und machten uns auf den Weg nach Eastbourne.

Das südliche England ist eine liebliche Landschaft mit heckenumsäumten Straßen und Wegen. Gegen Mittag rasteten wir an einem kleinen Wäldchen. Ein Schild fiel mir auf: „Beware for the adders”, man sollte also auf Kreuzottern achten. Wir ließen uns dadurch in unserer Mittagsruhe nicht stören. Die andere Straßenseite wurde von einer mannshohen Mauer begrenzt. Wir hörten Stimmen, die uns neugierig machten. Wir erklommen die Mauer und erblickten einen äußerst gepflegten Rasenplatz. Auf dem tummelten sich weißgekleideten Herren. Einige Herren trugen eine Schutz-kleidung. Sie warfen sich einen kleinen, ebenfalls weißen Ball zu. Am Rande des Spielfeldes saßen einige Zuschauer, die aus uns unerfindlichen Gründen gelegentlich in lautem Jubel ausbrachen.

Man erblickte uns. Ein sportlich gekleideter Engländer kam zu uns herüber. Er fragte uns, wo wir herkämen. Er war sehr höflich und nahm es uns nicht übel, dass wir Deutsche waren. Im Gegenteil, er stellte sich vor und auch wir nannten unsere Namen. Er hieß Silverspoon. Silverspoon war begeisterter Kricketanhänger, und dieses Spiel fand gerade auf dem Rasen statt. Er erklärte uns die komplizierten Regeln des Spiels. Wir verstanden nur Bahnhof. Bei diesem Spiel geht es darum, das Tor des Gegners zum Einsturz zu bringen. Die Tore bestehen aus Stäben und Querstäben und werden von einem Schläger bewacht. Der Schläger schlägt den auf ihn zufliegenden Ball mit einer Schlagkeule möglichst weit ins Feld zurück. Verfehlt er den Ball, so muss der Torwächter den Ball fangen und versuchen, das gegnerische Tor umzuwerfen. Wir nickten freundlich und taten so, als hätten wir alles verstanden. Silverspoon war glücklich. Er meinte wohl, neue Anhänger für diesen Sport gewonnen zu haben und lud uns zu einer Tasse Tee ein. Da konnten wir nicht nein sagen.

Für uns war der Tee etwas gewöhnungsbedürftig, er wurde mit Milch und viel Zucker gereicht. Wir sahen dem Spiel noch eine Weile zu, ohne es zu begreifen. Es kam uns vor, wie eine Mischung aus Pinnchen-Schlagen und Schlagball. Die Feinheiten blieben uns verborgen.

Wir verabschiedeten uns von unserem neuen Freund und fuhren in den späten Nachmittag hinein. Am Abend trafen wir auf die Pfadfindergruppe. Wir nahmen am Abendgottesdienst teil, erhielten eine warme Mahlzeit und durften unser Zelt in ihrem Lager aufbauen. Nach diesem anstrengenden Tag gingen wir früh schlafen. Ich träumte von Mr. Silverspoon. Er erklärte mir noch einmal die Regeln und ich begriff wieder nichts. Ottokar meinte am nächsten. Morgen, dass ich sehr unruhig geschlafen hätte. Ich hätte von toten Bällen gemurmelt und der ‚Schläger ist aus‘ gerufen.

Damals hatte ich Ottokar nicht verraten, dass Mr. Silverspoon mir in einem Traumkursus versuchte, die Kricketregeln beizubringen. Viel geholfen hat es nicht. Ich kenne sie immer noch nicht. Ich vermisse sie auch nicht. Ich denke aber gerne an Mr. Silverspoon. So stelle ich mir einen englischen Gentleman vor: Er besitzt eine gute Aussprache, ist höflich und gut gekleidet. Als Gentleman nimmt er es mir sicherlich nicht übel, dass ich Kricket nichts abgewinnen kann.

 

Rohrbruch

Fritz Schukat Jahrgang 1935 

von Fritz Schukat erstellt am 10.08.2014

An sich passt diese Geschichte nicht in unsere Philosophie, denn sie ist nicht „alt“ und eigentlich kann sie auch jeder jüngere Mensch erleben, aber hier kamen plötzlich und mit aller Wucht die traumatische Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegsjahre hoch, die trotz der Alltäglichkeit dieser Situation unbehagliche Angstgefühle initiierten.
Unser Autor ist Jahrgang 1935 und hat die letzten Kriegsjahre als 8-9-Jähriger bewusst miterlebt.
Auf einem Symposium an der Universität München im Jahre 2010 war der bekannte Psychoanalytiker Ermann bei einer ähnlichen Schilderung nicht überrascht. "Die Kriegskinder sind heute in einem Alter, in dem sie die Vergangenheit gleich zweifach einholt." Zum einen liege das an neurophysiologischen Prozessen: Im Alter erinnern wir uns plötzlich wieder an Erlebnisse, die lange verschüttet waren. Zum anderen sei das Alter eine Lebensphase, in der alles, was jahrzehntelang Halt gegeben habe - die Familie, der Beruf - langsam wegbreche, sagt Ermann. "Und dann fällt auch die mentale Abwehr in sich zusammen."

Es passierte am zweiten Sonnabend im August 2014, eigentlich einem Tag wie jeder andere. Wetter durchwachsen, es regnete nicht, aber die Sonne wollte auch nicht so richtig durchkommen.
Ich saß an meinem PC, trank gerade den letzten Tropfen des kalten Kaffees von heute früh, als meine Frau mich rief und mir im Bad erstaunt und entgeistert erklärte, „Du, wir haben kein Wasser mehr!“ Sie betätigte die Armatur am Spülstein und es kam nur noch ein dünner Faden heraus. „Auch in der Küche läuft nichts mehr!“
Ich war ratlos. Nahm eine Taschenlampe und stieg in den Keller, um dort vielleicht der Ursache auf den Grund zu kommen, aber weder war der Keller geflutet noch hörte man irgendwelche Geräusche - hier gab es nichts zu entdecken.

Wieder oben, eröffnete ich meiner Frau, dass ich nichts habe feststellen können. Einigermaßen ratlos fragte ich sie, ob sie denn nicht einmal die Wasserwerke anrufen möchte, um ggf. etwas zu erfahren.

Unser Dorf hat kein eigenes Wasserwerk, es liegt auf der Grenze zwischen zwei größeren Orten, die jeweils ihr eigenes Wasserwerk haben. Natürlich riefen wir das falsche an: „Ja, davon habe ich heute auch schon gehört, aber wir sind für Ihren Ort nicht zuständig, da müssen Sie mal in der Nachbarstadt anrufen.“ Meine Frau hatte eine bessere Idee. Der Ortsbürgermeister hatte eine Bandansage aufgenommen und die Frau erfuhr, dass wegen eines Rohrbruchs die Wasserversorgung für den ganzen Ort für unbestimmte Zeit unterbrochen werden musste. Man bäte um Verständnis.

Wir sahen uns verständnislos an: was heißt für unbestimmte Zeit? Ein oder zwei Stunden? Vielleicht den ganzen Tag? Wir hatten keine Chance, einen kleinen Vorrat an Wasser anzulegen, etwa um uns Kaffee zu kochen oder Würstchen warm zu machen. Wofür braucht man Wasser eigentlich noch - nix würden wir machen können, nicht einmal das Klo benutzen, na ja, gut, aber nicht für größere Geschäfte!

Noch war uns nicht so recht bewusst, dass das eigentlich eine fatale Lage war, aber wenn doch, betraf sie natürlich auch die Nachbarn. Und was machen die? Also, so lange kann das doch nicht dauern, aber wir hatten Wochenende und ob da alle Reparaturen schnell erledigt werden könnten, darüber schweigt des Sängers Höflichkeit.

Mineralwasser haben wir immer im Haus. Ob man damit Kaffee kochen kann? Meine Frau probierte es, und der Kaffee schmeckte hervorragend. Aber das kann keine Dauerlösung werden. Wer sagt uns denn nun, wie lange es noch dauern wird?

Nach ein paar Minuten stellte meine Frau fest, dass das Wasser nunmehr wieder laufe! Ich wankte von der Couch, wo ich ein paar Augenblicke lang meinen Mittagsschlaf gehalten hatte zur Toi, spülte, aber es gab keinen Nachlauf! Auch aus dem Handwaschbecken kam wieder kein Tropfen.

Und da war es wieder, dieses Gefühl der Hilflosigkeit, dieser merkwürdige Angstzustand des Ausgeliefertseins wie damals nach dem Krieg, wo es nicht nur stundenlange Stromsperren gab, lange verschüttet und vergessen. Unbehaglich.
Hätten wir erfahren, dass es sich beim ersten Versuch nur um einen Atemzug handelte, hätten wir schnell einen Eimer abgezapft. Wieder ungewiss, wie lange der Zustand anhalten würde.

Wenn am Sonnabend um 12:00 Uhr die Sirenen im Ort „durchgepustet“ werden und einen langen Ton von sich geben, weiß man, wie spät es ist. Das geschieht jeden Sonnabend. Aber wenn nach einem Gewitter die Sirenen in den dunklen Himmel hinein schreien, wenn man den Warnton drei Mal hintereinander anschwellen hört, dann kommt manchmal die Erinnerung an den Fliegeralarm während des Krieges hoch, aber nur kurz. Man weiß ja, wenn die Feuerwehr „mit Fackeln und Musik“ durch den Ort saust, dann ist es für uns nicht bedrohlich.

Bis dann nach nochmals einer Stunde das Wasser endlich wieder lief, habe ich mich sehr unwohl gefühlt und wir haben hin und her überlegt, was wir im Ernstfall machen könnten. Vielleicht würden ja sogar Fahrzeuge mit Wasser durch den Ort fahren, um uns zu versorgen!? Am Montag werden wir bestimmt weiteres hören.

