Unsere Erlebnisse

Erlebnisse auf dieser Seite

Silberlöffel von Uwe Neveling
Eine Predigt ohne Worte von Walter Bosniakowski
Nachtfahrt von Uwe Neveling
Wasser und Brot von Uwe Neveling
Fahrkartenkontrolle von Hans Meier
Ich fahre nach Hamburg von Uwe Neveling
Markttag von Uwe Neveling
Christas Gitarre von Fritz Schukat
Eine Seefahrt, die ist lustig von Jürgen Hühnke
Tiefschlafvon Jürgen Hühnke
Vom Stadtstreicher zum Millionär von Jürgen Hühnke
Tempo, Tempo . . . . . von Uwe Neveling
Blitz und Donner und die Jugendherbergen von Uwe Neveling
Meine Fahrt nach Estland von Walter Bosniakowski
Im Strom des Lebens von Uwe Neveling
Unsere erste Urlaubsreise! von Edith Kollecker
Kinderlandverschickung von Wilma Berg
Ein Wiedersehen mit der alten Heimat von Sigrid Gehrken
Lüneburg, den 24.12.1944 von Ingeborg Eva Witt
Ein Reiseerlebnis besonderer Art von Rolf Rehder
Wenn man eine Reise tut... von Edith Kollecker
Meine Landkartensammlung von Fritz Schukat
1,2,3. Guten Tag von Uwe Neveling
Das Haus am See von Uwe Neveling
Der Dorfanger von Uwe Neveling
Eine nachhaltige Erfahrung von Uwe Neveling
Schulfreundschaft von Uwe Neveling

 

Silberlöffel

von Uwe Neveling aufgeschrieben um 2004

Wir waren wieder einmal unterwegs, Ottokar und ich. Es war mittlerweile schon Tradition, dass wir einmal im Jahr auf große Fahrt gingen. Viel Geld hatten wir nicht. Das günstigste Verkehrsmittel waren unsere Räder. Ich hatte mir meins vor einigen Jahren während der großen Ferien erarbeitet. Ich arbeitete damals bei einem Hoch- und Tiefbau-Unternehmen als Hilfskraft, d.h. der Polier setzte mich für vielfältige Aufgaben ein. Ich versorgte die Mannschaft mit Getränken und Verpflegung, half beim Auf- und Abladen von Baumaterialien, pflasterte Innenhöfe und hub gelegentlich Gräben aus. Offensichtlich war man mit mir zufrieden. Der Lohn reichte für den Kauf eines neuen Fahrrades, sogar mit Gangschaltung. In den letzten Jahren waren wir in Holland, Belgien und Norddeutschland gewesen. Dieses Mal sollte es nach England gehen.

Ottokars Schwester arbeitete zu der Zeit in einem Fellowship-Friendhouse in der Nähe von Eastbourne. Die wollten wir besuchen und dann auch weiter nach London fahren. Mitte der neunzehnhundertfünfziger Jahre war eine derartige Tour schon etwas ungewöhnlich und in Anbetracht unserer finanziellen Möglichkeiten sogar abenteuerlich. Übernachten wollten wir in Jugendherbergen und Youth Hostels. Für Notfälle nahmen wir ein einfaches Zweimannzelt mit. Später stellte es sich heraus, dass wir das Zelt gut gebrauchen konnten. Wir nächtigten einmal bei englischen Pfadfindern, die uns freundlich aufnahmen und uns an ihrem Lagerleben teilnehmen ließen. In Eastbourne zelteten wir auf dem Zeltplatz nahe der Steilküste.

Wir fuhren mit dem Zug nach Brüssel, das wir am späten Nachmittag erreichten. Wir holten unsere Räder aus dem Gepäckwagen und starteten sogleich Richtung Ostende. Wir fuhren die ganze Nacht durch. Ich erinnere mich daran, dass wir um Mitternacht Gent erreichten und am frühen Morgen im Hafen von Ostende ankamen. Wir nahmen dann die Fähre nach Dover, quälten uns die englische Steilküste hoch und machten uns auf den Weg nach Eastbourne.

Das südliche England ist eine liebliche Landschaft mit heckenumsäumten Straßen und Wegen. Gegen Mittag rasteten wir an einem kleinen Wäldchen. Ein Schild fiel mir auf: „Beware for the adders”, man sollte also auf Kreuzottern achten. Wir ließen uns dadurch in unserer Mittagsruhe nicht stören. Die andere Straßenseite wurde von einer mannshohen Mauer begrenzt. Wir hörten Stimmen, die uns neugierig machten. Wir erklommen die Mauer und erblickten einen äußerst gepflegten Rasenplatz. Auf dem tummelten sich weißgekleideten Herren. Einige Herren trugen eine Schutz-kleidung. Sie warfen sich einen kleinen, ebenfalls weißen Ball zu. Am Rande des Spielfeldes saßen einige Zuschauer, die aus uns unerfindlichen Gründen gelegentlich in lautem Jubel ausbrachen.

Man erblickte uns. Ein sportlich gekleideter Engländer kam zu uns herüber. Er fragte uns, wo wir herkämen. Er war sehr höflich und nahm es uns nicht übel, dass wir Deutsche waren. Im Gegenteil, er stellte sich vor und auch wir nannten unsere Namen. Er hieß Silverspoon. Silverspoon war begeisterter Kricketanhänger, und dieses Spiel fand gerade auf dem Rasen statt. Er erklärte uns die komplizierten Regeln des Spiels. Wir verstanden nur Bahnhof. Bei diesem Spiel geht es darum, das Tor des Gegners zum Einsturz zu bringen. Die Tore bestehen aus Stäben und Querstäben und werden von einem Schläger bewacht. Der Schläger schlägt den auf ihn zufliegenden Ball mit einer Schlagkeule möglichst weit ins Feld zurück. Verfehlt er den Ball, so muss der Torwächter den Ball fangen und versuchen, das gegnerische Tor umzuwerfen. Wir nickten freundlich und taten so, als hätten wir alles verstanden. Silverspoon war glücklich. Er meinte wohl, neue Anhänger für diesen Sport gewonnen zu haben und lud uns zu einer Tasse Tee ein. Da konnten wir nicht nein sagen.

Für uns war der Tee etwas gewöhnungsbedürftig, er wurde mit Milch und viel Zucker gereicht. Wir sahen dem Spiel noch eine Weile zu, ohne es zu begreifen. Es kam uns vor, wie eine Mischung aus Pinnchen-Schlagen und Schlagball. Die Feinheiten blieben uns verborgen.

Wir verabschiedeten uns von unserem neuen Freund und fuhren in den späten Nachmittag hinein. Am Abend trafen wir auf die Pfadfindergruppe. Wir nahmen am Abendgottesdienst teil, erhielten eine warme Mahlzeit und durften unser Zelt in ihrem Lager aufbauen. Nach diesem anstrengenden Tag gingen wir früh schlafen. Ich träumte von Mr. Silverspoon. Er erklärte mir noch einmal die Regeln und ich begriff wieder nichts. Ottokar meinte am nächsten. Morgen, dass ich sehr unruhig geschlafen hätte. Ich hätte von toten Bällen gemurmelt und der ‚Schläger ist aus‘ gerufen.

Damals hatte ich Ottokar nicht verraten, dass Mr. Silverspoon mir in einem Traumkursus versuchte, die Kricketregeln beizubringen. Viel geholfen hat es nicht. Ich kenne sie immer noch nicht. Ich vermisse sie auch nicht. Ich denke aber gerne an Mr. Silverspoon. So stelle ich mir einen englischen Gentleman vor: Er besitzt eine gute Aussprache, ist höflich und gut gekleidet. Als Gentleman nimmt er es mir sicherlich nicht übel, dass ich Kricket nichts abgewinnen kann.

 

Eine Predigt ohne Worte

oder
Senioren-Bergwanderfreizeit
von Walter Bosniakowski

Das machen wir mit, meine Frau und ich, leider unerfahren, was das Wandern in den Bergen betrifft und so meldeten wir uns trotzdem an für diesen 14tägigen Urlaub nach Österreich ins Tauerngebirge. Wunderbare Unterkunft erwartete uns im Hotel "Barbar" am Berghang in der Nähe vom Lift, mit Blick auf eine Wiese, wo Paragleiter landeten und von ihren Angehörigen erwartet wurden.

Alles neu für uns, auch die Gruppe Wanderer, ca. 30 Personen mit dem Leiter, einem pensionierten Pastor aus Hamburg. Zur Ausrüstung für dieses Unternehmen gehörten ein Paar Wanderschuhe und Wanderstock, Rucksack und Trinkflasche.. Nach dem Frühstück kurze Info, 9 Uhr vor dem Haus Sammeltreff und los ging es. Am ersten Tag eine Anfängerstrecke bis zum „Gemsbock“, einer Hütte mit Bewirtung. Einen halben Liter Milch mit Waldfrüchten, ein wunderbares Getränk! Übrigens in den Berghütten schmeckt alles anders und besser, Germknödel oder Kaiserschmarren, ein Teller voll, dazu 3-4 Gabeln und ruck-zuck war der Teller leer.

So wiederholte sich ein Tag nach dem anderen, wobei jeder Tag anstrengender aber auch schöner war. Nun brauchte man zum Aufstieg auch noch ab und an sie Hände und zum Abstieg auch den Stock, damit man mehr Halt im Geröll hatte.

Fast jeden Tag sechs Stunden Wanderzeit das reichte aus. So beschlossen wir abends, den nächsten Tag nicht mitzumachen, doch als uns morgens die Sonne so freundlich anschaute und die Gruppe sich sammelte, war der Beschluss vom Vortag hinfällig und wir machten wieder mit.

Unser Pastor, Leiter und Wanderführer hatte für die Pausen ein gutes Stärkungsmittel dabei: eine Scheibe Zitrone, einen Würfel Traubenzucker und einen kleinen flüssigen Enzian - und die Lebensgeister steigerten sich.

Nun wäre noch vieles zu berichten über die herrliche Bergwelt, die Wanderraststätten, die so nahe dran waren und doch erst nach Stunden erreichbar. Mit einem Erlebnis das ich nicht vergessen werde, mach ich Schluss.

Wir waren wieder mal auf dem Abstiegsweg zu unserem Quartier. Übrigens der Leiter geht immer mit den Schwächeren, die verständlicherweise am Ende der Gruppe sind. So war ich mit dem Pastor als letzter. Am Wegesrand im Gebüsch sah ich Leergut liegen, leere Flaschen und Plastik. Ich ärgerte mich, dass die Menschen so unvernünftig sind und die Natur verschandeln. Dies erzählte ich so nebenbei meinem Begleiter, der fragte mich, wo ich den Müll gesehen habe. Ich erklärte es ihm, er drehte sich um, sagte kein Wort, ging los, holte den Abfall und trug ihn ins Tal.

Für mich war das eine Lektion ohne Worte. Ich habe es verstanden: nicht meckern, besser machen.

 

Nachtfahrt

von Uwe Neveling vom 6.01.2014

Ich habe alles aufgebaut: Auf dem Projektionstisch steht der Filmprojektor, die an der Decke montierte Leinwand ist abgerollt. Sie schimmert blendendweiß; sie ist mit einer hauchdünnen Glasbeschichtung versehen. Sie wird klare Bilder liefern. Am oberen Arm des Projektors habe ich die Filmrolle eingesetzt. Ich klemme den belichteten Filmstreifen hinter das Objektiv und führe ihn über Rollen zur Fangspule. Ich setze mich und starte den Projektor. Auf der Leinwand erscheint in großen, bunten Buchstaben: Moskau / Leningrad 1983.

Ich erinnere mich. Der Eiserne Vorhang war damals schon durchlässiger geworden. Das wollte ich erleben und mir ansehen. Moskau und Leningrad kannte ich nur aus Büchern und aus dem Fernsehen. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, Lenin, Stalin, Peter den Großen und Katharina die Große persönlich kennen zu lernen. Und wie kommt man von Moskau nach Leningrad? Natürlich mit der Bahn, mit dem Nachtzug. Um 20 Uhr sollte es in Moskau losgehen. Mit dem Bus karrte man die Reisegesellschaft zum Bahnhof. In Moskau gibt es viele Bahnhöfe, von denen Züge in alle Himmelsrichtungen fahren. Für Ortsfremde ist das alles verwirrend. Aber wir hatten einen Reiseführer, dem wir einfach folgten. Es war inzwischen dunkel geworden, und es regnete leicht. Ich wollte die Abfahrt auf Zelluloid bannen. Ich musste es heimlich tun. Filmen und fotografieren auf Bahnhöfen war nicht erlaubt. Der Zug wartete auf uns. Auf dem Nachbargleis stand der Transsibirienexpress. Das wäre auch etwas für mich gewesen. Aber ich wollte nach Leningrad und nicht nach Wladiwostok. Die Schlafplätze waren für uns reserviert. Wagen- und Abteilnummer konnten wir fließend lesen, die Beschriftungen dagegen nicht. Die kyrillischen Buchstaben waren uns fremd. In ein Abteil passten vier Personen. Da wir uns schon einige Tage kannten, störte ich mich an meine Mitschläfer nicht. Wir machten es uns bequem. Irgendwann hörte ich das Abfahrtsignal, und der Zug fuhr ruckelnd an. Die Nachtfahrt konnte beginnen.