Noch einmal Rohrbruch möchte ich so etwas unvorbereitet nicht mehr erleben.

 

2 Anläufe, ein Bürger Schles.-Holsteins zu werden

Jürgen Hühnke Jahrgang 1935 

von Jürgen Hühnke erstellt im April 2014

Die Industrielle Revolution hat, im Verein mit den nationalen wie den globalen Entwicklungen der Verkehrssysteme sowie vollends mit der extrem fortschreitenden Spezialisierung der Berufe und deren Ausbildungsgängen, einen neuen Menschentypus hervorgerufen, den Jobmigranten, der dem Arbeitsplatz hinterherreist. War man zuvor das geworden, was bereits Vater und Großvater waren, und ihnen im Familienbetrieb als Erbe gefolgt, wurde man nun zunächst einmal - heimatlos. Je kleiner der Geburtsort war, desto mehr war man darauf angewiesen, in einer zentraleren Siedlung seine schulische und berufliche Ausbildung zu suchen und dort letzten Endes auch zu wohnen. Die spezialisierte Arbeitsteilung hatte schon zu Beginn der Neuzeit die Handwerksgesellen ihr Bündel schnüren und auf die Walz gehen lassen, auf der Suche nach einer attraktiven Meisterswitwe, in deren Erbe sich einheiraten ließ.
Die Ausbildung zum Metzger suchte man vorzugsweise in Hamburg oder Braunschweig, dem Büttner an - Weinfässern Boten sich Würzburg oder Worms an, während für dasselbe Gewerk an Bierfässern Coburg und München zählten, und beliebteste Ausbildungsplätze für Kaminkehrer waren Leipzig und Wien.
Die besondere Note dieses Nomadendaseins besteht im Zwang, in einer Wahlheimat Fuß zu fassen, sich in Beruf und ehrenamtlicher Mitarbeit in Vereinen, Parteien oder Initiativgruppen zu integrieren.
Mit einiger Skepsis lässt sich sagen,dass die Analyse der eigenen Sozialisierung noch am gründlichsten unternommen werden kann. Also rede ich von mir und den Etappen meiner eigenen Sesshaftwerdung in Schleswig-Holstein.
Dieser Weg begann eigentlich bei meiner Verlobten, die kurzentschlossen - resolute Pastorentochter, die sie ist - schon etliche Zeit vor mir den Sprung ins Staatsexamen wagte, da ihr Vater (die Mutter war schon weit vorher gestorben) auf den Tod danieder lag und die beiden jüngsten Brüder, 13 und 16 Jahre alt, häuslich und schulisch noch zu versorgen waren. Man kann also scherzen, das Paar habe des Nachwuchses wegen heiraten müssen. Das ergab sich nämlich gewissermaßen auf dem Behördenwege.

Es ist selbstverständlich, dass der Anstoß nicht von außerhalb ausging, sondern in der Konsequenz des Verlöbnisses lag. Meine Auserwählte hatte schon am Tage nach unserer Begegnung ihrer Mutter gesagt: „Mama, jetzt habe ich den Mann gefunden, den ich heiraten werde." Ganz ohne Schnörkel: ,,... den ich heiraten werde." - Punktum, basta!

Naja, und auch ich war wild darauf aus, die geliebte Braut zur bräutlichen Geliebten zu machen bzw. - um es mit einem hübschen Wort des 16. Jahrhunderts zu sagen - zu meiner Eheliebsten.

Ein Brautpaar ohne Glockengeläut und Orgelspiel ist eigentlich nicht denkbar, aber die Zeremonie vollzog sich, ohne dass vorher der obligate Kniefall erfolgte, mit dem der Galan eine gewisse Frage stellt. Auf solche Nebenaspekte kann man auch verzichten, wenn man sich der innigminnigen und sonnig-wonnigen Partie sicher ist.

Vorausgegangen war vielmehr folgendes: Zur Niederlassung bedarf man einer Wohn-möglichkeit, die sich uns in Harksheide-Süd bot - jetzt ein Ortsteil von Norderstedt. Aber daran war ein Problem geknüpft, indem die Miete nicht nur 250 DM ausmachte, sondern sich um einen verlorenen Baukostenzuschuss von 5000,- erhöhte. Weil wir beide bisher weder hatten sparen können, noch über vermögende Verwandte verfügten, schien uns ein Darlehen in Form eines Gehaltsvorschusses der geeigneteste Weg der Problemlösung. Schnell jedoch erwies es sich, dass erst noch ein Amtsschimmel in der Oberfinanzdirektion Hamburg beredet werden musste, der stur davon meinte ausgehen zu dürfen, dass man minderjährige Knaben hinreichend versorgt, indem man sie in ein Heim steckt.

Nein, nein, meinte er, einer Junglehrerin stehe eine 90-qm-Wohnung nicht zu. Naja, der Mann war darauf fixiert, Sessel für die Besoldungsgruppe A 15 grundsätzlich nicht für Beamtenhintern der Gehaltsklasse A 14 zu genehmigen.
Nach einer Denkpause hob er an: „Ja, wenn Sie verheiratet wären..." - „Genügt es Ihnen, wenn ich morgen eine Aufgebotsbescheinigung nachreiche?" Tja, auf diese Weise wurde unser Schicksal besiegelt.

Am nächsten Tag reisten wir beide in unsere Heimatorte, ich zur Mutter, um meinen Geburtsschein zu holen sowie leihweise ihren Ford, meine Freundin in ihr Dörfchen, um zunächst den Papa vorzuwarnen.
Das Schöne an einem Dorf ist, dass jeder jeden kennt. Den Standesbeamten kannte meine Braut schon aus dem Sandkasten und der Grundschule. Als wir ankamen, so gegen 18 Uhr, war er allerdings nicht zu Hause. Wir mussten warten, bis er aus der Frühabendvorstellung des Kinos zurück war. Mit gesiegelten Papieren konnten wir anderntags den Mietvertrag unterschreiben.

Der erste Anlauf in Harksheide-Süd zum voll integrierten Staatsbürger wurde mit dem Eintritt in den just gebildeten Kirchenvorstand genommen, nachdem ich - als amtlich bestellter Vormund des fast 14jährigen Schwagers - diesen zur Konfirmation anmeldete. Der Pastor war erfreut, als ich mich zur Mitarbeit anbot, da er einen Konfirmandenunterricht auch mit sozialen Themen plante, wofür er in mir den geborenen Helfer haben würde.
Der Kirchenvorstand war gerade gewählt worden: ich sollte als kooptiertes Mitglied, auf Vorschlag einzuberufen, eintreten. Bei seiner Einführung kam es zu einer lustigen Szene:

Nach dem Einführungsgottesdienst wurde ein beliebter Landgasthof angesteuert. Der feierlich gekleideten Festgesellschaft schritten zwei Pastoren in Talaren und mit wehenden Beffchen voran. Die versammelten anderen Gäste wurden un- ruhig, flüsterten erst leise, dann sogar vernehmlich: „Nun sag aber einmal jemand: Wo bleibt denn das Brautpaar?"

Von den Freuden des Ehrenamtes einmal abgesehen, brächte das Leben gewiss mehr Vergnügen, stünde es nicht unter dem steten Vorbehalt diverser Unwägbarkeiten. Namentlich was die Gesundheit und das Wohnen anlangt, gerät das Dasein leicht einmal in die Turbulenzen, die ein ausbeuterischer Finanzkapitalismus auf den Weg bringt. Es
waren solche, die das junge Paar in seiner Aufbauphase traf, fünf Jahre später, als die Vermieterin den Nutzungspreis um satte hundert Prozent anhob, was den Effekt hervorrief, als wäre man ins Hotel auf der Schlossallee geraten.

Also alles noch einmal auf „LOS" - und das, ohne dabei eine Geldprämie abrufen zu dürfen? Nein, eher schien man in die Situation dessen geraten zu sein, der sich direkt ins Gefängnis zu begeben hat.

Da meine Frau voraussehend einen Bausparvertrag abgeschlossen hatte, war der Lage etwas von ihrem Schrecken genommen. Stimmungsaufhellend ließ dann ein Zeitungs-inserat wissen: „Quickborn. Grundstücke um 1000 qm direkt am Wald, 19 DM/qm".
Das klang doch anheimelnd!

Schließlich gehen auch die Quickborner davon aus, der Name habe mit „munteren Quellen" zu tun. Wer gar die Gedichtsammlung „Quickborn" von Klaus Groth kennt und weiß, dass der Titel im Niederdeutschen die Bedeutung von „Jungbrunnen" hat, wird auch von guter Laune befallen. Und kriegt er heraus, dass es hier wirklich eine Viehtränke - plattdeutsch „Quickborn" - gegeben hat, schadet das auch nichts.

Den zweiten Anlauf zum amtlichen und ehrenamtlichen Engagement als Staatsbürger, nunmehr von eigenem Grund und Boden aus, unternahmen wir in einem Nachbardorf, da unser Ortsteil „Heide" zu zwei verschiedenen kirchlichen Sprengeln gehörte. Der für uns zuständige, noch relativ junge und dynamische Pastor war ganz ein Mann nach unserem Gusto. Wir machten sofort im Kirchenchor mit, ich auch im Kirchenvorstand, nach erheblichen Wirrnissen mit einem linksextremen Folge-Geistlichen 1974 auch als kommissarisch berufener Vorsitzender.

Überdies ließ ich mich in die Stadtvertretung wählen und legte damit auch in der Politik meine Duftnote aus. Beruflich bzw. amtlich waren meine Frau und ich mittlerweile in den schleswig-holsteinischen Schuldienst übergetreten. Sie wurde Rektorin der Grundschule unseres Kirchdorfes, ich trat in das Gründungskollegium des jungen Gymnasiums Quickborn ein, wo noch einige Pionierarbeit zu leisten war.

1984 wurden der nördliche und der südliche Teil von Quickborn-Heide zu einer eigenen Kirchengemeinde vereinigt, woraufhin ich meinem inzwischen dritten Kirchenvorstand angehörte; meine Frau, von Anfang an als nebenamtliche Kantorin tätig, hat mich dort später abgelöst.

Bilanziere ich die Ehrenämter, sind wohl je 25 Jahre „bei Kirchens" und in der Stadtvertretung sowie als Vorsitzender des Ausschusses für Bildung und Kultur ausreichend für einen meerumschlungenen Blau-Weiß-Roten honoris causa. Jedenfalls habe ich mir Quickborn als „Heimat" redlich verdient, zumal mit meiner Feldforschung zur Regionalgeschichte, die ich vor Entsetzen begann, nachdem ich die von gröbsten Schnitzern strotzende Orts- chronik aus dem Jahre 1969 rein interessehalber gelesen hatte.

Jetzt weiß ich mehr über Quickborn und habe manchmal Anflüge von Lokalpatriotismus.

 

Heimattümelei?

Jürgen Hühnke Jahrgang 1935 

von Jürgen Hühnke erstellt im Juli 2013

Die Kultusminister können es einfach nicht lassen, immerfort etwas am
Schulwesen herumzuwerkeln und damit ideologische Gräben zu vertiefen. In Schleswig-Holstein wurde kürzlich ein neuer Graben ausgeworfen, indem das Grundschulfach „Heimat- und Sachkunde" um den Bestandteil „Heimat" gebracht werden sollte - wegen starker Vorbehalte gegen die Heimattümelei.
Andere Bundesländer waren in der Nomenklatur-Reform vorangegangen. In diesem Zusammenhang ist eigentlich erstaunlich, dass die weiland DDR ebenfalls ein Fach „Heimatkunde" führte. Gern sprachen die Margot-Honecker-Getreuen von der „sozialistischen Heimat", die auch als „sozialistisches Vaterland" tituliert wurde, so dass man jenes Fach als verkappte Staatsbürgerkunde ausmachen kann, was aber für den Westen ebenfalls gilt, da die Heimat- und Sachkunde unter anderem darin bestand, die örtliche Feuerwehr zum Thema zu machen.
Das Negativ-Argument von einer „Gefühlsduselei" geht im Grunde, wenn auch eben die Heimat nicht betreffend, auf das Großmaul Adolf Hitler zurück, der - aus gutem Grund - empathische und humane Gefühlsregungen damit prophylaktisch verächtlich machte. Er geiferte auch gegen „Humanitätsduselei“.
Der neue Schwenk im Kultusministerium ist so erstaunlich nicht, haben wir doch noch die Vorwürfe im Ohr, die Heimatvertriebenen kaschierten hinter der Heimat-Nostalgie nur ihren Revanchismus.
Aber mal ehrlich: Hat nicht jeder, der die Stätten seiner Jugend besucht oder sich ihnen nähert, gewisse nostalgische Anflüge? Ähnlich ergeht es Zeitzeugen, wenn sie von Erlebnissen in Kindheit und Jugend erzählen oder ganz einfach sich an frühere Zeiten erinnern.
Eines aber hat sich mit dem Industriezeitalter grundlegend gewandelt: Seit er über ein erhebliches Maß an Mobilität verfügt, geht dem Menschen der Mikro- und Makrokosmos der Jugend verloren. Mit Studium und Ausbildung verlässt er die Geburtsheimat und siedelt spätestens bei Berufsanfang in die zweite, die Wahlheimat, um. Hier tritt er nicht selten Vereinigungen verschiedenster Art bei, wodurch er sich in die neuen Kreise integriert und durch aktives Engagement sich nicht nur quasi das Bürgerrecht erobert, sondern diese neue Heimat „aneignet", ohne dass das alte Milieu vergessen wird. Übrigens ist die Ministerin, die den treffenden Familiennamen „Wende" trägt, nach erster Kritik rasch zurückgerudert und lässt das Fach jetzt „Heimat-, Sach- und Weltkunde" heißen.

 

Halbgötter in Nadelstreifen

Jürgen Hühnke Jahrgang 1935 

von Jürgen Hühnke erstellt 01.08.2013

In Preußen, im Königreich und Bundesland des Deutschen Reiches, trugen die obersten Bildungsgewaltigen den Titel „Minister für Unterricht und Kultus". Die Bundesrepublik hat daraus „Kultusminister" gemacht, obwohl deren Aufgabe mit der Religionspflege absolut nichts mehr zu tun hat. Umso mehr halten sich diese Politiker - wie die meisten dieser Kaste sonst - mindestens für Halbgötter in Nadelstreifen, wie denn die KMK, die Kultusministerkonferenz, Gesetze par ordre du mufti erlässt, so im August 1995 die Regelung der sog. „Neuen Rechtschreibung".

Was uns da aufgedrückt wurde, war erdacht worden mit dem Bestreben, dem Deutschen den Ruch der „schweren Sprache" zu nehmen und allen echten und unechten Legasthenikern deren Erlernen puppenleicht zu machen. Das Ergebnis fiel in seiner Verdummung derart miserabel aus, dass schon 2006 erste Reformen der Reform erforderlich wurden.

Ich kann die Sprachverhunzer nur Gramm- und Linguastheniker nennen, d.h. Leute, die von Grammatik und Sprache nichts verstehen. Zum Beispiel schreiben sie alles, was auf „das" oder „im" und „am" folgt, unterschiedslos groß, als wären es wirkliche Hauptwörter, während die alte Duden-Schreibung nur „wirkliche" Nomina versal beginnen ließ, nicht aber adverbiale Wendungen, die wie Adverbien klein zu schreiben waren, so „in bezug" = bezüglich, „aufs vortrefflichste" = besonders vortrefflich, „im besonderen" besonders usw.

Was macht ein armer Schüler von heute, wenn ihm „Dass das das darf" diktiert wird - viermal groß schreiben (Satzanfang + dreimal nach „das") ???

Viele, viele Wörter, die man seit Jahrhunderten mit einem „e" schrieb, werden auf „ä" geändert: Gämse (weil Gamsbock), Stängel (weil Stange). Na, gut und schön, aber was ist mit den Alten oder Eltern? Warum nicht auch Ängel (zu: angelus) oder Ängländer (zu: Angelsachsen) oder auch, dem Stadtwappen angepasst, Bärlin und „fährtig“ = fahrbereit?

Das grammatische, syntaktische und etymologische Denken wird gänzlich untergebuttert, so auch beim „Quäntchen", das mit „Quantum" nun null zu tun hat und vielmehr auf „Quint" zurückzuführen ist, wie denn ein kleiner Geldbetrag um 1900 noch „Fünfer" hieß oder, duodezimal, „Sechser" für den halben Groschen. Also liegt kein e:ä-‚ sondern ein e:i-Wechsel (wie helfen - hilf) vor.

Den Buchstaben „eu" traf es ebenfalls. Wörter damit haben in älterer Sprach oft „ie" - Teufel heißt der böse Kerl in der Tiefe, kreucht und fleucht ist älteres kriecht und fliegt.
Das Schneuzen ist älteres Schniezen" also nahe beim Schniefen liegend, der Schneuzer
ist gewissermaßen der Tropfenfänger dazu. Nach fälschlicher Ableitung von „Schnauze" soll man jetzt „Schnäuzer" schreiben, womit der Mensch auf den Hund kommt, der angeblich auch nicht autonom denken kann.

Nicht zuletzt die Abgeordneten des Schleswig-Holsteinischen Landtags erwiesen sich als nadelgestreifte Halbgötter, als sie das Ergebnis eines Referendums vom September 1998 (56,32% gegen die Neue Rechtschreibung!) mir nichts, dir nichts abbügelten.

Das ist ein wahrhaft göttlicher Umgang mit der Demokratie!

 