Beruhigend waren die Radgeräusche, wenn der Wagen über Gleisverbindungsteile fuhr. Dabei ließ es sich gut schlafen. Die rhythmischen Geräusche signalisierten dem Schläfer: Es ist alles in Ordnung. Der Schlaf fand ein jähes Ende, wenn der Zug stand. Das ging nicht nur mir so. Auch meine Mitschläfer wachten auf. Jeder Schlafwagen hatte einen Betreuer. Es war zumeist eine Schaffnerin. Sie schaute nach dem Rechten und versorgte uns mit heißem Tee. Den konnte man die ganze Nacht ohne Aufpreis erhalten. Der Zug fuhr wieder an, und wir fielen in einen unruhigen Schlaf. Unruhig deshalb, weil wir den nächsten Stopp erwarteten. Ich habe in dieser Nacht Unmengen von Tee getrunken. Auch gefilmt habe ich in dieser Nacht viel. Das ging problemlos. Während wir auf den Bahnhöfen kontrolliert wurden, gab es im Zug keine Kontrollen.

Um 8 Uhr erreichten wir Leningrad. Ein Bus brachte uns in unser Hotel. Es lag direkt an der Newa. Wir waren ziemlich müde. Die Nachtfahrt war für uns alle ungewohnt und unruhig verlaufen. Dennoch saßen wir 2 Stunden später wieder im Bus. Die erste Stadtrundfahrt war fällig. Die Nachtfahrt wurde nahtlos von einer Besichtigungstour abgelöst. Die Geschichte erzähle ich ein anderes Mal, wenn ich ausgeruht und wieder klare Gedanken fassen kann. Auf der Leinwand flimmert mir in farbigen Buchstaben: Filmende entgegen. Ich spule den Film zurück und lege die Rolle in meinem Filmarchiv ab. Die Filmreise hat sich für mich wieder einmal gelohnt.

 

Wasser und Brot

Es war ein heißer Sommertag im August 1967. Wir waren schon seit Tagen unterwegs. Unsere Essenvorräte hatten wir fast aufgebraucht. Auch einen Osuuskauppa (Konsum) würden wir so schnell nicht finden. Nachschub war daher nicht zu erwarten. Jetzt ging es an die Reserven. Für Notfälle hatten wir Trockennahrung gebunkert. Die bestand aus Trockenmilch, Eipulver und Haferflocken. Diese Bestandteile wurden im Verhältnis 1:1 gemischt und mit Wasser angerührt. Nahm man viel Wasser, konnte man die Mischung als Suppe servieren, wenig Wasser ergab eine dicke Pampe. Gleichgültig in welcher Konsistenz man es zu sich nahm, es überlagerte das Hungergefühl. Es soll – wie man uns versicherte – auch kräftigend wirken. Gerade Letzteres brauchten wir. Schließlich mussten wir unsere Boote mit Körperkraft vorantreiben.

Als besonderen Leckerbissen hatten wir uns in wasserdichten Dosen Vollkornbrotscheiben einpacken lassen. Trockenes Brot kann durchaus lecker sein, vor allen Dingen dann, wenn es nichts anderes zu knabbern gibt. Vitaminreich waren auch Brom- und Blaubeeren, die Margot eifrig sammelte. Otto und ich angelten vorzugsweise abends. Morgens und abends war immer die beste Angelzeit, da waren die Fische besonders bissfreudig. Zu einem guten Fang gehörte aber immer auch eine Portion Glück. Mein Freund Otto zählte zu den leidenschaftlichen Anglern. Den selbst gefangenen Fisch mochte er aber nicht essen. Das geht vielen Anglern so: angeln ja, essen nein. Er musste daher weiter mit der Trockennahrung vorlieb nehmen. Davon hatten wir reichlich, auch bei Wasser und Brot musste keiner verhungern.

 

 

Da wir nicht wussten, wo wir uns genau befanden, waren wir auf gut Glück in einige Kanäle und Buchten hineingefahren. Der Blick auf unsere Seekarte war nicht sonderlich hilfreich. Oftmals erreichten wir das Ende einer Bucht, und wir mussten umkehren. Die abgefahrene Wasserlinie konnten wir auf der Merikortti (Seekarte) nicht ohne weiteres erkennen. Da hörten wir die pochenden Motorgeräusche eines Holzfloßschleppers. Es gelang uns, den Schlepper zu lokalisieren. Wir fuhren hin und erkundigten uns bei der Besatzung nach dem Weg. Sie waren sehr freundlich, luden uns ein, an Bord zu kommen und frisch zubereiteten Kaffee zu trinken. Das nahmen wir gerne an. Zum Kaffee wurde frisches Gebäck gereicht. Das war etwas anderes als unsere Notverpflegung. Erst nach einer geraumen Zeit verabschiedeten wir uns von unseren Gastgebern und machten uns wieder auf den Weg.

Jetzt wussten wir, wo wir waren. Wir erreichten bald einen kleineren Ort. Dort wurde erst einmal eingekauft. Die Zeit mit Wasser und Brot hatte ein Ende.

 

Fahrkartenkontrolle

von Hans Meier (2012)

Es soll gegen Ende der 1960er Jahre einen jungen Quickborn-Heider Schwarzfahrer gegeben haben, der in Bahnhof Meeschensee mit seinen Freunden einstieg, um nach Garstedt zur Diskothek „Western Camp“ zu fahren.
Während der Fahrt dorthin kam ein Kontrolleur in den Zug. Unser Quickborner hatte keine Fahrkarte, seine Freunde hatten alle eine. Der Kontrolleur, den damals alle kannten, kam immer näher. Es war Iwan, so sein Spitzname, weil er stets einen sehr kurzen Stoppelhaarschnitt hatte.
Da rollte unserem Delinquenten durch die Bahnbewegung eine leere Schnapsflasche vor die Füße. Er nahm sie auf und mimte so überzeugend den Betrunkenen, dass der Kontrolleur nicht wusste, wie er reagieren sollte. Schließlich verbrachte der Kontrolleur unter Mithilfe seiner Freunde den „schwer“ Betrunkenen am nächsten Halt aus dem Zug. Dabei vergaß er völlig, nach der Fahrkarte zu fragen.

 

Die AKN-Haltestelle Meeschensee in den 50er Jahren 

 

Es gab auch Mutige, die mit nicht viel Taschengeld zur Diskothek „Bonanza“ nach Kaltenkirchen fuhren und dabei die Fahrt auf den Puffern des letzten Wagens riskierten.
Das ist bei den heute höheren Geschwindigkeiten der Züge lebensgefährlich und nicht mehr zum Nachahmen empfohlen.

 

Ich fahre nach Hamburg

von Uwe Neveling

Ich war neunzehn Jahre alt und hatte noch nicht viel von der Welt gesehen. Das Ruhrgebiet war mein zu Hause und da fühlte ich mich wohl. Hier lebten meine Freunde, hier spielte ich mit ihnen Fußball, hier ging ich zur Schule, hier ging ich ins Kino, manchmal auch ins Theater, hier tauschten wir Bücher und erlasen uns so nach und nach die Weltliteratur oder was wir dafür hielten. Wir besaßen nicht viel und waren glücklich mit dem Wenigen, was wir hatten. Unser höchstes Gut war ein Fahrrad, mit dem wir die nähere Umgebung erkundeten. Ich hatte mir meins während der Ferien durch Arbeit bei einem Hoch- und Tiefbau-Unternehmen selbst finanziert. Nach der Schule fand ich eine Lehrstelle bei einem Versicherungsunternehmen. Die Direktion des Unternehmens war in Hamburg. Zur Vorbereitung auf die Kaufmannsgehilfenprüfung wurde eine zentrale Schulung für alle Lehrlinge des Bundesgebietes in Hamburg durchgeführt. Auch ich sollte daran teilnehmen. Das würde eine aufregende Reise werden. So weit war ich noch nie alleine gefahren. Auch die Familienmitglieder waren besorgt. Verschwand ich doch für einige Wochen aus ihrem Blickfeld. Da konnte doch einiges passieren. Von Hamburg kannten wir alle nur die Reeperbahn und Hagenbeck. Und einen Hafen sollte Hamburg auch haben. Da gab es Kneipen und leichte Mädchen, die nur auf mich warteten. In vielen Gesprächen wurde ich auf das, was mich erwartete, vorbereitet. Dann wurde der Koffer gepackt. Er war schon alt, war aus Fieberglas und hatte einige Beulen. Er hatte garantiert mehr von der Welt gesehen als ich. Einen Tag vor der Abfahrt ging ich zum Hauptbahnhof und erwarb eine Rückfahrkarte. Rückfahrkarte bedeutete „Hin und zurück“. Ich kam also wieder. Das beruhigte mich und die sorgenvoll drein blickende Familie. Ich verabschiedete mich schon am Vortag von den meisten Familienmitgliedern. Ursula, eine eingeheiratete Tante, drückte mich besonders heftig und versprach mir, alle ihr zugänglichen Engel auf mich anzusetzen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn das nicht helfen würde, meinte sie.

 

 

Am nächsten Tag ging ich viel zu früh zum Bahnhof, d.h. ich ging nicht, sondern fuhr mit der Straßenbahn. Ich musste eine Stunde auf den Zug warten. Es war der alte Bahnhof – zwischenzeitlich gibt es einen neuen – , den man nach dem Krieg notdürftig repariert hatte. Es war regnerisch und windig und zog auf dem Bahnsteig. Ich suchte mir eine trockene und windstille Ecke und wartete. Endlich kam der Zug. Es war ein D-Zug. Der Zug wurde von einer kraftvoll fauchenden Lokomotive gezogen. Aus ihrem Schornstein quoll tiefschwarzer Rauch. Zischend kam sie zum Stehen. Die Dampfventile gaben laute Taktgeräusche von sich. Mir schien es, als würde unser Zugpferd ungeduldig mit den Hufen scharren. Es wollte los, dem Ziel Hamburg entgegen. Dahin wollte ich auch. Ich fand einen Fensterplatz gleich im ersten Wagen hinter der Lok. Ein kurzer Pfiff, der Zug setzte sich langsam in Bewegung und wurde immer schneller. Ich blickte aus dem Fenster und sah die mir vertrauten Straßen und Häuser vorüber ziehen. In der Ferne sah ich den Turm der Liebfrauen-Kirche. Da in der Nähe wohnte ich. Schnell, viel zu schnell, flog die Landschaft vorbei. Ich hätte noch viel Zeit gebraucht, um Abschied zu nehmen. Der Zug fuhr über Dortmund, Münster, Osnabrück, Bremen. In Osnabrück wurde die Lok gewechselt. Das war damals so üblich. Die Fahrt nach Hamburg dauerte fast sechs Stunden. Ich kam am späten Nachmittag im Hamburger Hauptbahnhof an und fand mich in einer völlig fremden Welt wieder. Hier traf ich Leidensgenossen aus Hagen. Man erkannte sich sofort. Unsere hilflosen Blicke stellten die Frage: Wie geht es weiter? Weiter ging es mit der U-Bahn. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Markttag

von Uwe Neveling

Finnland ist das Land der tausend Seen. Es sollen sogar 62000 sein, und dabei sind die kleineren Gewässer noch nicht einmal mitgezählt. Das Saimaa-Seengebiet von Kuopio bis Lappeenranta habe ich in den Jahren 1964 bis 1968 mehrfach besucht. Setzt man die Boote in Kuopio ein und paddelt zehn Tage lang geruhsam gen Süden, so erreicht man Savonlinna, wenn man sich nicht in der Seenlandschaft verirrt. Savonlinna ist eine mittelgroße Stadt, die rundum von Wasser umgeben ist. Bekannt ist sie durch ihre jährlichen Festspiele auf der Burg Olavinlinna. In Savonlinna war ich dreimal. Beim ersten Mal zelteten wir auf dem Zeltplatz neben der Burg. Der Platz lag auf einem Hügel und war vom Wasser her schlecht zu erreichen. Daher haben wir später auf einer dem Ort vorgelagerten Insel unsere Zelte aufgebaut. Wir hatten schließlich Boote und konnten so bequem das Städtchen erreichen. Unsere Anlegestelle lag dann direkt am Marktplatz.

Zweimal in der Woche war Markttag. Das ließen wir uns natürlich nicht entgehen. Ich weiß noch wie Heinz bei unserer ersten Faltbootfahrt sich am Markttreiben nicht satt sehen konnte. Zunächst fiel auf, daß es bunt zuging. Die Verkaufsstände waren aus Holz und hatten rote, grüne, gelbe und blaue Stoffdächer. Und was wurde nicht alles angeboten. Kartoffeln, Orangen, Zitronen, Zwiebeln, Gemüse, Obst, Himbeeren, Heidelbeeren, Erdbeeren, jede Menge Fisch und Fleisch. Wir studierten die finnischen Namen für die so feilgebotenen Waren. Heidelbeeren heißen mustikka, Fisch heißt kalla, Brot heißt leipä, Butter voi und Milch maito. Es machte uns großes Vergnügen, unsere spärlichen finnischen Sprachkenntnisse auszuprobieren. Wir wunderten uns manchmal, was wir dafür kriegten. Mein Freund Otto pflegte zu sagen: Finnisch ist eine Sprache, die der liebe Gott im Zorn erschaffen hat.