Denglisch - Verenglisch - Angleutsch

Jürgen Hühnke Jahrgang 1935 

von Jürgen Hühnke erstellt im Juli 2013

Lange vor unserer Zeit, in der alles cool, hip und taff (tough) wurde, gab es bereits den Hang zum Denglischsprechen. Das fing bei unseren Urgroßvätern an, bei denen sich Begriffe aus Sport und Mode durchsetzten, vorab das Wort Sport sowie etwa Clinch, Knickerbocker, bald auch Cheerleader oder Tiebreak. Soweit unsere Väter „Politische Leiter" der NSDAP oder SA-Leute waren, liefen sie in Breeches herum.
Vollends nach dem Zusammenbruch der braunen Ideologie - oder feiert sie nicht stets neue Urständ`? - schwappte vermehrt das Denglische über den Kanal, überwiegend mit Begriffen technischer, wirtschaftlicher, modischer Art und Ausdrücken aus Film, Funk und Fernsehen: Computer, Chatroom, Cybersex, Set, Event, Entertainer, Shooting, Casting, Body und Bodybuilding, Model, Catwalk, Nordic Walking, Stalking, Happening usw. usw. usw.
Mit der WM 2005 kam für die Filmübertragung von Großereignissen auf Leinwände der Ausdruck „Public viewing" auf, obwohl ein Englishman darunter zunächst einmal eine Leichenschau versteht. Das ist nun wirklich keine High-Fidelity-Translation (also wortgetreu übertragene Version).
Vom Denglischen zu unterscheiden ist das Verdrenglisch, das verdrehte Englisch. Mein Freund Lutz, studierter Anglist, könnte Beispiele nennen wie: „I break together!" oder: „I make that not longer with!" Oder: „I have my nose painted (gestrichen) full."
Als dritte Möglichkeit gibt es da noch das Angleutsch, das insbesondere bei der Synchronisation von Filmen zumeist amerikanischer Provenienz anfällt. Gerade gestern fiel mir an der Wand des NETTO-Marktes ein Werbeplakat auf mit dem Text: „Sie stehen auf junges Gemüse? Ach, wir auch!" Glitscht man auf Gemüse unter Umständen nicht aus?
Die Wendung: „I can`t stand her!" (Ich kann sie nicht ausstehen) wird hier einfach umgekehrt oder aber mit dem Kurzweilvergnügen One-Night-Stand gemixt. Inzwischen ist „Ich stehe auf Dich!" zu einer stereotypen Formel verkommen, ohne dass man noch nachdenkt. Aber beim Verb „bestehen auf" (z. B.auf seinem Recht) wird gedankenlos der falsche Akkusativ übernommen.
Verabschieden sich Bud Spencer und Terence Hill mit ihrem filmischen „See you later!", lautet die verfuckte Synchronisation: „Wir sehen uns!" Richtig jedoch wäre: „Wir treffen uns (hoffentlich bald) wieder!" Einen ähnlichen Fehler beging der Übersetzer beim Filmtitel „Find Nemo!", wenn er „Findet Nemo!" wählte; denn ein Tommy oder ein Ami geht vom positiven Ergebnis, dem Finden, aus, wenn er zum Suchen auffordert!
Also, ehrlich, Angleutsch ist Bullshit. Da es im Englischen außer dem bisschen Conditional (I would) keine Möglichkeitsform gibt, unterbleibt der Konjunktiv auch in der deutschen Sprache, etwa bei der indirekten Rede. Neuere, erstaunlicherweise erfolgreiche Literaten erhalten sogar dann hochdotierte Preise von Akademien, wenn sie bezüglich des Konjunktivs auf voller Länge jämmerlich versagen. Well, there am I but totally served! (Na, da bin ich aber total bedient!)

 

Die Autoanmeldung

Klaus Trautmann Jahrgang 1951 

von Klaus Trautmann erstellt im Juli 2014

In der DDR strebten eine Vielzahl von Bürgern mit dem Besitz des Führerscheines den Erwerb eines fabrikneuen Pkw an. Um eines dieser begehrten Objekte sein Eigen zu nennen, war es erforderlich, dieses mit einem Bestellschein anzumelden. Auch ich hatte diese Bedürfnis entwickelt, um meine Freizeit, den Urlaub und anderes mehr individueller gestalten zu können.

Da sich in unserer Kreisstadt ein Geschäft für den Verkauf von Kfz-Ersatzteilen und freien Verkauf von Motorrädern befand, das als einzige Institution im Territorium Anmeldungen für Pkw vergab, nutzte ich mit Vollendung des 16. Lebensjahres diese Möglichkeit, mit dem Ausfüllen einer solchen dem entfernten Ziel entgegenzusehen.

So waren Lieferzeiten von anfänglich sieben bis zehn Jahren für die verschiedenen Fahrzeugtypen wie Trabant, Wartburg, Lada, Polski Fiat, Skoda, Moskowitsch und Dacia die Regel, jedoch verlängerten sich diese immer weiter, wobei eine ständige Verfügbarkeit des Wunschwagens nicht unbedingt gegeben war.

Um möglichst schnell zu meinem Glück zu gelangen, orientierte ich mich gleichermaßen auf den Trabant und Wartburg Tourist, welche mir einerseits durch unterschiedliche Wartezeiten das Ansparen der Kaufsumme erleichterte und andererseits zeitlich versetzt, erstmalig die Wahl des Erwerbs zwischen zwei Produkten eröffnete.

Leider wurden die Fahrzeuge nicht in ausreichender Menge produziert, was bedingt durch fehlende Materialien und anderes mehr, weitgehend unterstützt wurde.

So konnte das wichtigste Wirkprinzip des Sozialismus, die Planwirtschaft, diesbezüglich seinen eigenen Anspruch, die stetig bessere Erfüllung der Bedürfnisse der Menschen zu gewährleisten, zumindest auf diesem Gebiet nicht gerecht werden. Folglich entwickelte sich neben der Produktion von neuen Pkw ein Gebrauchtwagensektor, welcher in freier Verantwortung der Bürger nach dem Grundsatz von Angebot und Nachfrage funktionierte.

Neuere und alte, auch reparaturbedürftige Pkw sowie Ersatzteile hatten, abgesehen von den wenigen Fachgeschäften für Ersatzteile, keinen stabilen Preis mehr, sondern regulierten sich über den dem Sozialismus unüblichen Marktpreis.
Da für mich die Aussicht auf eine zeitnahen Erwerb eines neuen Pkw nicht gegeben war,
überraschte es mich, dass ich einen der angemeldeten Pkw erhalten sollte, was auch geschah. Ein zwischenzeitlich angeschaffter Gebrauchtwagen in gutem technischen Zustand tat es nun auch, und ich verkaufte diesen neuen Pkw ab Autohaus meistbietend an einen Interessenten. Mit diesem Geld beabsichtigte ich, für mich folgerichtig, den auszuliefernden Pkw der Zweitanmeldung zu finanzieren. Leider wurde mir diese nicht ausgeliefert bzw. versagt. Daraufhin legte ich Beschwerde bei der Arbeiter- und Bauerninspektion/* ein. Von dieser erhielt ich die Mitteilung, dass mir nur alle drei Jahre ein neuer Pkw zustehen würde.

Da diese Aussage sich im Widerspruch zu den üblichen Wartezeiten von nun 10 - 14 Jahren befand, die Auslieferung zu dieser Pkw Anmeldung schon drei ]ahne überfällig war, führte ich eine nochmalige Rücksprache, mit dem Ergebnis, dass ein dringender volkswirtschaftlicher Bedarf bestehe, der Vorrang gegenüber meinen persönlichen Angelegenheiten hat.

Im Fazit meiner privaten Handelsbemühungen konnte ich dann nur feststellen, dass die Hoffnung, über die Realisierung meiner Zweitanmeldung die “Alu-Mark” in eine „Goldmark“ zu verwandeln, damit endgültig gescheitert war.


/* „Arbeiter- und Bauerninspektion" kurz "ABI"
war ein demokratisches Kontrollorgan in der DDR, das gemeinsam mit der Öffentlichkeit selbständig u. unabhängig ohne Ansehen der Person, getrennt von Partei-, Staats und Wirtschaftsorganen Hemmnisse u. Missstände in der Wirtschaft aufzeigen und beseitigen sollte.

 

Der Kakaoabend

Petronella Schukat Jahrgang 1945

Meine Mutter wurde im Krieg in Frankfurt am Main dreimal ausgebombt.
Sie wuchs im schönen Stadtteil Sachsenhausen auf und war ein echtes Frankfurter „Mädsche“.
Ihr wurde nach der letzten Ausbombung in einem anderen Stadtteil eine kleine Mansarden-Wohnung zugewiesen.
Mit den Kindern und unserer Oma, der Mann im Krieg gefallen, wohnte sie nun in der für sie beengten, auch vom Krieg beschädigten „Behausung“ und fühlte sich dort zu keiner Zeit wohl.
Zunächst musste meine Mutter uns Kinder alleine großziehen.
Sie arbeitete hart in einer Fabrik im Akkord, um uns zu ernähren.
Die Geschwister meiner Mutter, also meine eine Tante und zwei Onkels wohnten inzwischen in der Nähe.
Es ergab sich so, dass der große Treffpunkt aller Familien-Mitglieder bei uns zu Hause in der kleinen Mansardenwohnung stattfand.
Mein großer Bruder war schon in der Lehre und fast nicht mehr zu Hause.
Meine beiden Schwestern gingen noch zur Schule und ich dann auch.
Ich war ganz stolz, dass ich nicht mehr in den „Hort“ musste und nach der Schule mit fast 8 Jahren ein Schlüssel-Kind wurde.
Ich durfte abends meine Mutter nun häufig von der Arbeit abholen.
Es machte nichts aus, dass wir 2 km nach Hause laufen mussten.
Der Weg führte zweimal die Woche zu einer Metzgerei namens „Borst“.
Der Metzger kannte meine Mutter sehr gut und wusste, dass wir stets hungrig auf Wurst waren. Immer gab er meiner Mutter ein so genanntes „Päckchen“ zusätzlich mit. Es waren großzügige Wurst-Enden und Wurst-Abschnitte darin. Ein wahres Überraschungspäckchen. Und ich bekam meine geliebte Gelbwurst über den Ladentisch. Hm....lecker, wenn ich mich heute erinnere!

Der Freitag war ein besonderer Tag.
Da kamen Tante Gertrud, Onkel Emil und Onkel Franz zu uns und es wurde Rommé gespielt bis tief in die Nacht.
Meine eine Schwester und ich waren freitags in einem Turnverein.
Meine ältere Schwester war zu unsportlich und ging nie mit.
Dafür übernahm sie die Aufgabe, für das Wohl der Familie mit zu sorgen.
Sie half meiner Mutter und schmierte jeden Freitag für den Abend die Wurst-Brötchen und kochte auch einen Riesentopf Kakao dazu. Das tat sie sehr gern, denn so konnte sie auch mal ein Stück Wurst ohne Brötchen in ihren Backentaschen verschwinden lassen. Und sie hatte wahre Hamsterbäckchen.
Die Erwachsenen saßen nun zusammen in gemütlicher Runde und begannen mit dem Kartenspiel. Wir Kinder kamen später hinzu.
Wir warteten ja schon sehnsüchtig die ganze Woche auf diesen Freitagabend.

Während wir verschwitzt vom Turnverein kamen, war das Kartenspiel der Erwachsenen in vollem Gange. Meine Schwester und ich rannten die Treppen hoch, um ja nicht als letzte am Kakao-Topf anzukommen.
Es gab immer Gerangel, wer wo sitzen darf und den größten Becher bekommt.

Wir Kinder saßen dann in der Küche und aßen genüsslich unsere Brötchen und schlürften Kakao dazu. Es war immer zu wenig !!!
Manchmal fragte ich, ob ich den Rest des Kakaos ganz einfach aus dem Topf trinken darf. Ich durfte ! Eine Unsitte, die aber doch lächelnd toleriert wurde.

Während dessen wurde es immer fröhlicher in der Karten-Runde.
Onkel Emil war herrlich. Es war bekannt, daß er sich über ein verlorenes Kartenspiel immer fürchterlich ärgerte und dann besonders grimmig schaute.

Die anderen tuschelten grinsend und verhalten, weil er sonst aufstand und nicht mehr spielen wollte. Er hatte die Gabe, beim Rommé-Spiel mit „39 Augen“ die Karten auf den Tisch zu legen, statt mit 40. Nun sahen alle anderen, was er für Karten auf der Hand hatte und nutzten das natürlich schamlos aus, wobei er dann auch meist verlor.
Und wehe, es machte jemand eine Bemerkung darüber oder fing an zu lachen, dann gab es Wortgefechte. So wiederholte sich das Woche für Woche, auch wenn Onkel Emil eigentlich nie mehr mitspielen wollte...

Wir saßen bei den Erwachsenen und sahen dem Kartenspiel zu, wurden aber immer darauf hingewiesen, ja nichts und mit keiner Miene etwas zu verraten. So lernte auch ich dieses Kartenspiel.

Dieser sogenannte „Kakao-Abend“ war jahrelang fester Bestandteil in unserer Familie.

 

Die Hand, die nicht mehr arbeiten wollte

Uwe Neveling Jahrgang 1937 

von Uwe Neveling erstmals erstellt 1997

Am frühen Morgen wachte ich mit entsetzlichen Kopfschmerzen auf. Ich wäre gerne liegen geblieben. Heute konnte ich mir das aber nicht erlauben. Die für neun Uhr angesetzte Besprechung war wichtig. Es ging um viel Geld. Das Projekt befand sich in der entscheidenden Phase. Die besten Mitarbeiter des Hauses hatten ein Jahr lang analysiert, programmiert und getestet. Gestern hatte man noch einen gravierenden Fehler gefunden, der alles in Frage stellte. In der Besprechung sollte das weitere Vorgehen abgestimmt werden. Die ursprünglich genannten Einführungstermine mussten gehalten werden. Ich hatte auch schon eine Idee, wie man das erreichen konnte. Wenn nur nicht diese Kopfschmerzen wären!

Ich stand auf und ging ins Bad. Nachdem ich die Wasserhähne geöffnet hatte, duschte ich abwechselnd heiß und kalt. Die Düsen der Handbrause waren ganz fein eingestellt. Jeder einzelne Wasserstrahl prasselte auf meine Haut. Es tat sogar weh. Die Kopfschmerzen ließen allmählich nach. Ich zog mich an. Meine Frau hatte zwischenzeitlich frischen Kaffee zubereitet. Von meinen Kopf-schmerzen sagte ich ihr nichts. Ich trank eine Tasse Kaffee und zündete mir eine Zigarette an. Die Kopfschmerzen rührten wohl von den vielen Zigaretten her, die ich gestern geraucht hatte. Wenn man die Ursache kennt, ist alles halb so schlimm, sagte ich mir. Damit war das Thema für mich erledigt

Ich fuhr ins Geschäft. Meine Kollegin Barbara war schon da. Die Kaffeemaschine summte und zischte. Im Raum roch es angenehm nach Filterkaffee. Barbara verbreitete wie immer eine fröhliche Stimmung. Auch sie hatte heute noch viel zu erledigen. Sie besprach mit mir einige schwierige Fälle und machte sich ans Werk. Es schien ein Tag wie jeder andere zu werden.

Der Computer wurde hochgefahren. Ich zog die Tastatur zu mir heran und startete ein Textprogramm. Meine Überlegungen zum Krisenmanagement wollte ich noch schriftlich aufbereiten. Es war immer gut, an die Teilnehmer schriftliches Material auszuhändigen. Die mündlich vorgetragenen Argumente ließen sich dadurch unmissverständlich untermauern. Wenn Zeit war, wollte ich auch noch einige Overhead-Folien anfertigen.

Beim Schreiben verspürte ich ein leichtes Kribbeln in meiner linken Hand. Ich hatte gelernt, mit zehn Fingern zu schreiben. Den kleinen Finger konnte ich kaum noch bewegen. Barbara hörte den ungewohnt unregelmäßig klingenden Tastaturanschlag und blickte zu mir herüber. Ich lächelte ihr beruhigend zu. Normalerweise traf ich beim Schreiben immer die richtigen Tasten. Das fiel mir jetzt schwer. Ich musste mich stark konzentrieren, um aus Buchstaben Wörter und aus Wörtern Sätze zu bilden. Das Kribbeln in der linken Hand verstärkte sich. So nach und nach schliefen mir alle Finger ein. Es tat nicht weh. Das taube Gefühl ergriff die gesamte linke Seite meines Körpers. Nun konnte ich mich nicht mehr verstellen. Meine linke Hand ruhte leblos neben der Computertastatur, während ich mit der rechten ein Buchstabenchaos auf den Monitor tippte. Barbara fragte, was mit mir Ios sei. Ich zögerte, ihr meinen Zustand zu schildern. Ich hoffte offenbar immer noch auf Besserung. Statt besser wurde es aber schlechter. Bewegung könnte gut sein! dachte ich, stand auf und wollte aus dem Zimmer gehen. Da auch mein Bein zwischenzeitlich von der Lähmung befallen war, knickte ich ein und konnte mich soeben noch an der Schreibtischkante festhalten. Barbara lief zu mir hin und half mir, mich wieder auf den Stuhl zu setzen.

Es ging jetzt nichts mehr. Als Rechtshänder nimmt man die linke Hand nicht so richtig wahr. Sie ist einfach da, mehr nicht. Man lernt sie erst dann schätzen, wenn sie nicht mehr funktioniert. Daran dachte ich und vermisste sie schmerzlich. Mir fiel der Spruch ein: Die linke Hand kommt von Herzen. Sie ist dem Herz somit näher als die Rechte. Dieser Umstand wertet sie symbolisch auf. Die linke Hand ist darüber hinaus der Partner der rechten. Nur mit beiden Händen kann man richtig zupacken.

Alles das ging mir durch den Kopf, während Barbara dafür sorgte, dass ich medizinisch versorgt wurde. Mir geht es zwischenzeitlich wieder gut. Das Projekt konnte auch ohne meine Mitwirkung gerettet werden. Meine linke Hand arbeitet wieder. Bewusst mute ich ihr mehr Arbeit zu als ich ihr zuvor unbewusst zugemutet hatte.

 

Es geht alles vorüber...

Fritz Schukat Jahrgang 1935 

von Fritz Schukat aufgeschrieben am 25.07.2014

Sitzen geblieben! Im Zeugnis hieß das lakonisch: Nicht versetzt. Und das kurz vor dem Ziel, von der 12. Klasse in die 13., also die letzte Klasse, in der man die Schule mit der Reifeprüfung, dem Abitur abschließt - oder eben nicht.
Gut, ich war nicht der einzige. Mit mir blieben zwei weitere Schüler kleben, aber warum ich? Der Glaube an die „Gutheit“ der Menschen war dahin. In drei Fächern hatte ich konstant seit Jahren immer eine zwei, also ein „gut“, habe mich mit meinem Englischlehrer grundsätzlich in Englisch unterhalten und konstant ein „gut“ bekommen, aber drei Zensuren wurden schlimm-verbessert. Ich hatte mich mit meinem Mathelehrer angelegt, der auch Chemie und Physik unterrichtete. In diesen drei Fächern bekam ich „Fünfer“, die mir das Genick brachen. So etwas kann heute nicht mehr passieren, der Lehrer hätte sofort einen Prozess am Hals. In drei Hauptfächern unterrichtet heute auch kein Gymnasiallehrer mehr, das würde ihn stark überfordern, aber damals, in den frühen 1950er Jahren gab es keine Wahl und ein Lehrer vom Kaliber unseres Mathe-Lehrers konnte schon Schicksal spielen!
Unser Ordinarius versammelte seine schwarzen Schäfchen um sich und versuchte, Trost zu spenden. Er erzählte etwas über seine vergeblichen Versuche, während der Lehrerkonferenz wenigstens den einen oder anderen zu retten, auch mir erzählte er dies im beschwichtigenden Tonfall, doch am Ende nutzte das nichts, wir waren verdammt dazu, eine Ehrenrunde zu drehen.

Natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass mir das passieren würde und schluckte es runter. Bis jetzt hatte ich aber erst die eine Hälfte meines Leidensweges absolviert. Ich musste mir auch noch zu Hause mit fast 19 Jahren wie der kleine Franz meine „Schläge“ abholen. Was geht einem in solcher Situation alles durch den Kopf? Am Ende blieb übrig, dass ich mir versprach, an dieser Schule mein Abi nicht zu machen. Ich werde mir eine andere Schule suchen. Meine Cousine, ein Jahr jünger als ich, kannte alle Oberschulen in Schöneberg. Eine davon würde sie mir sicher empfehlen können. Allein dieser Gedanke tröstete mich schon ein wenig und auf der Heimfahrt mit meinem Fahrrad fiel mir dann der alte Schlager ein: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei...“, der in den Kriegsjahren entstanden, zu einer Art Durchhalteparole geworden war.