 

 

Der Markt lag direkt am Wasser. Neben unseren Booten, die nicht weiter auffielen, ankerten dort auch die kleinen, mit Holzfeuerung angetriebenen Dampfer. Sie waren für den Personenverkehr zuständig und sahen alt, aber durchaus noch seetüchtig aus. Mit ihrem weißen Rumpf und den doppelstöckigen Holzaufbauten vermittelten sie so etwas wie Stabilität. Wir sind später auch mit ihnen gefahren und haben an Bord übernachtet. Es war bequem und erholsam.

Doch zurück zum Markt. Heinz war unser Fotograf. Er war mit den Fotos aus dem Marktgetümmel heraus nicht zufrieden. Er schaute sich um und erblickte eine hoch aufragende Häuserzeile direkt gegenüber vom Hafenbecken. Er winkte uns zu und verschwand in einem Hauseingang. Wir erblickten ihn dann auf dem Flachdach des Hauses. Es wäre kein Problem gewesen, nach oben zu kommen, erzählte er uns. Haustür und Dachtür standen offen. Er sei keinem Menschen begegnet. Mit seiner Fotoausbeute schien er zufrieden zu sein..

Ich blättere in einem alten Fotoalbum und finde das Marktfoto. An der Hafenmole liegen vier Saimaa-Dampfer, daneben der bunte Markt. Wenn man genau hinsieht, bewegen sich die einzelnen Punkte auf dem Bild. Die kleinen Schornsteine der Dampfer rauchen, die Marktbesucher laufen von Stand zu Stand. Mich finde ich auf dem Foto nicht. Ich muss wohl einer der bewegten Punkte sein. Auch unsere Boote sind nicht sichtbar. Sie wurden vom Fotografen nicht erfasst. Das ist auch nicht wichtig. Wir wissen ja, dass wir da waren.

 

Christas Gitarre

von Fritz Schukat aufgeschrieben im Frühjahr 2001

Im Jahre 1952 fuhr ich mit einigen Freunden mit dem Fahrrad durch „Westdeutschland“. Wir mussten erst einmal von Berlin durch die „Zone“, wie wir mit dauernder Impertinenz die „so genannte DDR“ damals nannten und strampelten dann eine Woche durch die Lüneburger Heide und Schleswig-Holstein bis „ganz oben hin“, nämlich nach Sylt. Dort befindet sich in List auch heute noch Deutschlands nördlichste Jugendherberge. Das war unser Wunschziel und dort wollten wir einige Tage bleiben.
Als es wieder zurückgehen sollte, schlossen wir uns mit einer Gruppe aus Hamburg zusammen, mit der wir schon zuvor einen netten Kontakt hatten und waren schließlich etwa 11-12 Radfahrer. Das fanden wir ganz toll, denn in solchem Pulk konnte man schnell Freundschaften schließen und wenn einer nicht mehr so konnte, wurde er entweder geschoben oder gezogen. Auch bei den etlichen „Platten“ gab es viel schneller aktiven Beistand, was - so merkwürdig es klingt - die durchschnittliche Reiseleistung auch erhöhte, denn unsere Räder waren seinerzeit bei weitem nicht so robust, wie die heutigen Trekking-Räder und mit einem „Platten“ musste man halt immer mal rechnen.
In diesem Pulk waren zwei, drei ältere Mädchen, zu denen wir einen ganz besonderen, fast kumpelhaften Kontakt entwickelten. Eines dieses Mädchen war Christa S., etwa so alt wie wir, schlank und hochgewachsen, eben ein Typ, mit dem man nicht nur gern Pferde gestohlen hätte. Sie war wohl damals so etwas wie die Anführerin der Gruppe, jedenfalls hörten alle auf Christa und suchten auch ihren Rat. Wir fuhren zwei vielleicht auch drei Tage - so genau weiß ich das nicht mehr - durch Schleswig-Holstein über Straßen, die selbstverständlich noch keinen Radweg hatten. Der geringe Autoverkehr brachte auch noch niemanden in Gefahr. Unterwegs kurz vor Hamburg „besorgten“ wir noch ein paar Pfund Kartoffeln und irgendwer griff auch mal schnell in den Korb mit der Butter, den die Molkerei am Straßenrand für den Bauern neben die leeren Milchkannen hingestellt hatte. Das war dann später unsere Morgengabe an Christas Mutter, die mit Mann und Tochter in der Nähe des Hamburger Schlump wohnten. Dorthin hatte Christa uns „Nicht-Hamburger“, also meine drei Freunde und mich eingeladen und wir verspeisten in fröhlicher Runde Pellkartoffeln mit Butter.
Christa war Pfadfinderin und sie hatte ihre Klampfe auf der Fahrt zurück nach Hamburg immer über ihren Rücken gebuckelt. Sie kannte nur einige c-Dur-Akkorde, hatte aber ein gehöriges Repertoire an Wanderliedern auf dem Kasten. Das reichte allemal, um am Lagerfeuer die „erste Geige“ zu spielen. Als wir bei Christas Eltern unsere „opulente“ Mahlzeit aus Pellkartoffeln mit Butter eingenommen hatten, sangen wir noch einige lustige Lieder. Dann tauschten wir unsere Adressen aus und verabschiedeten uns etwas wehmütig, denn die Tage auf Sylt und die Fahrt mit dem Rad durch Schleswig-Holstein hatten uns doch irgendwie zusammengeschweißt.
Ich fand Christa nett und sie mich wohl auch. Wir waren beide knapp 17 Jahre alt. Viel hätte aber damals daraus nicht werden können, ich in Berlin, sie in Hamburg! Natürlich versprachen wir uns, fleißig zu schreiben und Kontakt zu halten. Was heute per Telefon, SMS und e-Mail ruck-zuck geht, war damals noch fernste Zukunft. Wir schrieben unsere Briefe auch noch mit der Hand und Telefon hatten nur die wenigsten. Dennoch reichten diese Verbindungen, um uns auch später noch mehrmals gegenseitig zu besuchen.
Merkwürdigerweise gab es in den ersten Wochen und Monaten, wo man sich ja eigentlich alles in epischer Breite berichtete, kein Sterbenswörtchen über weitere Klassenfahrten zu erfahren. Ich glaube jedenfalls nicht, dass ich Christa geschrieben hatte, dass wir im Herbst eine Klassenfahrt vorhatten. Wahrscheinlich haben dies auch meine Klassenkameraden nicht ihren Brieffreundschaften nach Hamburg vermeldet. Meine Freunde pflegten ja mit einigen der anderen Mädchen aus der Sylter Gruppe auch regen Briefkontakt. Aber auch die hielten das wohl nicht für erwähnenswert. So wussten die Hamburger Deerns nicht, dass wir schon wieder nach „Westdeutschland“ fuhren, deshalb wusste auch niemand von uns, dass die Hamburger Pfadfindergruppe wieder einmal eine verlängerte Wochenendfahrt geplant hatte.

 

Die aus Holz gebaute Jugendherberge in St. Andreasberg (Harz)

 

Wir fuhren also im Herbst des Jahres 1952 mit unserer Schulklasse nach St. Andreasberg in den Harz. Dort gab es eine hübsche Jugendherberge, die gänzlich aus Holz gebaut war. Zur gleichen Zeit wie wir traf dort eine Pfadfinderinnengruppe ein, um das Wochenende dort zu verbringen. Am Abend saßen wir dann alle irgendwo zusammen. Eines der Mädchen, wohl die Anführerin, hatte eine Klampfe dabei, spielte aber mehr schlecht als recht darauf. Sie kannte wohl auch nur einige wenige Akkorde, nach denen man gerade noch mitsingen konnte.
Je länger wir an jenem bewussten Abend zusammen saßen, desto mehr buhlten wir herum und stellten natürlich bald fest, dass die Gruppe aus Hamburg kam. Mit einem Male hatte ich eine spontane Eingebung, ich sagte zu dem Mädel, das die Klampfe spielte, „Du ich glaube, ich habe diese Klampfe schon einmal gesehen, sie sieht so aus und klingt auch so wie die Klampfe von Christa S.“. Obwohl es an diesem Abend schon recht dunkel war und in der Dämmerung eine Klampfe wie die andere aussieht, bestätigte die Spielerin völlig verdutzt meine Vermutung. Und dann kam heraus, dass Christa nur deshalb nicht mitgefahren war, weil sie eine Sommergrippe hatte! Wenn sie also nicht überraschend krank geworden wär, wäre sie just zu diesem Zeitpunkt ebenfalls dort gewesen.
So hab ich an diesem Abend wenigstens Christas Klampfe gesehen und gehört, auch wenn sie leider nicht dabei war.

Müßig zu erzählen, dass ich dies am meisten bedauerte.

 

Eine Seefahrt, die ist lustig

von Jürgen Hühnke

Irgendwer beim Seewetteramt Hamburg musste so gründlich gepennt haben, dass er ein sich aufbauendes und wachsendes Sturmtief in der Deutschen Bucht glatt übersehen hatte. Andernfalls wäre die „Jan Molsen" wohl nicht ausgelaufen. Es muss im Sommer 1953 gewesen sein, als ich meine erste kleine Seereise - 92 Seemeilen oder 170 Kilometer - nach dem „wieder deutschen" Helgoland unternahm und dabei erleben durfte, wie sich die große HAPAG-Barkasse bei Windstärke 9 oder gar 10 auf der Beaufortskala durch die Gischt kämpfte.

An Bord befand sich eine muntere Gesellschaft, weil in Hamburg ein landesweites Turn- und Sportfest gefeiert wurde: lauter kraftvolle Athleten in ihren Trikots, zumeist dem Südosten der damaligen BRD entstammend, prächtige Mannsbilder von der Art, wie Leni Riefenstahl germanomanische Olympioniken filmisch darstellte oder wie Theo Blank sich die Jünglingselite für seine künftige Truppe erträumen mochte. Als der Dampfer noch an den Landungsbrücken lag, übten sich diese Jünger Friedrich Ludwig Jahns in Handständen und Balanceakten auf der Reling, bewundert und beklatscht durch Girlies oder Groupies sowie ausgiebig von Fans fotografiert.

Mit all der Juxerei war aber spätestens Schluss, als an Steuerbord der Süllberg vorüber geglitten war und eine steife Brise sich - und uns - aufzuschaukeln begann und die „Jan Molsen" vom moderaten Dümpeln ins ruppige Krängen geriet. Da hingen die sportiven Jungmannen unakrobatisch über die Reling, während die etwas seefesteren Fotografen die Kontrastbilder zu ihrer Serie der „Sehenswürdigkeiten" schossen. Die letzte Mahlzeit dürfte übrigens vornehmlich aus Erbsensuppe bestanden haben, denn die ohnehin grün und weiß kolorierte Bordwand der Barkasse wurde von einem blassgrünen Erbsfilm überzogen und kleine grüne Hülsenfrüchte kugelten über das Deck - was beides eine Potenzierung derselben hervorrief.

Sollte der geneigte Leser (die geneigte Leserin) interessiert sein an meiner Befindlichkeit, so hatte ich ja von Opa, einem waschechten Hamburger, das probate Rezept verinnerlicht, stur auf den Horizont, nicht auf die Bewegungen von Schiff oder Wasser zu schauen und immer mit der Dünung, nicht gegen die Brandung zu denken. Das half so gut, dass ich über die Sprachverwandtschaft zwischen „turnen" und englisch „to turn" nachsinnen, aber eine
Verbindung zwischen der Flugbewegung „Turn" oder dem Wort „Turnus" und der Rotation von Eingeweiden ausschließen konnte. Als Krautsand vorübergezogen war, Kugelbake und Alte Liebe, schließlich die drei Feuerschiffe vor den Augen tanzten, wurde die Windsbraut vollends übermütig und übergab der Klabautermann das Szepter an die altgriechischen Meeresungeheuer Skilla und Charybdis. In dieser Situation trat der Smutje aus seiner Kombüse mit einem Teller dampfender Bratkartoffeln aufs Deck: „Ich darf doch hoffentlich hier frühstücken?" Für einen Protest waren die strapazierten Barkassen-Insassen schon längst zu schwach.

Den eigentlichen Härtetest, das Übersetzen bei hoher See mit den Börtebooten auf den roten Felsen oder, wie die Holunner, die dortigen Eingeborenen, gesagt hätten, auf „deät Lun" (das Land), erlebten die frisch-fromm-fröhlich-freien Turner gar nicht erst mit. Folglich gelangten die auch nicht an zollfreie Zigaretten und Spirituosen.

Und das war nun wieder echt sportlich!

Wer war...

Leni Riefenstahl (* 1902), Schauspielerin, Tänzerin und umstrittene Filmregisseurin - hat Mitte der 1930er Jahre mehrere als Propagandawerke bezeichnete Filme gedreht, bei denen sie auch selber aufgetreten ist,
Theo Blank (*1905) deutscher Politker (CDU) leitete als Sonderbeauftragter des damaligen Bundeskanzlers Adenauer das nach ihm benannte Amt Blank, das sich ausschließlich mit der zukünftigen Wiederbewaffnung Deutschlands beschäftigte.