In den Tagen danach traf ich mich mit meinen beiden Schicksalsgenossen und wir beratschlagten, was wir machen könnten. Beide teilten meinen Plan und ich traf meine Cousine, um mir einige Informationen geben zu lassen, welchen Level sie schon erreicht hätten, um abzuwägen, ob wir uns dort anmelden sollten. Nachdem wir aber im Sekretariat dieser Schule hörten, dass wir in eine reine Mädchenklassen kommen würden, gab es schon die erste Beerdigung. In der zweiten Schule passten die Voraussetzungen besser, also meldeten wir uns dort an. Meine beiden Kumpanen standen das aber nicht durch, sie verließen die Schule bereits im Laufe des Schuljahres. Ich war standhaft, denn ich merkte, dass ich dort das Pensum, das in fast allen Fächern durchgenommen wurde, bereits in der alten Schule gepaukt hatte. Es war also reine Wiederholung.

Zwei Jahre nach dem Debakel machte ich 1956 mit 11 Mitschülern in einer der kleinsten Klassen, die ich je frequentierte, mein Abi.

Im Laufe meines Lebens habe ich öfter einige Sachen noch einmal beginnen müssen. Immer fiel mir dann dieses Durchhaltelied von Fred Raymond ein, das später auch Lale Andersen sang: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei...!“

 

Haarwäsche

Uwe Neveling Jahrgang 1937 

von Uwe Neveling erstellt im August 2014

Unser Sohn war ein Jahr alt und schlief im Kinderzimmer. Wir hatten das Zimmer säuglingsgerecht eingerichtet. Gleich hinter dem Kinderbett stand der Wickeltisch. Auf dem Wickeltisch hatten wir die für die Säuglingspflege notwendigen Elemente gelagert. Dazu gehörten Babycreme, Öle, Wattestäbchen für das Näschen und für die Ohren, weiche Tücher, Haarbürste und ähnliches mehr. Die Windeln verwahrten wir unterhalb der Wickelfläche in separaten Fächern. Alles lag griffbereit; unserem Kleinen sollte es an nichts fehlen.

Kleine Kinder brauchen viel Schlaf. Zwischen 18 und 19 Uhr waren zumeist die Spielstunden zu Ende. Er wurde für die Nacht zurecht gemacht und bekam sein Fläschchen. Wir legten ihn in sein Bett und wünschten ihm eine gute Nacht. Die aufgezogene Spieluhr sollte ihn mit einem Schlaflied in das Land der Träume begleiten. Das gelang zwar nicht immer, aber manchmal schon. Immer dann, wenn es im Kinderzimmer ruhig war, wurden wir unruhig. Wir schlichen auf Zehenspitzen ins Zimmer und sahen nach ihm. Meist schlief er dann auch und wir machten uns dann wieder leise davon. Diese Prozedur wiederholte sich am Abend mehrfach, bis auch wir erschöpft zu Bett gingen.

Es war wieder einer dieser Abende, an dem wir uns vorgenommen hatten, nicht ständig nach ihm zu sehen. Wir hatten es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht und den Fernseher eingeschaltet. Ich konnte mich aber auf das Programm nicht richtig konzentrieren. Im Kinderzimmer war es verdächtig ruhig. Eisern hielten wir eine halbe Stunde durch und schauten nicht nach unserem Sohn. dann hielten wir es nicht mehr aus. Wie schon so oft, gingen wir leise ins Kinderzimmer. Wir öffneten die Tür und bekamen einen gewaltigen Schrecken. Zur Einschlafprozedur gehörte auch eine Nachtbeleuchtung, die ein einschläferndes Dämmerlicht verbreitete. Das was wir sahen, wurde durch den schwachen Lichtschein noch verstärkt. Aus dem Kinderbett blickte uns ein schneeweißes Gesicht mit schwarzen Augen an. Der Kopf, zu dem das Gesicht gehörte, bewegte sich von links nach rechts und von rechts nach links und grinste uns teuflisch an. Im Kinderbett stand ein geheimnisvolles Wesen, das uns weiß gefärbte Hände entgegen streckte. Das Wesen quietschte auch noch fröhlich und rüttelte am Bettgitter. Wir schalteten das Licht ein.

Unser Sohn war putzmunter und zeigte mit seinen Fingern auf eine von ihm geöffnete Cremedose. Er holte mit seiner Hand wieder eine volle Ladung Creme und schmierte sie in sein Gesicht und in seine Haare. Das ganze war für ihn ein großartiges Spiel. Wir verschlossen die Dose und beförderten sie aus seiner Reichweite. Das gefiel ihm gar nicht. Er quittierte unsere Handlung mit einem nicht enden wollenden Geheul. Es sollte für ihn noch schlimmer kommen. Irgendwie mussten wir ihn entcremen. Die Frage war: Wie? Ich rief die Schwiegereltern an. Sie hatten immerhin zwei Kinder groß gezogen und wussten sicherlich Rat. Mein Schwiegervater war früher bei einer Öl produzierenden Firma tätig gewesen. „Mit Hautcreme beschmiertes Haar bekämpft man mit Öl" war sein Rat.

Aus dem Babygesicht wurde zuerst die Creme entfernt, und wir konnten unseren Sohn in Teilen schon wieder erkennen. Seine Begeisterung für den Säuberungsprozess hielt sich in Grenzen. Für die Haare nahmen wir Speiseöl. Etwas anderes hatten wir nicht. Und es funktionierte. Die weiße Creme ließ sich entfernen.
Seine blonden Haare waren aber jetzt fettig und schimmerten dunkel. Im nächsten Gang wurde mit Haarshampoo das Fett aus den Haaren gewaschen. Das geschah mehrere Male. Ein letzter Wasserguss und wir hatten unseren Sohn wieder. Eine gute halbe Stunde hatten wir ihn in der Mangel. Er war danach ziemlich erschöpft. Kein Wunder, hatte er doch während der ganzen Zeit laut geschrien.

Wir wissen nicht, ob er uns dankbar war. Wenn man ihn heute danach fragt, kann er sich an die Waschorgie nicht mehr erinnern. Das ist für mich ein Zeichen, dass es ihm nicht geschadet hat. Oder schlummern in ihm im Verborgenen noch Neurosen, die erst später ausbrechen. Ich habe Zeit und warte ab.

 

Was war früher eigentlich anders als heute?

Fritz Schukat Jahrgang 1935 

von Fritz Schukat erstellt am 20.11.2013

Ja, eigentlich alles oder zumindest fast alles anders. Gut, es gibt Dinge, die kann man nicht anders machen, nehmen wir mal das Zusammensein z.B. von Mann und Frau, das hat sich sein Adam und Eva wohl nicht grundlegend geändert. Aber es gibt da doch Dinge, die in unserer Jugend anders liefen als heute.

Fangen wir mal mit der genauen Zeit an. Natürlich hatten wir Uhren, auch solche, die angeblich in einem Monat nur 10 Sekunden vor- bzw. nachgingen - Quarzuhr war das Zauberwort. Nachkontrollieren konnten wir das nicht - oder eben nur höchst umständ-lich. Die genaue Zeit kam aus dem Telefon: ein Anruf unter 1 1 9*/ und eine weibliche Stimme flüsterte uns in Öhrchen, wie spät es gerade jetzt in diesem Moment ist.
Heute bekommt man für nicht einmal 10 Euro schon eine Funkuhr als Tischuhr, die die genaue Zeit über einen kleinen Radioempfänger bekommt und ggf. selbständig nachtariert. Sie stellt sich auch automatisch auf Winter- oder Sommerzeit um. Allerdings, noch vor 30 Jahren kostete solch eine Uhr um die 200 Mark!

Mit dem Fotografieren ist das auch so eine Sache. Ganz früher verschwand der Fotograf unter einen schwarzen Stofftuch und hielt in einer Hand einen Gummiball, der auf einem dünnen Schlauch aufgesteckt war. Nach einer Weile stand er wieder neben dem Apparat, lächelte und erklärte, „...gleich kommt das Vögelchen und knipst Dich...!“ Wir Kinder glaubten ihm das, aber die Erwachsenen? Die standen wie die Ölgötzen vor einer merkwürdigen Kulisse, die anscheinend aus Athen von der Akropolis geklaut wurde und bewegten sich erst, wenn der Fotograf seinen Apparat wegtrug. Er hatte ein beschichtetes Glas in den Apparat geschoben, das in einer chemischen Flüssigkeit entwickelt werden musste. Dann musste dieses Glas nochmals auf ein lichtempfindliches Papier gelegt werden und wurde ebenfalls noch einmal belichtet - Kontaktabzug nannte sich das dann. Nach einer Woche konnte man das fertige Bild mit den bestellten Abzügen für Tante Emma und Oma abholen. Das war kein billiges Vergnügen, aber man tat es, weil es die anderen auch taten.

Nach dem Krieg konnte sich Otto Normalverbraucher für wenig Geld eine kleine schwarze Box mit einer Linse und einem merkwürdigen Innenleben kaufen. Ein Rollfilm wurde inwendig aufgewickelt und wenn er voll war, brachte man ihn zum Fotografen. Später gab es dann schon Geschäfte, die einen Apparat von der Größe einer Speisekammer in den Geschäftsräumen aufgestellt hatten. Dort konnte man warten und bekam nach ein-zwei Stunden Bilder und Film, so dass man schon am gleichen Tag sehen konnte, was man vor einigen Stunden aufgenommen hatte. Das klappte mit fast allen Filmformaten.