Erläuterungen für unsere Leser, die nicht aus Norddeutschland kommen:

Süllberg - weithin sichtbare etwa 75 m hohe Erhebung am Elbufer in Höhe Blankenese
Krängen - Mit Krängen ist die seitliche Neigung eines Schiffes gemeint (unter Einfluss des Windes). Das Krängen bzw. die Krängung (d.h. die Schlagseite) erfolgt unter Einfluss des Windes natürlich immer nach Lee.
Krautsand - markante Elbinsel in der Ferienregion Altes Land zwischen Hamburg und Cuxhaven
Kugelbake - das Wahrzeichen der Stadt Cuxhaven ist ein aus Holz errichtetes 30m hohes Seezeichen, das früher den Seefahrern als Orientierungshilfe diente,
Alte Liebe - ist die stromseitige Begrenzung des Hafens in Cuxhaven am Elbefahrwasser, von wo aus man bequem die Seeschifffahrt auf der Elbe beobachten kann. Früher legten dort auch die Seebäderschiffe an. Den Namen bekam diese Stelle nach einem dort im 18. Jahrhundert untergegangenen Schiff namens Olivia, das von den Leuten einfach OLIV genannt wurde. O LIV entspricht phonetisch dem plattdeutschen ALTE LIEBE!
Börteboote - sind hochseetüchtige ca. zehn Meter lange Boote aus massivem Eichenholz. Sie werden im Sommer zum Personentransport, dem „Ausbooten“ zwischen den auf der Helgoländer Reede ankernden Seebäderschiffen und der Landungsbrücke eingesetzt, da nicht alle fast gleichzeitig ankommenden Seebäderschiffe in Helgoländer Hafen ankern können.
Helgoland (auf Helgoländer Friesisch: Deät Lun (das Land).

Recherche Fritz Schukat

 

Tiefschlaf

von Jürgen Hühnke

Es mochte zwar nicht eben der in den Sprüchen Salomonis berufene Schlaf des Gerechten sein, aber Peter konnte derart tief in Morpheus' Armen versinken, dass ihn aller Krach und Schlachtenlärm und jedweder GAU von Armageddon bis Tschernobyl und Fukuschima nicht daraus hätten reißen können.
Dieser Peter, zwei Jahre jünger als ich, war der Sohn meines Deutsch-Studienrats - oder auch nicht; denn eigentlich hatte dieser ihn adoptiert, als sich kein Nachwuchs hatte einstellen wollen. Später war dann doch noch ein Töchterlein entstanden und wurde mit denkbar wärmster Liebe überschüttet, was im Gegenzug die Streicheleinheiten für Peter gegen Null fahren ließ.

Der gänzliche Liebesentzug machte aus dem Jungen das, was man heute ein hyperaktives Kind nennt und mit Ritalin ruhig stellt. Er betätigte sich so lange als Klassenkasper und Störenfried, bis er, ungeachtet des väterlichen Status, wegen der Verwendung einer Stinkbombe im Unterricht vom Gymnasium relegiert wurde. Zur Sozialdisziplinierung steckten ihn die Noch-Eltern ins Berliner Johannesstift, wo man erst einen Tischler aus ihm machen wollte, es am Ende aber nur zu einem Heizer brachte. Immer wieder kniff er aus und trampte mit einem Brummi über die Transit Autobahn von Westberlin Richtung Heimat.

Zu Weihnachten 1956 reisten meine Braut und ich vom Studium heim nach Stade und nahmen hier einen kleinen Schleichweg zum Haus meines Großvaters von der Hauptstraße, die nach Bremervörde beziehungsweise Cuxhaven führte, zwischen der Kneipe von Conny Seemann und der Eisenbahnstrecke hindurch über ein Feld. Der kühle Abend brach gerade mit gefühlten 15 Grad minus herein, als wir ganz aus der Nähe den Pfiff mit Peters Erkennungsmelodie erklingen hörten.

Auf der Suche nach der Quelle des vertrauten Geräusches traten wir an ein kleines, äußerlich nicht erkennbares Erdloch, das in der Kriegszeit einmal Ein-Mann-Bunker oder Schützenloch gewesen sein musste. Aus einem schmalen Spalt kroch weißgrauer Qualm, den Peter mit gerupftem Dörrgras, wovon er zwei Büschel hatte pflücken können, unter Zuhilfenahme seines Feuerzeugs entzündet hatte, um nach Indianermanier Rauchzeichen zu geben, prompt gefolgt vom akustischen Signal eines starken Hustenreizes.

Bis auf besagten Spalt hatte der Bauer den alten Bunker verrammelt, zum Schutz vor der Belegung durch Jugendliche oder Strolche oder durch beides, und hatte schwere Eisenbahnschwellen durch Riesennägel per Vorschlaghammer miteinander haltbar als abschließende Barrikade befestigt. Das hatte nur mit etlichem Krach bewerkstelligt werden können, aber Peter hatte, wie er treuherzig kundgab, tief gepennt. Ich befreite ihn schließlich mittels eines Stemmeisens.

Was war geschehen? Der Junge hatte wieder einmal einen Brummifahrer bequatscht, ihn durch Ulbrichts Herrschaftsbereich, durch die „Zoffjetzone", wie Adenauer sie stets nannte, nach Westen zu bringen. Immerhin stand ja Weihnachten vor der Tür! Eben vor dieser fand sich Peter wieder, als er bei Studienrats geklingelt hatte, denen er zum Fest der Liebe nicht willkommen war.

Also spendierte ich dem Ausgesetzten erst einmal ein Bauernfrühstück bei Conny Seemann, wo er sich auch etwas aufwärmen konnte. Da Peter aber auch meiner Großmutter höchst unlieb war, musste er wohl oder übel erst einmal nach Westberlin zurückfahren.

Drei Jahre zuvor, im Sommer 1953, hatte sich Peter nicht minder intensiv dem Schlafe ergeben. Da war ich mit ihm im Abenddämmer die ländliche Gegend am Stadtrand abgegangen auf der Suche nach geeigneten Heuschobern und Strohdiemen. Deren hatten wir so einige gefunden.
Ich war mir also sicher oder hoffte es doch, ihn einigermaßen untergebracht haben zu können, und begab mich am nächsten Morgen wohlgemut auf Großvaters Baustelle.

Ja, Opa baute ein Haus für die ganze Familie. Er war rückwirkend zum Oberinspektor ernannt worden und hatte für zwanzig Jahre das ganze Gehalt ausbezahlt bekommen. Der Sachverhalt war einfach der, dass die Nazis ihn, den SPD-Senator der Hansestadt Stade, seines Postens enthoben hatten. Er war im Range eines Inspektors mit der kaufmännischen Leitung des Kreiskrankenhauses betraut gewesen. Nach heutigen Gepflogenheiten und Regelungen ist dergleichen die Aufgabe von Verwaltungsdirektoren. Aber um so viel Stufen wurde Opa nun doch nicht befördert und gehaltsmäßig entgolten.

Vielleicht lag es daran, dass wir beide, Opa und ich, uns mit den Ausschachtungsarbeiten abplagen mussten und kein Bagger bestellt wurde. Jedenfalls waren wir am nächsten Morgen schwitzend am Werk, als neben dem Bauernhof hundertzwanzig Meter weiter unten am Hang eine Grüne Minna aufkreuzte. Mir schwante schon etwas. Und tatsächlich trugen die vier Polizisten einen zutiefst schlafenden Mann, brettsteif, aus dem Hühnerstall, lebhaft gestikulierend von der Bäuerin dazu animiert.

Am Nachmittag meldete sich Peter fröhlich wieder. Wie lagt doch Psalm 127,2 - „Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf!" Wer schläft, sagt man auch, sündigt nicht. In Peters Ausweis war Stade als Wohnort eingetragen; also war er auch am äußersten Stadtrand weder als Land- noch als Stadtstreicher zu belangen!

Weniger erbaulich ging das Familiendrama zu Ende: Als Peter volljährig wurde, ließen die Rabeneltern die Adoption aufheben, der unehelich geborene Junge musste wieder den Zunamen seiner biologischen Mutter tragen.

 

Vom Stadtstreicher zum Millionär

von Jürgen Hühnke erstellt im April/Mai 2014

Peter, der Sohn meines Deutschlehrers, hätte das passende Objekt für eine sozialpsychologische Studie abgeben können, ebenso sein Vater die ideale Vorlage für die Untersuchung durch einen Bachelorstudenten der Erziehungswissenschaft: Mentale Defizite wiesen beide auf, pädagogische zumal.
Wer wollte auch behaupten, dass sich im Lehramt für Gymnasien allemal die wahren Pädagogen tummeln! Als Mann vom Fach werde ich das wohl mal in den Raum stellen dürfen, wo es dann bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag herumstehen wird.
Der Junge, so um die zwei Jahre jünger als ich, hängte sich schon früh auf der Penne an mich. Irgendwie muss ich so ein Streetworkertyp sein und ein Ruhepol für zappelige Nicht-Leistungsträger.
Naja, wie sagt man doch so populistisch:
Lehrers Kind und Pastors Vieh
gedeihen selten oder nie!
Als Peter so richtig in die Lümmeljahre hineingewachsen war, holte er sich wegen des Verbreitens von Buttersäure während einer Schulfeier in der Aula die Relegation, aber richtig - hat doch beim Fußball der sogenannte Relegationsplatz noch eine aufschiebende Wirkung, in der Schule folgt das Unglück auf dem Fuße.
Gehen wir der Sache einmal auf den Grund, die wir gewohnt sind, immer alles psychologisch zu betrachten. Wir singen ja alle ständig die Psychiaterhymne, Paul Gerhardts schönes Lied: „Geh aus, mein Herz, und suche ... Freud! Jeder Richter schmilzt dahin, wenn der Verteidiger die Jugend seines Klienten in den düstersten Farben ausmalt. Und da ergibt sich nun für Peter folgendes:
Er hatte nämlich eine Schwester, oder hatte sie auch nicht. Das elterliche Ehepaar hatte ihn adoptiert, bis dann doch noch ein Treffer gelang, woraufhin der Knabe abgeschoben wurde und, wie wir uns denken können, so seine Sperenzchen bis hin zum Buttersäure-Attentat machte.
Die Folge war eine Überstellung des Kindes nach Westberlin in ein evangelisches Erziehungsstift mit Berufsausbildung. Erst wollte man ihn dort zum Tischler machen, doch am Ende blieb ein Heizer.
Aus der „Frontstadt" büxte Peter mehrfach aus und trampte mit Brummis über die Interzonenautobahn heim nach Stade. So kam er , im Juli 1954 war das, eines Abends unter mein Fenster und pfiff seine Erkennungsmelodie: Die Eltern hatten ihn daheim nicht ins Haus gelassen. Also suchten wir auf den Feldern nach Strohdiemen zum Übernachten. Als ich jedoch am nächsten Morgen mit meinem Großvater unser künftiges Haus ausschachtete, kam ein Polizeiwagen angerollt, hielt in der Nähe vor dem Hühnerstall eines Bauernhofes, und stocksteif wurde aus dem Kabuff mein Freund Peter gezogen. Am Nachmittag spazierte er, munter pfeifend, wieder zu mir und verriet fröhlich: „Die konnten mir nichts. Ich bin ja in Stade gemeldet und hier deshalb kein Stadtstreicher!" Woher der immer wieder die frohe Laune nahm, ist schon verblüffend.
Und noch einmal schob der Vater den missratenen Sprössling nach Westberlin ab, weiter in die Heizerlehre. Zwei, drei Jahre gingen ins Land.
Im Winter 1957, kurz vor Weihnachten, hatte er wieder einmal den Drang nach Hause - oder auch zu mir. Da war ich aber Student in Hamburg doch zum Fest auf dem Weg zur Familie. Meine Verlobte und ich nahmen einen Umweg über ein Feld und sahen dunklen Rauch aus dem Boden quellen, nicht als Indianersignal, wie sich herausstellte, sondern als Ergebnis eines Wärmefeuers; denn Peter saß da in einem alten, kleinen Weltkrieg-II-Bunker, mit schweren Eisenbahnbohlen verbarrikadiert und überdies noch vernagelt. Peter hockte dort in einem Gefängnis, hustend vor Rauch!

Durch den Spalt, der den Heufeuerqualm entließ, drang sein altbekannter Pfiff nur mehr sehr dünn. Er war wenigstens nicht eingeschlafen wie seinerzeit im Hühnerstall. Gegen Mittag hatte der Bauer beim Gang über seine Felder - der Schleichweg wurde sonst fast nicht benutzt - den Qualm von Peters Kokelei bemerkt und den Bunker, in dem immer wieder Jugendliche unterkrochen, mit den Eisenbahnschwellen verschlossen, woraufhin Peter so gut wie tödlich gefangen war und nur das zufällige Glück hatte, dass. meine Braut und ich besagten Schleichweg zu Großvaters Haus einschlugen. Nach kurzer Besichtigung des Tatorts eilte ich in den mit Handwerkszeug gut bestückten Keller, griff mir einen Kuhfuß und brach den vernagelten Bohlenkerker auf.

Da hatte mein Sorgenkind Peter doch wieder einmal das Heimweh gepackt und die Lust am Trampen über die Transitautobahn. Seine Hoffnung auf das Fest der Liebe hatte ihn aber getrogen, der Vater warf ihn rundweg hinaus in die Kälte und verkündete ihm, das Adoptionsverhätnis werde demnächst amtlich gelöst, da der Junge des elterlichen Namens nicht länger würdig sei und den Mädchennamen seiner ledigen Gebärerin wieder annehmen müsse.

Peters weitere „Karriere" ist schnell umrissen: Da Heizer kaum gebraucht werden, gab es lange nur Gelegenheitsarbeiten für ihn, bis er in Frankfurt/M. bei Neckermann als Brummifahrer anheuern konnte.
Dabei wurde er Millionär. Oh nein, nicht wie sonst die Tellerwäscher in den altbewährten Kapitalistenmärchen - ihm widerfuhr vielmehr eine real gewordene Zauberstory - er traf bei Neckermann auf eine Brummi-Kollegin, die Tochter eines reichen Bäckers in der Main-Metropole, die etliche City-Mietshäuser in die Ehe einbrachte.
Als er vor kurzem starb, lebten beide als Rentnerehepaar in bevorzugter Wohnlage im Taunus und reisten viel in der Weltgeschichte herum. Ich will nicht entscheiden, ob darin nun Kompensation lag oder der Nomadendrang der Brummifahrer oder aber des Transittrampers.

Nachwuchs leisteten sie sich nicht. Schließlich war Peter ein gebranntes Kind.
Halt, halt, ich vergaloppiere mich. Nein, lieber mal nicht psychologisieren! Immerhin hatte Peter auch nicht annähernd so etwas wie depressive Zustände. Wie geschildert, durchlief er sein Leben frohgemut pfeifend und unbeschwert vergnügt. Als Mackie Messer der Frankfurter Mietimmobilien war er zwar knallharter Kapitalist, im persönlichen Umgang aber manchmal sogar spendabel.

Also jammern wir nicht über die verkorkste Jugendzeit und lassen einmal überhaupt den ganzen freudlosen Freud!

 

Tempo, Tempo . . . . .

In der Schleuse 

Von Uwe Neveling, Finnland 1966

Das Schleusentor stand offen. Vor uns waren kleinere Boote und einer dieser kräftigen Schlepper, die die über hundert Meter langen Holzflöße durch Seen, Flüsse und Kanäle zogen, in die Schleuse gefahren. Einige wenige Paddelschläge, und wir erreichten den hinteren Teil der Schleusenkammer. Das Tor wurde geschlossen, und der Wasserspiegel senkte sich gleichmäßig. Dann öffnete sich das vordere Schleusentor, die Boote verließen die Schleuse, wir als die Letzten.

Wir waren nicht das erste Mal geschleust worden. Die ersten Male war es noch ungewöhnlich, und wir schauten uns Hilfe suchend um. Inzwischen hatten wir uns zu Schleusenprofis entwickelt. Der hintere Teil der Kammer war unser bevorzugter Aufenthaltsort. Während man vorne mit einem starken Sog rechnen musste, konnten wir hinten den Vorwärtssog leicht ausgleichen. Wir verließen die Schleuse und paddelten weiter unterhalb ans Ufer und sahen uns die Stelle an, die umschleust werden musste. Sie sah gar nicht so gefährlich aus. Es war eine kräftige Strömung, die allerdings stark verblockt war. Der Wasserstrom zerbrach an den Felsbrocken, türmte sich hoch, fiel wieder zurück, große und feine Wassertropfen versprühten in der warmen Luft. Im Sonnenschein funkelten die Wasserfontänen in den Farben eines Regenbogens.

In der Mitte des Flusses schien es eine felsenfreie Durchfahrt zu geben. Das Wasser schoss dort ungebremst durch. Otto sah mich an. „Das müsste zu schaffen sein“ meinte er. Damit deutete er an, dass wir mit unseren Booten durch diesen Engpass flussaufwärts fahren könnten. Auch Margot war für den Versuch und stieg sogleich zu Otto in den Aerius-Zweier. Ich kletterte nun auch in meinen Erbacher-Einer, griff zum Paddel und begab mich in die Startposition. Neben mir, in einem Abstand von drei Metern, lag das Boot von Otto und Margot. Und dann ging es los. Ich konzentrierte mich voll auf meinen Versuch. Erst langsam, dann immer schneller, tauchte ich das Paddel in das feuchte Element, zog ich es mit aller Kraft zu mir her und drückte gleichzeitig den in der Luft befindlichen Teil von mir weg. Mein Boot stürmte vorwärts. An meinem Boot sah ich den Wasserstrom immer schneller vorüber ziehen. Ich erhöhte das Tempo. Im Sekundentakt verschwanden die Paddelblätter im Wasser. „Tempo, Tempo“ feuerte ich mich an und erhöhte die Schlagzahl immer mehr bis ich nicht mehr konnte. Ich blickte auf. Ich hatte mich kaum von der Stelle bewegt. Die schnelle Strömung hatte mir nur eine Vorwärtsbewegung vorgegaukelt. Auch das Zweierboot war nicht von der Stelle gekommen. Mit Tempo, Tempo war eine Bergauffahrt nicht zu schaffen.

Wir ließen es bei einem Versuch. Wir hätten etwas versäumt, wenn wir es nicht getan hätten. Es ist immer gut, die eigene Leistungsgrenze zu erkennen. Einsichten sind Ankergründe unseres Daseins. Sie geben uns den notwendigen Halt. Man weiß, was man sich zumuten kann und teilt sich das Leben danach ein. Es geht dann alles viel leichter von der Hand.

 

Blitz und Donner und die Jugendherbergen

Von Uwe Neveling

Ottokar, Manfred und ich sind wieder einmal unterwegs. Natürlich mit unseren Fahrrädern. Wir kommen von der Insel Wangerooge. Vor drei Wochen sind wir in unsere Schulferien gestartet. Das Ruhrgebiet ist unser zu Hause. Die Fahrt in den Norden bedeutet für uns Abenteuer pur. Über Bielefeld, Hoya, Bad Zwischenahn haben wir Carolinensiel angesteuert. Übernachtet wurde jeweils in Jugendherbergen. Wir ließen uns dann nach Wangerooge übersetzen. Eine Woche waren wir auf der Insel. Die Jugendherberge war ausgebucht, und so mussten wir in einem Großzelt auf Feldbetten übernachten. Zwanzig Schläfer in einem Zelt! Da kam Stimmung auf. Wir haben den Aufenthalt aber dennoch genossen. Wir waren das erste Mal an der Küste und ließen uns die salzige Meerluft um die Nase wehen. Jetzt sind wir auf der Rückfahrt.
Wir fahren nach Emden. Wenn wir schon in Norddeutschland sind, dann wollen wir die größeren Ansiedlungen aufsuchen. Zumindest die, von denen wir in unseren Schulbüchern lesen konnten. Wir fahren parallel zur Küste in westlicher Richtung und passieren Esens und Norden. In Norden haben wir uns die große Radio-Funk-Station angesehen. Die kennen wir aus dem Radio, wenn jedes Jahr die Weihnachtsgrüße an die Seeleute übermittelt werden. Norddeich-Radio ist uns ein Begriff.
Am späten Nachmittag erreichen wir Emden. In der Jugendherberge finden wir unser Nachtquartier. Gleich in der Nähe ist ein Freibad. Das Wasser soll dort sehr gesund sein. Es ist moorbraun gefärbt. Wir schwimmen einige Bahnen und genießen dazwischen die Ruhepausen. Wir haben auch schon Pläne für morgen. Wir wollen eine Schiffswerft besichtigen.
Am nächsten Tag bitten wir um eine Werksführung bei einer Schiffswerft. Man ist offensichtlich erfreut, dass sich junge Leute für den Beruf des Schiffsbauers interessieren und zeigt uns bereitwillig einen halbfertigen Schiffsneubau. Es ist ein kleines Schiff, ein Küstenmotorschiff. Ein junger Mann – der nicht viel älter ist als wir – führt uns durch die Werkshalle. Er beantwortet unsere Fragen bereitwillig. Nach einer Stunde verabschieden wir uns. Man kennt uns nicht und ist ausgesprochen freundlich und entgegenkommend mit uns umgegangen. Das beeindruckt unser junges Gemüt.
Über Leer wollen wir nach Bremen. Der Himmel hat sich bezogen. Bei Sonnenaufgang ist der Himmel noch klar gewesen. Wir fahren ruhig und gelassen unserem Ziel entgegen. In der Ferne hören wir ein dumpfes Grummeln, das wir nicht weiter beachten. Wir erfreuen uns an der sauberen Landschaft mit ihren vielen Kanälen. Das kennen wir von zu Hause nicht. Die Luft im Ruhrgebiet ist staubig. Das sind wir gewohnt und denken uns nichts dabei. Es ist eben Heimatluft. Erst wenn man die klare Seeluft atmet, erkennt man, was man nicht hat. Wir freuen uns aber dennoch auf die dreckige Heimatluft. So sind die Menschen aus dem Ruhrgebiet eben.
Es kommt Wind auf. Das kennt jeder Radfahrer. Wind kommt immer von vorne. Am Horizont ziehen dunkle Wolken auf. Gelegentlich blitzt es. Erst viel später hört man den Donner. Schon seit vielen Kilometern fahren wir neben einer Bahntrasse. Durch den starken Wind geraten die Telegrafendrähte in Schwingungen und geben surrende Laute von sich. Das Gewitter kommt direkt auf uns zu. Vor uns türmt sich eine mächtige Gewitterwand auf, hinter uns ist dagegen alles friedlich. Ein Zurück gibt es für uns nicht. Wir treten kräftig in die Pedalen und versuchen einen trockenen Unterstand zu erreichen. Doch da ist nichts, außer Bahndamm, Telegrafenmasten und baumlose Felder. Die Straßenbäume sind als Unterstand nicht geeignet. Das Gewitter ist jetzt genau über uns. Auf Blitz folgt sofort der Donner. Die ersten schweren Regentropfen treffen uns. Danach schüttet es wie aus Kübeln. Im Regenschleier können wir ein Ortsschild erkennen. Da steht LEER drauf. Die Straße macht jetzt einen Bogen nach links. Wir wollen die Bahngleise überqueren. Die Schranken schaukeln und klirren im Gewittersturm. Über uns schwingen die Telefondrähte wild hin und her. Dann kracht es fürchterlich. Der Blitz ist in dem Drahtwirrwarr eingeschlagen. Der anschließende Donnerschlag und die Luftturbulenzen schmeißen uns von den Rädern. Wir rappeln uns auf. Jetzt heißt es: Fahrradschieben. Es ist unmöglich, in dem Unwetter wieder aufzusteigen.
Das Wetter scheint sich mit dem erlebten Donnerschlag allmählich zu beruhigen. Es wird wieder heller, der Wind lässt nach. Wir drei sehen aus wie begossene Pudel. So fühlen wir uns auch. Dazu kommt noch der Schreck, der uns in den Knochen sitzt. Die nasse Kleidung lässt uns frieren. So können wir nicht weiterfahren. Wir suchen die Jugendherberge auf. Sie ist ganz in der Nähe unseres Gewitterschlags. Es ist ein ehemaliger Wasserturm. Hier bleiben wir, obwohl es erst Mittag ist. An eine Weiterfahrt nach Bremen ist heute nicht mehr zu denken.
Wir erinnern uns gerne an die Übernachtungen in den Jugendherbergen. Wir waren damals nur zu Dritt, und man hatte uns vom Küchendienst befreit. Wir sind auch immer sehr früh am Morgen aufgebrochen. Es lohnte sich offenbar nicht, das bis dahin angesammelte schmutzige Geschirr zu reinigen. Das müssen dann wohl die größeren Gruppen, die nach uns frühstückten, für uns erledigt haben. Wir waren nur Übernachtungsgäste. Man hatte  uns daher keine Hausarbeiten zugemutet.

 

Meine Fahrt nach Estland

Vorlesen lassen

 

Gibt es heute noch Wunder? Erhört Gott noch in unserer Zeit Gebete?
Wenn man diese Geschichte liest, mag man wirklich glauben, dass es auch heutzutage noch Wunder gibt. Unser Autor hat in dieser spannenden kleinen Geschichte aufgeschrieben, welche Erfahrungen er auf einer Reise nach Estland machte.

von Walter Bosniakowski aufgeschrieben im April 2012

Mit einem meiner Freude wollten wir im Frühjahr 2000 Hilfsgüter, die wir in unserem Ort gesammelt hatten, nach Estland transportieren. Dafür hatten wir uns einen 7,5 t LKW geliehen und fuhren damit durch Dänemark und Schweden, wo wir in Stockholm eine Fähre nach Tallin gebucht hatten. Mit 2 Übernachtungen in Jugendherbergen klappte die Fahrt bis Stockholm ganz gut.

Doch nun kommt's. Wir reihten uns mit den anderen, meist viel größeren LKW zur Verladung ein. Als wir da so standen, fuhr ein Mann langsam mit dem Fahrrad an der Kolonne vorbei, blieb stehen und erklärte uns, dass wir mit unserem Fahrzeug nicht auf die Fähre dürften, da bei unserem LKW die Vorrichtung für eine Befestigung zum Schiffsboden fehlt. Nach einigen Verhandlungen hatte er uns zugesagt, dass wir am nächsten Tag einen Platz auf einer Fähre nach Tallin bekommen, vorausgesetzt, dass die entsprechenden Ösen am Fahrzeug für eine Vertauung vorhanden wären. Für 500 DM könnte er uns einen Handwerker besorgen, der uns die Ösen am nächsten Tag anbringen würde. Da wir keine andere Möglichkeit sahen, stimmten wir dem zu und fuhren erst einmal von der Verladestelle weg. Dabei entdeckte mein Begleiter im Hafen die schwedischen Eisbrecher, die aber durch einen hohen Drahtzaun für uns nicht zugänglich waren. Mein Freund meinte nämlich, das sind Handwerker, die könnten uns helfen. So stellte er sich an den Zaun und entdeckte einen Uniformierten, dem er zuwinkte. Mit Erfolg! Es war der Kapitän persönlich. Dem hat er unser Problem erzählt. Doch da es schon Wochenende war, hatte er nur eine kleine Notbesatzung an Bord und bedauerte, uns nicht helfen zu können. So fuhren wir weiter an einen ruhigen Ort im Hafen und schliefen die Nacht in unserem Fahrzeug, mehr schlecht als recht. Als ich so im wachen Zustand nachdachte, wozu das alles, unsere Zeit, unser Geld für die Fahrtkosten, noch dazu die 500 DM extra für die Befestigung, da fing ich an zu beten und habe Gott unser Problem gesagt.