Komfortabler war dann aber die Polaroid-Kamera, die mit Spezialfilm gefüttert wurde. Nach dem Belichten begann eine Walze, die motorisiert war einen Quetschvorgang und nach ein-zwei Minuten war das Bild fertig - klein, farbig aber nicht repräsentativ und es war ein Unikat. Abzüge davon waren teuer und schlecht.

Bis zur Jahrtausendwende versuchten sich die großen Kamerahersteller wie Kodak, Agfa, Minolta und wie sie alle heißen mit neuen Formaten. Aber da drängelte sich auch schon für teures Geld die Digitalfotografie auf den Markt. Keiner glaubte daran, dass das mal der große Renner werden würde und heute? Die Apparate werden täglich billiger, die Pixeldichte erreicht sehr hohe Werte, trotzdem kommt die Auflösung noch nicht an die alten Medien ran, aber das wird bald soweit sein.

Die alte Glühbirne, erfunden von ‚olle‘ Edison, ist nun auch schon dem Tod geweiht. In den Wohnzimmern brannten 100 Watt-Birnen, die mehr heizten als Licht abgaben, aber wen kümmerte das? Über ein Jahrhundert leuchtete sie mit angeblich warmem Licht, wir sind mit ihr groß geworden! Das war ein luftleer gepumptes birnenförmiges Glasgehäuse, in dem ein Glühfaden aus Wolfram oder ähnlichem Metall zu glühen anfing, wenn er an Strom angeschlossen wurde. Irgendwann entdeckte man in Brüssel bei den Europäern, dass dieses Wunderwerk zu verschwenderisch mit unserer Energie umging. Es müssen jetzt Energiesparleuchten auf Quecksilberbasis oder Leuchtdioden verwendet werden, die eine höhere Lichtausbeute bei weniger Energieverbrauch bringen - auch ganz anders als früher.

Wir betanken unsere Autos anders als vor 50-60 Jahren. Damals manchmal noch mit Pumpen, die wir selber bedienten, heute verlassen wir uns auf elektrische Pumpen, die wir nicht mehr kontrollieren können und lesen von Displays - dazu sagten wir früher Zählwerke - Zahlen ab, denen wir blind vertrauen. Ich weiß nicht, wieso sich darüber noch keiner beschwert hat, denn ob sie richtig ticken, weiß niemand zu sagen.

So ist das auch, wenn wir „geblitzt“ werden. Da vertraut die Polizei oder Gemeinde-verwaltung, die den Blitzer aufgestellt hat, irgendwelchen TÜV-Berichten, die Eich-vorgänge bescheinigen, die niemand nachprüfen kann. Wir müssen denen glauben, denn die Gerichte kennen keinen Spaß, wenn wir dagegen mokieren!

Finanzamt, Rentenstelle, Arbeitgeber, Familienkasse oder Sozialamt berechnen Leistungen, die wir nicht nachprüfen können. Ich habe z.B. bei fast den gleichen Voraussetzungen im letzten Jahr vom Finanzamt um 1400 Euro zuviel gezahlte Steuern erstattet bekommen, in diesem Jahr ist es gerade mal etwas mehr als die Hälfte. Ich kann das nicht nachprüfen und muss davon ausgehen, dass mir letztlich kostenpflichtig der Kopf gewaschen würde, weil „...das völlig richtig war!“

Einer meiner Kollegen sagte noch vor gut 25 Jahren in dem ihm eigenen Humor: „Früher hatten wir noch einen Kaiser...“ und wenn etwas kaputt ging, was wir nicht mehr alleine reparieren konnten: „...früher war alles aus Holz!“

Wir leben in der Gegenwart, da ist eben alles anders als früher. Daran haben wir uns ja mittlerweile gewöhnt - okay, wir mussten, es blieb uns ja weiter nichts übrig. */ Die Zeitansage wurde bereits in den 1930er Jahren automatisiert, die Stimme kam von einem eigens dafür eingerichteten hochkomplizierten Grammophon.
Die Vorwahl 119 galt von den 1960er bis in die 1980er Jahre, dann wurde eine 0 vorangestellt, also 0119. Später wurde die Zeitansage ein Mehrwertdienst und musste sehr umständlich unter 01804 100 100 kostenpflichtig angerufen werden. In der DDR gab es die genaue Zeit unter 019.

 

Selbstverwirklichung

Jürgen Hühnke Jahrgang 1935 

Jürgen Hühnke erstellt im Juli 2014

Meine Generation war eigentlich noch ganz „normal", also fast gut bürgerlich; sie wuchs aber hinein in die verrückten Zeiten der 68er Rebellion, der Hippies und der nach Indien orientierten Transzendental-Meditativen, die ihr Geld dafür verschwendeten, in den Ashrams von Gurus im Sex zu schwimmen - und was dergleichen esoterischen Unsinns mehr ist. Meine Generation redete nicht wie Spätere unablässig von Selbstverwirklichung, was auch hirnrissig gewesen wäre, ist doch jeder halbwegs vernünftig gemeisterte Lebensweg an sich schon Selbstverwirklichung genug. Einer meiner Schulfreunde hatte es da schlechter getroffen, nicht weil er Pastor geworden war, sondern weil ihm sehr spät, da er bereits Vikar war, am Einsatzort die jüngste Schwester alter Grundschulfreundinnen, als liebreizende Abiturientin in die Quere gekommen war. Überstürzt rasch wurde geheiratet, beide surften nur so auf Glückswogen und wurden ein eingespieltes Team von Pastorenehepaar, bei dem die junge Frau unermüdlich und kreativ - vor allem aber aus eigenem Antrieb und ohne jeden Zwang - die Jugendarbeit in die Hand nahm und den Chor leitete. Als er seine Karriere in der hannöverschen Landeskirche mit dem Amt eines Superintendenten krönte, lief sie - mittlerweile Mutter von drei Söhnen - ihm plötzlich davon. Sie fühlte sich zu kurz gekommen, beanspruchte nun, studieren zu dürfen wie andere Abiturientinnen, wolle Versäumtes nachholen, naja, und sich selbst verwirklichen. Sie suchte sich einen neuen Lebenspartner und ließ sich scheiden. Scheidung in einem evangelisch-lutherischen Pfarrhaus (und das noch vor Margot Käßmann) - der Landessuperintendent schäumte, mein Freund wurde auf einen Landpastor zurückgestuft. Ein gewisser Vorteil lag allerdings darin, dass das Kirchenrecht dem Beamtenrecht angeglichen ist und folglich zwar Titel zurückgestuft werden können, aber die Bezüge als „wohlerworben" gelten.
Wenn ein Beamter sich selbstverwirklicht, schlägt sich das eben in seinem Einkommen nieder.

 

Lieblingsessen

Fritz Schukat Jahrgang 1935 

von Fritz Schukat aufgeschrieben am 22.07.2014

Solange ich denken kann, gibt es bei uns zu Weihnachten Gänsebraten. Zu Hause gab es dazu Rotkohl (Blaukraut) und natürlich Salzkartoffeln. In den sog. Hungerjahren nach dem Krieg gab es vor dem Festessen auch noch eine Terrine Nudelsuppe, in der das Gänseklein schwamm, Herz, Magen, Hals und so - genau weiß ich das nicht mehr, aber es musste sein, denn um Omas Tisch saßen zu Weihnachten acht bis zehn Personen, die wären von der Gans allein sicher nicht satt geworden. Wie sie angerichtet wurde, daran erinnere ich mich nicht mehr so genau, aber Äpfel und Trockenpflaumen schwammen im Fett, das laufend abgeschöpft wurde. Weihnachtsgänse wurden früher grundsätzlich gestopft, um mehr Fleisch und Fett anzusetzen, das ist heutzutage als Tierquälerei verboten, aber dennoch musste damals die Hausfrau schon sehen, dass sie möglichst viel Fleisch in die Schüssel bekam. Ich glaube schon, dass auch meine Großmutter Hackfleisch in die Gans schob, weil es so viele Mitesser gab.

Auch meine Frau füllt den Gänsebraten mit „Gefüllsel“, das ist gemischtes Hack nach Art des „falschen Hasen“ mit einem eingeschlossenen Ei. Beim Tranchieren bleibt das Hack ungeschoren. Es wird dann in Scheiben geschnitten, die durch das Gänsefett einen unvergleichlichen Geschmack haben. Meist jedoch essen wir dieses Hack am zweiten oder dritten Feiertag. Seit wir im hohen Norden wohnen, gibt es neben Rotkohl auch Grünkohl dazu, der viel Gänsefett enthalten muss.

Ich freue mich zwar das ganze Jahr auf Gänsebraten zu Weihnachten, könnte mir aber nicht vorstellen, ihn zu irgendeiner anderen Zeit zu essen. Ich habe ein einziges Mal Ende November an einem Martinsgans-Essen teilgenommen. Würde ich nicht mehr mitmachen wollen.

Es gibt noch zwei andere Lieblingsspeisen, die aber saisongebunden sind und eben nur zu einer ganz bestimmten Zeit meine Magensäfte anstacheln: im Frühling Spargelessen - ‚Spargel satt‘ heißt die Devise! Okay, Spargel gab es auch in Berlin und Mainz, also da, wo ich längere Zeit gewohnt habe, aber seit wir hier im Norden wurzeln, holen wir den Spargel vom Spargelhof ab und wissen, dass er gestern oder sogar heute früh gestochen wurde. Auch wenn es dicke Stangen sind, schmeckten sie exzellent. Dazu gibt es natürlich Holsteiner Schinken. In früheren Zeiten gab es Sauce hollandaise, aber um den Spargel auf der Zunge zu spüren, reicht blanke, geschmolzene Butter.

Dieses Festessen gibt es bei uns zwei bis drei Mal im Frühjahr, dann ist meist schon der 24. Juni, Johannistag - also Abgesang. Danach gibt es keinen frischen Spargel mehr. Das reicht mir jedenfalls, denn - aus dem Fußball-Deutsch adaptiert - nach dem Ende der Saison ist vor der Saison - dann freuen wir uns aufs nächste Jahr!

Es gibt noch zwei großartige Lieblingsessen, die ich allerdings erst im Außendienst kennenlernte. Das erste, als ich einige Jahre in Rheinhessen wohnte und ein Frankforter „Mädsche“ - meine Frau besteht auf „Schlippsche“ (Schleifchen) - heiratete: „Grie Soß“ - auf gut Deutsch „Grüne Soße“. „Grie Soß“ ist eine Kaltspeise aus sieben ganz bestimmten Kräutern - es muss auf jeden Fall Pimpernelle dabei sein! Sie werden kleingehackt und in einen Brei aus Majonäse, Sauercreme und Sahne gegeben, kleingeschnittene gekochte Eier gehören dazu. Der Kräuteranteil muss so groß sein, dass die Soße fast wie Spinat aussieht, dann schmeckt sie am besten. Dazu werden Pellkartoffeln gereicht und in Hessen trinkt man einen Äppelwoi dazu - muss aber nicht sein.
Das ist auch ein Saison-Essen, das man nicht ganzjährig bekommt, wobei die Saison ab Ostern etwa 3 Monate dauert. Damit wir hier im Norden nicht auf diesen Schmaus verzichten müssen, haben wir uns die Kräuter anfangs per Eilpost aus Frankfurt schicken lassen. Da wir aber immer noch verwandtschaftliche und freundschaftliche Kontakte in und um Frankfurt herum pflegen, holen wir uns die Kräuter gern selber ab. Dann gibt es „Original Grie Soß“, bei der wir wissen, was drin ist!

Das zweite: Ich würde aus meinem Herzen eine Mördergrube machen, wenn ich nicht den absoluten Renner erwähnen würde, den ich allerdings auch erst im hohen Norden kennenlernte: Grünkohl mit Schweinebacke, Kassler und Kochwurst, dazu Brat- oder Röstkartoffeln. Hab ich schon zu Beginn meiner Außendiensttätigkeit im Hannoverschen in den 1960er Jahren kennengelernt. Dann sind zehn - fünfzehn grünkohllose Jahre vergangen, aber seit ich nach Hamburg versetzt wurde, freue ich mich auf die ersten Herbsttage, in denen der Bodenfrost dem Grünkohl den unvergleichlichen Geschmack beibringt und dann wird genossen - aber bitte ohne Kälberzähne!

 

Fische

Uwe Neveling Jahrgang 1937 

von Uwe Neveling erstellt im Februar 2014

Die Frostperiode war kurz und heftig gewesen. In meinem Fischteich bildeten sich Eisblöcke. Sie reichten fast bis zum Teichgrund. Ich fürchtete um meinen Fischbestand. Ganz so schlimm war es dann doch nicht. In der Winterzeit reduzieren die Fische ihren Stoffwechsel und warten auf warme Tage. Sie liegen so lange bewegungslos auf dem Grund. Natürlich darf der Teich nicht komplett zugefroren sein; freies Wasser zur Abgabe des Sauerstoffs muss noch vorhanden sein. An diesen Stellen halten sich die Wasserbewohner auf.

Ich bin froh, als das Wasser zu schmelzen beginnt. Das Eis verflüssigt sich. Das Wasser nimmt die warmen Sonnenstrahlen auf, und die Wassertemperatur steigt schnell auf 10 Grad. Das merken auch die Fischwesen. Sie verlassen ihren Liegeplatz und schweben mit langsamen Bewegungen dem Sonnenlicht entgegen. Sie sind plötzlich alle wieder da, meine Kois und meine Goldfische. Ich streue Kraftfutter auf die Wasseroberfläche. Heißhungrig machen sie sich darüber her. Im Nu verschwinden die Futterflocken in ihren Mäulern. Die Wasseroberfläche gerät in tsunamiartige Bewegung.

Ich muss jetzt auch an die Wasserpflanzen denken. Pflanzen, auch Wasserpflanzen, brauchen Dünger. Ich habe mir einen großen Eimer besorgt und verteile ihn im Pflanzenbereich meines Teiches. Ich ziehe dann den Behälter mit einer flüssigen chemischen Substanz aus dem Wasser. Das ist ein Tongefäß mit einem Plastiktank. Der flüssige Inhalt wird tröpfchenweise an das Wasser abgegeben. Sie reagiert mit dem Wasser und gibt den in der Substanz gebundenen Sauerstoff frei. Ich tauche das Tongefäß mit dem aufgefüllten Tank ins Wasser und lasse es auf den Boden sinken.

Das Gewässer muss dauernd gereinigt werden. Ich schließe mein Pumpsystem an. Das Wasser wird mit Motorkraft angesaugt, durchläuft ein mit Filtermasse gefülltes Becken und fließt gereinigt in den Teich zurück. Ich habe die Fische schon viele Jahre. Glauben Sie es mir, dieser Kreislauf ist der Garant für einen gesunden Fischbestand.

Bei mir haben es die Fische gut. Neulich sagte meine Frau zu mir: „Wenn Du mich auch so pflegen würdest wie Deine Fische, dann würde es mir auch gut gehen.“ Ich habe es ihr versprochen.

 

Die Spieluhr

Fritz Schukat Jahrgang 1935 

von Fritz Schukat erstellt im November 2013

Unser Jüngster bekam mit 2-3 Jahren Ende der 1970er Jahre einen handtellergroßen Stoffmaikäfer, in dessen Bauch eine Spieluhr eingebaut war. Mit einer Schnur, die am Hintern mit einer Holzperle herausguckte, konnte man sie aufziehen. Sie spielte dann, so lange die Federspannung ausreichte, das Wiegenlied von Brahms: „Guten Abend, gute Nacht...“. Den Text der beiden ersten Strophen konnte er bald aus vollem Hals mitsingen und schließlich entwickelte sich daraus vor dem Schlafengehen ein Ritual, auf das er bestand - auslassen war nicht! Meine Frau wusste schon bald, wie lang man die Schnur herausziehen musste, damit das Lied sich nicht zu oft wiederholte und am Ende klangen die Töne nur noch ganz leise und das Tempo verlangsamte sich.

Dann wurde das Licht ausgemacht, aber die Tür durfte nicht ganz zugemacht werden, das gehörte ebenfalls zum Ritual. Wir mussten nicht unbedingt leise flüstern, Junior brauchte die Familiengeräusche, um beruhigt einzuschlafen. Das Gute-Nacht-Lied mit dem Käfer, Schnuller und sein Häs‘chen, das er drücken konnte und die offene Tür gehörten fast bis er eingeschult wurde zum feststehenden abendlichen Brauch, an den wir uns immer noch gerne erinnern.
Diese Zeit ging viel zu schnell vorbei.

Jetzt ist der Kerl fast 2 Meter groß, geht auf die vierzig zu und wohnt seit vielen Jahren im Usaland. Anfangs sind wir beinahe jedes Jahr rübergeflogen und trafen uns mit ihm. Aber das Fliegen ist für mich so anstrengend geworden, dass die Frau mit dem Ältesten schon mehrmals allein rübergeflogen ist. Für mich bleibt es bei gelegentlichen Telefonaten und eMails - und seit einiger Zeit „skypen“ wir. Das ist eine famose Sache, dazu braucht man einen Computer und eine kleine Spezial-Kamera mit Mikrophon. Auf Verabredung ruft man sich an und kann den Partner auf dem Bildschirm sehen. Mit viel Fantasie kann man sich einbilden, der Partner säße nur ein paar Meter entfernt auf dem Sofa und nicht am anderen Ende der Welt!

Da diese Art der Konversation via Internet kostenfrei ist, dauert solch ein Gespräch schon mal eine bis zwei Stunden. Auf unserer Seite sitzen dann Vater, Mutter und der Große, zu Weihnachten natürlich auch unser Besuch.
Gelegentlich sprachen wir mal über den kleinen Maikäfer mit der Spieluhr. Irgendwo war er. Jedenfalls ist er mit uns vor 8 Jahren umgezogen. Aber wo ist er nun...?

Wenn man nach einem Umzug etwas gezielt sucht, findet man es garantiert nicht. Dazu verhilft meist nur ein kleiner Zufall und der geschah neulich. Jahrelang war der Käfer still, aber die Spieluhr ging noch. Ich hatte den Eindruck, sie wollte nicht so recht, aber dann - wie vor Jahren - erinnerungsträchtige Töne.

Ich zog die Uhr auf, nahm meine Digicam, stellte sie auf Filmen und ließ sie laufen. Es wurde eine gut einminütige Darbietung voller Erinnerungen, Mundwinkel zitterten und die Augen wurden feucht.

Menschenskind, das ist doch schon lange vorbei! Aber es hängen so viele schöne Erinnerungen daran. Na ja, ich bereitete den kleinen Film auf und sandte ihn per eMail nach drüben.

Als wir nach Wochen wieder mal miteinander sprachen, gestand Sohnimatz, dass auch er ganz hin und her war und eine kleine Träne verdrückte.

Für unseren Herrn Sohn ist diese Erinnerung eine der frühesten seines Lebens. Ich ging damals schon mit großen Schritten auf die fünfzig zu. Wer die erreicht, glaubt landläufig, dass die zweite Hälfte des Lebens nun beginne.

Also, wenn es mit der Gesundheit so bleibt, hätte ich schon Lust, hundert zu werden - warten wir es ab! 22 Jahre sind eine verdammt lange Zeit, vor allem, wenn man sie noch vor sich hat!