 

Hilfsgüter auf dem Weg nach Estland 

 

Die Sonne ging auf und kurze Zeit später kam der Kapitän (der uns auf dem Gelände gesucht hatte) mit der guten Nachricht, dass der Schiffsingenieur gekommen sei und uns die erforderlichen Ösen anbringen könne. Wie waren wir da froh und dankten Gott für diese gute Nachricht.So hatten wir schon bis Mittag die erforderlichen Teile am Fahrzeug. Eine Bezahlung wollte man nicht haben, sondern man lud uns noch zu einem Mittagessen aufs Schiff ein. Die Fahrt mit der großen Fähre von Stockholm durch die vielen Schären hindurch war für mich ein besonderes Erlebnis. Sonntag früh sind wir in Tallin gut angekommen und hatten noch eine Stunde Autofahrt zu unserem Zielort. Dort wartete schon eine Gruppe junger Leute zum Abladen der zum Teil sehr schweren Waren.

Nun das zweite Problem: Die Ware musste erst noch vom nächsten Zollamt zur Abladung freigegeben werden, doch am Sonntag war das Zollamt geschlossen! Die jungen Menschen sagten, wir beten einfach und sagen unser Anliegen Jesus Christus. Das taten wir dann auch gemeinsam.

Kurze Zeit danach rief eine Frau aus unserer Gruppe beim Zollamt an, und zu unserer Überraschung meldete sich ein Herr aus dem Amt, er wäre gerade in sein Arbeitszimmer gekommen, um etwas von seinem Schreibtisch zu holen. Fernmündlich gab er uns die Genehmigung, auch ohne eine Besichtigung der Ladung, die Waren abzuladen.

Gott tut Wunder und erhört Gebete! Das war für uns wieder einmal eine gute Erfahrung.
Die Rückfahrt über Lettland, Litauen und Polen nach Hause, verlief ohne Schwierigkeiten.

 

Im Strom des Lebens

von Uwe Neveling

„Ich nehme einen kleinen Schluck. Sanft umspielt die Flüssigkeit meine Zunge und meinen Gaumen. Die Geschmacksknospen meiner Zunge blühen auf. Der Geschmack ist milde. Nur nicht gleich runter schlucken, denke ich. Allmählich wird die Flüssigkeit in meinem Mund wärmer, und ich lasse sie langsam durch meine Kehle rinnen. Sie kratzt nicht und landet wohltemperiert in meinem Magen. Dort verstärkt sich das Wärmegefühl auf angenehme Weise. Die gesamte Wegstrecke vom Mund bis zum Magen scheint feierlich gestimmt zu sein. Es ist so, als würden die Geschmacksnerven Fähnchen schwingend einem hohen Gast zujubeln. Erst ganz allmählich verschwindet das wohlige Gefühl in der Magengegend und verlangt nach Nachschub. Ich schicke einen weiteren willkommenen Gast auf den Weg. Das Erlebnis ist wie bereits zuvor umwerfend schön. Ich trinke jetzt Schluck für Schluck – aber mit Verstand – mein Glas leer.“

Was trank ich und wo war ich? Beginnen wir mit dem Wo. Ich war in Schottland in einem kleinen Ort in der Nähe von Inverness gelandet. In der Ferne hörte ich das Meer rauschen. Es ist die Nordsee. Es war später Abend. Durch eine schmale Tür hatte ich den Pub betreten. Der Raum war nicht sonderlich groß. Er war länglich. Die Tische und Stühle waren besetzt. Die lange Theke fiel sofort ins Auge. Vor dem Tresen gab es nur noch in der zweiten Reihe Platz. Mit anderen Worten, die Lokalität konnte man wegen Überfüllung eigentlich schließen. Da kennt man die Schotten aber schlecht. Für sie ist immer noch Raum in der vollsten Hütte. Der Flachbildschirm an der Wand rechts vom Tresen irritierte etwas. Es flimmerte ein trostloses Rugby-Spiel über den Schirm. Keiner sah richtig hin, hören konnte man ohnehin nichts. Es war viel zu laut. Hinter dem Tresen versuchte der Schankmeister den Bestellungen Herr zu werden. Unter anderem auch meiner. Ich hatte bei ihm – und jetzt kommen wir zum Was – Whisky bestellt.

Ich bin kein Whisky-Kenner. Ich weiß aber aus Erzählungen, dass der Maltwhisky der beste sein soll. Malt kommt aus einer einzigen Destillerie und ist nicht gemixt wie die Blends. Die meisten Whiskys sind gemixt, nur wenige werden als Malt angeboten und sind dann auch entsprechend teuer. Geröstete Gerstenkeimlinge, heißes Wasser, Hefe und Zucker sind die Grundbestandteile dieses edlen Getränks. Der Zucker wird aus der Gerste gelöst und durch die Hefe in Alkohol umgewandelt. Aus dem richtigen Wasser wird ein Geheimnis gemacht. In den Highlands nimmt man gern vom Torf braun gefärbtes Bachwasser. Die eigentliche goldene Färbung erhält der Trank aber erst durch die Lagerung in alten Eichenfässern. Die Lagerzeit beträgt mindestens zwölf Jahre. Dann kann man ihn trinken. Je länger die Lagerzeit ist, umso wertvoller und schmackhafter ist er. Gelagert wird er in großen länglichen Schuppen, die man auch als Schlafzimmer bezeichnet. Durch geschickt angebrachte Lüftungen bleibt die Temperatur konstant. Die Fässer sind schwach luftdurchlässig. Die Verdunstung des eingelagerten Whiskys ist minimal. Dieser Anteil ist für die Engel bestimmt, so sagt man. Wenn was raus geht, geht auch wieder was rein, nämlich Luft, würzige Luft. Der Whisky erhält dadurch seinen Wohlgeschmack von Seeluft und Salzwasser.

Ist es dann ein Wunder, dass man Whisky das Wasser des Lebens nennt? Ich hatte mir vorgenommen, an dem Abend in diesem Strom des Lebens zu baden. Und ich hatte am nächsten Morgen noch nicht einmal Kopfschmerzen. Was für Engel gut ist, was also für die Himmelsbewohner gut ist, kann für Erdenbürger nicht schädlich sein. Das kann ich bestätigen, mein Schutzengel ist mein Zeuge.

 

Unsere erste Urlaubsreise!

von Edith Kollecker

Mein damaliger Freund und späterer Ehemann Ernst kaufte sich zusammen mit seinem ein Jahr älteren Bruder ein Motorrad. Es war das Jahr 1953. Bis dahin gingen wir jeden Sonnabend zu Fuß von Ellerau nach Quickborn ins Kino, egal was gespielt wurde, man hatte ja sonst nichts vor. Nun war für uns ein neues Zeitalter angebrochen. Jedes 2. Wochenende stand das Motorrad, es war eine Horex Regina 350, uns zur Verfügung. Es wurde auch voll ausgeschöpft: Ins Kino sowieso, es wurde manchmal aber auch zweimal gefahren, damit die Brüder von Ernst, drei an der Zahl, auch in den Genuss kamen, nicht mehr die Strecke zu Fuß gehen zu müssen. Sobald das Wetter es zuließ, wurden kleinere Fahrten unternommen.

Unsere erste große Reise war 1955 an den Bodensee. Das Einzige, was ich mir leisten konnte, war eine Motorradbrille. Sonst war nur Alltägliches angesagt: Kopftuch, Kleid und Kniestrümpfe. Ernst hatte sich außer der Brille eine Lederkappe und Lederjacke gekauft. Unsere Gegenstände, die wir mit Müh und Not unterbringen konnten, waren ein kleines Pappköfferchen, welches uns später als Tisch dienen sollte, etwas Waschzeug, ein paar Kleidungsstücke, Badesachen und für jeden ein Besteck. Das kleine geliehene Spitzdachzelt und die Waschschüssel wurden hinten gut befestigt. Leider hatten wir die Schüssel in kürzester Zeit verloren, deshalb suchten wir uns zum Übernachten ein Plätzchen in der Nähe eines Baches und der Autobahn. Aus Angst, dass uns das Fahrzeug geklaut werden könnte, hat Ernst es sich ans Bein gebunden. Nach dem Tanken am nächsten Morgen wollte das Motorrad nicht anspringen, nach mehrmaligem Treten des Kickstarters saß ich ab, um ihm mehr Freiraum zu geben. Das hatte Ernst nicht mitgekriegt und fuhr mir einfach davon. Nach ein paar Kilometern hatte er es gemerkt, kam zurück und holte das vor Angst zitternde Mädchen wieder ab. Gott sei Dank war es noch an der Autobahn. Am Bodensee, in Radolfzell, fanden wir auch gleich einen schönen Platz. In einer Mulde unter einem Baum wurde das Zelt aufgebaut, was sich auch als schwierig erwies, denn es fehlte so manches Teil. Trotzdem haben wir zwei schöne Tage verlebt, bis ein heftiges Gewitter das zunichte machte. In kürzester Zeit war unsere Mulde voll Wasser und wir mitsamt dem Zelt mittendrin. Nun war uns die Lust am Zelten vergangen, wir packten unsere Sachen und fuhren in Richtung Heimat. Wir haben dann im Schafstall übernachtet, weil das Zelt so nass war. Später, inzwischen erfahrener und geübter, haben wir noch etliche schöne Urlaube mit unserer Horex gemacht.

 

Kinderlandverschickung

von Wilma Berg

Im Frühjahr 1942 fuhr ich mit vielen Schülerinnen aus dem Kreis Pinneberg in die Kinderlandverschickung nach Niederösterreich. Eine Schulkameradin aus meiner Klasse fuhr mit. Ich habe erst mal im Zug schön lange geweint. Ich war damals 11 Jahre alt und noch nie von zu Hause weg gewesen. Aber nachher war es doch sehr schön. Wir hatten eine sehr nette Lehrerin, die uns begleitet hat und auch unterrichtete. Leider wurde sie krank und musste zurück und wir bekamen eine andere Lehrerin. Ich kann mich daran erinnern, dass sie tiefschwarze Haare hatte. Aber irgendwie bildete sich vorne ein grauer Halbkreis, sie fuhr kurz weg und war wieder schwarz. Ich hatte keine Ahnung vom Haarefärben. Aber die etwas älteren Mädel waren erfahrener und erklärten mir das dann. Wir waren zwischen 11 und 15 Jahre alt.

Am zweiten Wochenende durften wir zum ersten Mal allein eine kleine Tour machen. Leider hatten sich einige ältere Mädel in eine Felswand gewagt, um ein Edelweiß zu pflücken. Natürlich endete es mit einem Sturz und Armbruch. Da hieß es zur Strafe Rückreise. Es war uns strengstens verboten, vom Weg abzugehen.

Mittags wurde immer ein kleiner Spruch aufgesagt. Jeder kam dran. „Jetzt wollen wir futtern wie daheim bei Muttern“, war sehr beliebt. Das Essen war eigentlich ganz gut. Nur einmal haben wir gestreikt. Es sollte Spinat geben, wir hatten aber gesehen, dass unsere Küchenfee Brennnesseln im Garten gepflückt hat. Die wollten wir nicht essen.

Sehr schöne Ausfahrten haben wir gemacht. Mit der Kabinenbahn auf die Rax, auf den Semmering und zum Rudern nach Reichenbach auf den Kurbadsee. Immer in Begleitung von zwei jungen Frauen, einem GD-Mädel (Gesundheitsdienst) und einer Gruppenführerin (beide ca. 20 Jahre alt).

Ein besonderes Erlebnis war für mich eine Fahrt nach Wien zu meinem Vater, der dort eine kurze Zeit stationiert war. Ich wurde mit der Bahn hingebracht. Mein Vater und ich waren im Prater und sind Riesenrad gefahren und vieles mehr. Es waren zwei schöne Tage. Dann wurde ich wieder abgeholt.

Am Lager waren alle Kinder draußen, es war ganz dunkel und in den Hecken waren viele, viele Glühwürmchen. So etwas habe ich nur einmal in Bayern vor drei Jahren wieder gesehen, aber viel weniger.

Meine Schwester, 2 Jahre älter als ich, konnte mit mir nicht viel anfangen. Wir verstanden uns nicht, aber als ich weg war, bekam ich die schönsten und längsten Briefe, und später dann verstanden wir uns sehr gut.

Die Trennung musste nach einem halben Jahr sein. Ein paar Bilder von der Lagerzeit habe ich noch, aber viele Namen habe ich vergessen, ist ja auch lange her, 66 Jahre! Als wir in Hamburg ankamen, wurde das Lied „Stadt Hamburg an der Elbe Auen“ gespielt. Das kannte ich nicht, aber heute kann ich es mitsingen. Alle Mütter standen am Bahnsteig und nahmen uns in den Arm. Endlich wieder in Hasloh.

Es war eine interessante Zeit.

 

Ein Wiedersehen mit der alten Heimat

von Sigrid Gehrken, 01.12.2007

Der Wunsch, meine Heimat noch einmal zu sehen und an den Ort zurückzukehren, in dem ich geboren wurde, wuchs in mir und wurde immer stärker. Mir war klar, dass es ein Abschied für immer werden würde, und so machten wir uns, mein Bruder, der leider inzwischen verstorben ist, meine Schwester und ich auf die Reise. Zunächst fuhren wir bis Hirschberg, dem heutigen Jelenia-Gora. Hirschberg war eine Kreisstadt im ehemaligen Niederschlesien am Fuße der Schneekoppe, da wo die Elbe entspringt. In Hirschberg hatten wir Zimmer gebucht. Von dort aus unternahmen wir unsere Touren. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit.

Am ersten Tag sind wir nach Giersdorf gefahren, der Ort, an dem wir zur Welt gekommen sind. Unser Geburtshaus existiert noch, allerdings konnten wir es nur von außen sehen, da es bewohnt ist. Dann fuhren wir noch einmal die Strecke ab, auf der wir 1945 mit dem Treck auf der Flucht vor den Russen waren. Wir hatten es damals leider nicht geschafft, bis in den Westen zu kommen. In Jakobstal holten uns die Russen ein und trieben uns wieder zurück.

Eine weitere Tour führte uns nach Agnetendorf. Dort hatten meine Großeltern väterlicherseits eine Schlachterei und ein kleines Fuhrgeschäft. Das Riesengebirge war damals schon ein beliebtes Ferienziel. Mein Großvater holte sehr oft die Gäste von der Bahn ab und brachte sie in ihre Ferienquartiere. Dann haben wir das „Haus Wiesenstein", ehemaliger Besitz des Dichters und Dramatikers Gerhart Hauptmann, besichtigt. Gerhart Hauptmann war ein guter Kunde meiner Großeltern, was so weit ging, dass er immer einen ganzen rohen Schinken, den mein Großvater selbst herstellte, nach Hiddensee mitnahm, wo er den Sommer über lebte. Wir haben noch mehrere Touren unternommen, unter anderen zur Kirche Wang und nach Bad Warmbrunn. Wir sind dann über Dresden wieder zurückgefahren.

Anhang
Gerhart Hauptmann wollte, wie in jedem Jahr, auf die Insel Hiddensee fahren, wo er die Sommermonate in seinem Haus verlebte. Und wie jedes Jahr durfte in seinem Gepäck besagter Schinken nicht fehlen. Einmal hatte mein Opa aus Gründen, die sich meiner Kenntnis entziehen, keinen Schinken da. Mein Opa wollte Gerhart Hauptmann aber nicht enttäuschen und besorgte einen anderen Schinken, was er aber verschwieg. Der Sommer war vorbei und als Gerhart Hauptmann wieder nach Agnetendorf in seine „Villa Wiesenstein" zurückkehrte, sagte er zu meinem Opa: „Herr Günther, das war nicht Ihr Schinken! Bitte sagen Sie mir, wenn Sie keinen Schinken haben!" Das gute Verhältnis hat zur Freude meines Opas nicht darunter gelitten, und die nächsten Schinken kamen wieder aus der eigener Schlachterei!

 

Lüneburg, den 24.12.1944

von Ingeborg Eva Witt

Eine furchtbare Fahrt in den Westen liegt hinter mir. Furchtbar die Reise und noch schrecklicher, dass alles umsonst war. Ich habe meinen Mann nicht mehr getroffen.

Ich bekam Anfang Dezember 1944 einen Brief von ihm darin stand, wenn ich ihn noch einmal vor dem Fronteinsatz sehen wolle, sollte ich zu ihm nach Schleiden, einer Kleinstadt in der Eifel, kommen. Von dort sollten sie demnächst wieder an die Front, in der Nähe von Eupen Malmedy.

Ich reichte bei meiner Dienststelle Urlaub ein. Er wurde jedoch nicht genehmigt. Ich hätte von dem Kompanieführer meines Mannes ein Schreiben beibringen sollen, dass ich ihn besuchen dürfte, erklärte mir der Kreisgruppenführer. Er saß vor mir und sagte, dass seine Tochter ebenfalls zu ihrem Mann in den Westen fahren würde, aber ihr Mann wäre Kompanieführer. Darauf entgegnete ich, dass mein Mann auch Kompanieführer sei. Diese Bemerkung sollte noch schlimme Folgen haben.

In einem seiner letzten Briefe von der Westfront stand, dass seine Kompanie sehr große Verluste gehabt hätte, sein Kompanieführer gefallen wäre und mein Mann - Feldwebel - nun die Kompanie mit den wenigen Leuten zu führen habe. Ich hatte also nicht gelogen. Aber dieser Kreisgruppenleiter war bekannt für seine unmenschlichen oder sadistisch angehauchten Methoden, mit seinen Untergebenen umzugehen - ich sehe heute noch sein zynisches Grinsen vor mir!

Mich packte die Wut und ich beschloss, doch die Fahrt in den Westen zu machen. Ich brauchte eine Fahrkarte bis Euskirchen. Man bekam zu der Zeit als Zivilist aber nur Fahrkarten mit Einverständnis der Partei. Ich war damals im Büro der Kreisfrauenschaft tätig, nahm einen amtlichen Briefbogen und schrieb mit der Schreibmaschine die Erlaubnis zum Fahren nach Euskirchen. Stempel der Kreisfrauenschaft, eine unleserliche Unterschrift darunter und dann meine amtliche Dienstbezeichnung „Kreisjugendgruppenführerin“. Mit diesem Schreiben ging ich zum Bahnhof Lüneburg und bekam die Fahrkarte.

Die Reise mit dem Zug war schlimm. Im Dezember 1944 fuhren keine Züge mehr nach Fahrplan. Es war ein heilloses Durcheinander. Soldaten, Flüchtlinge, vom Osten kommend, geflohen vor den Russen, und von Westen kamen die Flüchtlinge, die vor den Amerikanern geflohen waren. Ich stand auf dem Bahnsteig und wartete auf einen Zug in Richtung Westen. Und endlich hatte ich Glück. Der Zug war überfüllt, aber irgendwo gab es ein winziges Loch, in dem ich mit einem Bein stehen konnte. Die Fahrt wurde häufig unterbrochen, mal weil Fliegeralarm war, und der nächste Bahnhof nicht angefahren werden durfte oder der Zug wurde von Tieffliegern angegriffen. Und so endete meine Bahnfahrt dann auch vorzeitig. Ich musste durch das Ruhrgebiet mit den Straßenbahnen fahren. Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass die Städte dort alle mit Straßenbahnen verbunden waren. So kam ich nach einigen Tages- und Nachtfahrten in Köln an. Von dort war aber auf normalen Wegen kein Weiterkommen mehr. Ich stellte mich deshalb an die Ausfallstraße nach Euskirchen und von dort nahmen mich Soldaten auf einem LKW mit.

Nun hatte ich einen kleinen Einblick ins Frontleben bekommen. Das Dröhnen der Artillerie, die Tiefflieger, Bomben! Da inmitten ist der Mensch ein Nichts! Mit viel Mühe habe ich mich dann bis Schleiden durchgeschlagen. Keine Sperre, kein Ausfall der Bahnen, keine zerstörten Strecken konnten mich von dem Vorhaben, zu meinen Mann zu kommen, abhalten. Und dennoch kam ich zu spät.

Die Enttäuschung war niederschmetternd. Für meinen Mann wohl auch. Der machte sich bestimmt auch Sorgen, ob ich die Reise überhaupt überstanden hätte. Die Ankunft in dem zu Schleiden gehörenden Dorf war spät abends. Stockdunkel der Ort. Ich fragte mich zu der angegebenen Adresse durch. Es war schwer, einen Menschen zu treffen. Der Ort war verlassen, die Bewohner waren evakuiert, weil die Front immer näher rückte. Endlich fand ich das Haus. Die Familie war geblieben, weil die Bäuerin gerade entbunden hatte und nicht transportfähig war. Ich wurde sehr freundlich aufgenommen. Man erzählte mir, dass die Soldaten aus dem Ort am Tag zuvor schon abberufen worden seien. Mein Mann hatte tatsächlich bei ihnen gewohnt. Ich wollte sofort umkehren, um wieder nach Haus zu fahren, aber die Familie riet davon ab. Sie wussten, ich war tagelang unterwegs gewesen und sollte nun erst einmal schlafen.

Schaurig, diese Finsternis, die Mündungsfeuer am Horizont und die V2-Kugel, die am Himmel zu sehen war. Alle sprachen davon, die Wunderwaffe V2 sollte den Endsieg bringen. Aber ich glaubte nicht mehr an einen Sieg, ich hatte schon die Hölle gesehen. Grauenhaft der Anblick der verwundeten Soldaten - ich war ja direkt im Frontgebiet. Die Verwundeten wurden z.T. auf den Kühlerhauben der Autos zu den Verbandsplätzen gefahren, weil es zu wenig Krankenwagen gab. Ich dachte bei mir, wenn ein Verwundeter noch lebt und so zum Verbandsplatz gebracht wird, der stirbt auf dem Weg dorthin bei dieser Art des Transportes. Und dann das Grauen, die Angst, wenn die Tiefflieger uns überflogen!

Ich wurde oft von LKWs mitgenommen. Wenn dann die Tiefflieger kamen, schrien die Soldaten, „...runter vom Wagen in den Straßengraben in Deckung!“ Privat wäre ich niemals in dieses Gebiet hereingekommen, aber ich hatte ja meine Uniform an und erklärte immer wieder, dass ich Kinder aus dem Gebiet herausholen wollte. Es herrschte ein Chaos, wie man es sich nicht vorstellen kann, wenn man es nicht selber erlebt hat.

Nach vielen Umwegen kam ich am 24. Dezember 1944 wieder in Lüneburg an. Es war Heiligabend. Die Bewohner in der Stadt lebten wie gewohnt ihren Tagesablauf und bereiteten sich auf die Weihnachtszeit vor. Keine Bomben, nur die Überflieger, und die hatten andere Ziele.

Diese Bewohner hätten sich wohl niemals diese Hölle vorstellen können, die nur einige Hundert Kilometern entfernt von ihnen in ihrem Deutschen Reich wütete.

So krass war der Unterschied.

Schleiden liegt im Kreis Euskirchen in der Eifel und war bis 1972 selber Kreisstadt.
Zum Stadtgebiet gehören weitere 17 Orte (Stadtteile), die z.T. noch heute ihren dörflichen Charakter beibehalten haben.
Im Zweiten Weltkrieg wurden in Schleiden viele Bauten unwiederbringlich zerstört. Nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt hatte die Einrichtung eines Truppenübungsplatzes auf der Dreiborner Hochfläche um die ehemalige NS-Ordensburg Vogelsang. Bis 2003 war der Truppenübungsplatz militärische Sperrzone und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Das Gelände gehört heute zum Nationalpark Eifel.
Zusammenstellung aus verschiedenen Quellen, Fritz Schukat, 17.05.2011

 

Ein Reiseerlebnis besonderer Art

von Rolf Rehder

Während eines Urlaubs im Schwarzwald nahm ich teil an einem Tagesausflug ins benachbarte Elsaß. Es war schon beeindruckend, dass man ohne Weiteres über die Grenze kam. Den Grenzübergang bemerkte man erst dadurch, dass die Straßennamen in französischer Sprache waren.

Nicht vergessen kann ich ein Erlebnis auf dem Marktplatz einer der hübschen kleinen Städte. Wir saßen dort vor einem Restaurant und tranken unseren Kaffee. Da hörte ich am Nebentisch englische Laute in typisch amerikanischem Tonfall. Ich kam mit den Amis ins Gespräch. Einer von Ihnen erzählte, dass er im Krieg auch in Frankreich und Deutschland war. Er drückte sein Erstaunen darüber aus, dass nun Franzosen und Deutsche ganz normal und friedlich miteinander umgehen, während sie vor nicht allzu langer Zeit fürchterliche Kriege gegen einander führten.

Dieses Gespräch hat mir gezeigt, wie sich die Zeiten wandeln und wie einfach doch das Zusammenleben der Völker sein kann.

Diese Geschichte hat uns Rolf Rehder, Heimbeiratsvorsitzender im DANA Pflegeheim Buchenhof in Quickborn im Jahre 2008 zur Verfügung gestellt. Leider fehlt das Datum der Begegnung.
Es wird aber sicher erst nach 1985 liegen. Hierzu ein kleiner geschichtlicher Ausblick:
Das erste Schengener Abkommen war das „Übereinkommen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen“, auch bekannt als „Schengen I“.

Quelle: Wikipedia

Fritz Schukat, 23.05.2011

 

Wenn man eine Reise tut...

von Edith Kollecker

Einen richtigen Urlaub konnten wir uns in den ersten Ehejahren nicht erlauben, dafür war kein Geld vorhanden. Vorhanden waren aber sechs Geschwister, die durch ihre Heirat in ganz Deutschland verteilt lebten. So hatten wir immer ein Anlaufziel, um ein paar Tage unserem Hause zu entfliehen. Leider kamen sie uns auch oft besuchen, zumal meine Eltern bei uns lebten. Es war nicht immer einfach, alles unter einen Hut zu bekommen, denn jeder hatte Kinder. Ein Nachtlager auf dem Fußboden konnten wir ihnen aber bieten, verwöhnt waren wir damals alle nicht.
Unser erster, richtige Urlaub begann aber im Sommer 1969. Wir, mein Mann Ernst, ich Edith, unsere Kinder, Martina 4 Jahre, Stephan 9 Jahre, wollten meine Schwester und Schwager in Canada besuchen, die 1953 ausgewandert waren. Etwas Mut gehörte schon dazu, denn wir sprachen kein Wort Englisch. Die kleinen Kinder und wenig Geld machten die Sache nicht einfacher.
Wir hatten es uns aber vorgenommen und wollten es jetzt auch durchziehen. Das erste, was bewältigt werden musste, war der Gang ins Reisebüro. Ich hatte keinerlei Ahnung, nur dass der Ziel-Flughafen Toronto war, wo wir von Gertrud und Hans abgeholt werden würden. Es sollte so billig wie möglich sein. Die Dame im Reisebüro kam bei meinem Limit an Moneten ganz schön ins Schwitzen. Sie hat dann alle Hebel in Bewegung gesetzt, sprich: alle Kataloge durchgeblättert, denn die erste große Flugreise nach Übersee sollte uns doch zum Erlebnis werden.
Im Juli war es dann soweit. Unsere Kinder waren sehr aufgeregt. Die erste Etappe war die Bahnfahrt nach Frankfurt/M. Abfahrt 9:00 Uhr ab Hamburg-Hauptbahnhof.
Der Bahnsteig war ziemlich überfüllt, wir hatten Mühe in das richtige reservierte Abteil zu gelangen. Die Fahrt war angenehm, na ja, wir waren auch noch ausgeruht.
In vier Stunden um 13:00 Uhr erreichten wir in Frankfurt/M. Wieder eine große Menschenmenge und im Bahnhofsrestaurant war fast kein Platz frei. Wir mussten aber was essen, denn der Tag würde sehr lang werden. Kartoffelsalat und Würstchen war für uns das Richtige und das Billigste. Drei Stunden hielten wir uns im Bahnhofsgebäude auf, dann begann die zweite Etappe: mit dem Bus nach Luxemburg, zum Flughafen.
Es war eine sehr schöne Fahrt, über Wiesbaden, Mainz und Bingen bis Luxemburg. Um 20:00 Uhr trafen wir dort ein und konnten gleich einchecken. Um 24:00 Uhr sollte unser Flugzeug, eine Turboprop-Maschine der Loftleidir, starten und wir hätten uns eine halbe Stunde zuvor dort einzufinden.
Die Wartezeit verkürzten wir uns mit einer Stadtbesichtigung per Taxi, die wir uns mit einer Dame mit 2 Kindern teilten. Wir waren vier Erwachsene und vier Kinder in einem Auto, heute kaum noch nachzuempfinden. Eine schöne Stadt, Luxemburg, die uns aber dann doch noch den letzten Nerv raubte.
Unsere „Mitfahrdame“ hatte ihre goldene Uhr verloren! Ein Erbstück ihrer verstorbenen Mutter! Der Taxifahrer hatte Erbarmen und fuhr mit uns die gleiche Tour zurück. Oh, welch ein Wunder! Vielleicht, weil es schon dunkel war, fanden wir die Uhr unversehrt wieder. Mit einem sehr schlechten Gewissen kamen wir verspätet im Flughafengebäude an.

Die bisher so netten Stewardessen erwarteten uns jetzt mit bösen Blicken und führten uns zum Flugzeug, das auch gleich in Startposition ging und verspätet abhob. Weil alles so schnell ging, hatte ich keine Zeit, Angst zu haben, es war nämlich mein erster Flug!
Dann begann Teil drei!
Nach gut drei Stunden landeten wir in Island. Martina hatte vom Flug und vom guten Essen nichts mitbekommen, sie war gleich eingeschlafen und wir betteten sie auf zwei Sitze, leider musste ich mich deshalb nur mit einer kleinen Ecke begnügen. Sogar die Landung verpasste sie und angeschnallt waren wir auch nicht. Alle mussten die Maschine verlassen, nur ich durfte bei ihr im Flugzeug bleiben, während die Putzkolonne saubermachte. Es war saukalt und zog wie Hechtsuppe. Nach einer Stunde hob die Maschine wieder ab und flog Richtung New York.
Als es hell genug war, haben wir die schöne Aussicht genossen, waren aber froh, als wir auf dem Kennedy-Airport landeten. Uns war zu der Zeit allerdings nicht bewusst, was alles noch auf uns zukommen sollte.
Weil das Flugzeug Verspätung hatte, konnten wir unsere Maschine nach Toronto nicht mehr erreichen. Ein Visum für Amerika hatten wir auch nicht, so nahm uns der Beamte die Pässe ab. Er hat dann wenigstens meine Schwester angerufen und uns in die nächste Maschine gebucht. Er war ein ziemlich großer Mann, der immer nur lächelte und Kaugummi kaute, ich hasste ihn. Das Gebäude war voller Menschen, die einen Streik veranstalteten. Uns war ziemlich mulmig zu Mute. Dann machten wir uns zu Fuß - jeder nahm ein Kind und einen Koffer - auf zum Canada-Airport. Ein Polizist, der uns entgegen kam, erklärte uns, dass wir nur mit dem Bus dort hinkommen könnten. Die Größe des Airports hatten wir total unterschätzt. Wir schafften es dann doch noch, den Bus zu finden und zum Canada- Airport zu kommen.
Als der Flug zwei Stunden später aufgerufen wurde, saßen wir allein ohne Pässe und ziemlich hilflos in der Halle. Je mehr Fluggäste durch die Sperre gingen, umso ungeduldiger wurden wir. Unsere Nerven lagen blank. Doch dann kam ein Lichtblick in Form des großen, lächelnden, Kaugummi kauenden Mannes rein und überreichte uns die Pässe. Nun hätte ich ihn doch gerne vor Freude geküsst, er hatte uns nicht vergessen! Zu große Freude kam aber nicht auf, dazu waren wir zu erschöpft.
Dann kam der letzte Abschnitt unserer turbulenten Reise und zwei Stunden später nahmen uns unsere Verwandten in Toronto in Empfang.
Wir hatten dort eine herrliche Zeit und über die Strapazen des Hinfluges konnten wir später sogar lachen.

gespeichert 07.05.2011

 

Meine Landkartensammlung

von Fritz Schukat

Dass ich viele Sachen sammle, habe ich schon mehrmals berichtet. Es sieht bei uns zu Hause trotzdem nicht „wie bei Hempels unterm Bett“ aus – es ist alles geordnet und steht bzw. liegt an Stellen, wo die Sachen schnell gefunden werden aber eben nicht auffallen.
Von einem weiteren Sammelgebiet möchte ich wieder einmal etwas ausführlicher berichten - ich sammle nämlich schon seit „Jahrenden“ Landkarten, Atlanten und Stadtpläne! Ich habe in den fast 35 Jahren Außendiensttätigkeit halb Deutschland befahren und käme wahr-scheinlich auch heute noch ohne Navi aus. Es hat mir einfach Spaß gemacht, auf den Karten meine Touren nachzuempfinden oder mich im Voraus zu orientieren, wie ich fahren muss. Mit dem Ende meiner Berufstätigkeit hat auch meine Leidenschaft schlagartig aufgehört, von den Ecken, die ich befahren habe, eine Karte zu kaufen. Aber ich habe sie fast alle noch in einem großen Kasten. Falk-Stadtpläne - patentgefaltet von vielen Groß-städten, darunter ein Faksimile des ersten Nachkriegsplans von Hamburg, in dem die zerbombten Straßenzüge eingezeichnet sind, ein Stadtplan von Paris, den die Amis 1944 ihren GIs an die Hand gaben und einen Baedecker für Berlin von 1906 mit Stadtteilkarten von Potsdam und Charlottenburg auf feinstem Seidenpapier, die sich auf DIN A4-Größe ausklappen lassen. Schmuckstück unter meinen fünf Weltatlanten ist der „Kleine Weltatlas“, der zu Meyers mehrbändigem Konversationslexikon 1893 herausgegeben wurde. Die Seitenzahlen der mehrfarbigen Karten wurden mit einem Zahlenstempel angebracht, weil es wohl zu aufwändig war, sie nochmals auf der Rückseite zu bedrucken. Ich habe mehrere ADAC-Jahresgaben von Norddeutschland im Maßstab 1:200.000, da sind dann auch kleinste Ortschaften aufgeführt und ganz besonders freue ich mich immer über die 1976er Ausgabe, in dem Jahr ist nämlich unser Junior geboren worden. Ich besitze Messtischblätter aller Gegenden, in denen ich mal gewohnt habe und sogar von einigen Gegenden aus Ostpreußen und dem Gebiet, wo wir 1943 evakuiert waren. Als ich 1993 bei Berlin an einer Tagung teilnahm, ergatterte ich einen DDR-Nachdruck eines Messtischblattes von der Schorfheide, Görings und Honeckers Lieblingsjagdgebiet. Der Verkäufer versicherte mir, dass davon nur ganz wenige Nachdrucke angefertigt werden durften. Ich habe ihn trotzdem für einen zivilen Preis bekommen!
Mein absolutes Highlight ist aber die Straßenkarte von Berlin aus dem Jahre 1916. Sie ist etwa anderthalb Quadratmeter groß, vierfarbig, aber an mehreren Knickstellen gerissen. Ich muss sie irgendwann einmal auf einer entsprechend großen Leinwand sorgfältig aufkleben, muss mir dafür aber noch von einem Buchbinder Ratschläge holen, denn einfach mit UHU aufkleben, wäre fatal. Der Kleb muss säurefrei sein, und so etwas kostet schon ein paar Pfennige mehr. Dazu braucht man auch Zeit, Muße und Platz wie für ein Riesenpuzzle! Das wollte ich schon langst in Angriff nehmen, aber bis jetzt ist daraus noch nichts geworden.

ausgekoppelt aus einem Aufsatz vom 23.09.2009
aufbereitet am 07.06.2011

 

1,2,3. Guten Tag

von Uwe Neveling

„1,2,3. Guten Tag!“ sagte der alte Mann zu mir. Er saß vor mir auf einer Bank. Er ergriff meine Hand und drückte sie kräftig. Den festen Händedruck hatte ich nicht erwartet. Er war 83 Jahre alt. Seine Stimme war laut und deutlich. Hinter uns war das Krankenhaus. Es sah renovierungsbedürftig aus. Der Sohn des alten Mannes und Zita, unsere Reiseleiterin, hatten ihn aus dem Krankenbett geholt. Der alte Mann trug eine Trainingshose und ein weißes Hemd, seine Füße steckten in leichten Sportschuhen. In der linken Hand hielt er die Seite mit den Bildkopien von Isorai aus dem Jahre 1941. Der alte Mann kannte sich aus, er nickte zu den Fotos und sprach beschwörend auf uns ein. Wie waren wir hierher gekommen?
Zita, die Reiseleiterin, holte uns um 10:00 Uhr vom Hotel ab. Wir wollten nach Isorai fahren, zu dem Ort, an dem mein Vater am 25. Juni 1941 von einer Granate tödlich getroffen wurde. An gleicher Stelle war auch sein erstes Grab. 46 Soldaten haben damals den Angriff nicht überlebt. Sie gehörten zu einer Vorausabteilung und sahen sich plötzlich einer gegnerischen Übermacht gegenüber. Sie alle wurden zunächst neben der Straße begraben. Ein Jahr später wurde das Gräberfeld aufgelöst. Die Gefallenen haben auf dem Kriegerfriedhof in Kaunas die letzte Ruhestätte gefunden. Oliver und ich waren am Vortag auf dem Friedhof. Die Kriegsgräberfürsorge hat das Gelände herrichten lassen. In langen Reihen stehen Steinkreuze. Auf ihnen sind auf der Vorderseite und auf der Rückseite die Namen der Gefallenen mit Geburts- und Todesdatum eingemeißelt. Theo fanden wir auf einer Gedenktafel, die im Zentrum des Gräberfeldes steht. Im Zentrum befindet sich ein großes steinernes Kreuz. An zwei Seiten stehen in einem Halbkreis jeweils drei Gedenktafeln. Die Gedenktafeln enthalten 1400 Namen mit ihren Geburts- und Todesdaten. Beeindruckend sind die hohen Laubbäume und die Grünflächen zwischen den Steinkreuzen. Oliver war an den Steinkreuzen entlang gegangen. Das waren fast alles nur junge Leute, sagte er zu mir, gerade mal 20 Jahre, einige sogar noch jünger. Das machte ihn betroffen.
Nach 20 Kilometern erreichten wir Isorai. Ich habe ein Luftbild von Isorai. Die dort abgebildete schnurgerade Straße ist jetzt eine Autostraße. Das Gräberfeld lag rechts neben der Straße nach Jonava. Allein uns fehlte die Vorstellungskraft, auf dem Gelände, das mit Bäumen und hohen Gräsern bewachsen war, ein ehemaliges Gräberfeld zu erahnen. Wir fuhren auf die andere Seite der Autostraße in einen Feldweg. Wir kamen zu einem kleinen Bauernhof. Zita wurde initiativ, ergriff meine Bildkopien und startete eine große Befragungsaktion bei den Bewohnern. Die wussten natürlich von nichts und empfahlen uns, einen alten Mann zu befragen, der weiter vorne an der Straße wohnte. Da fuhren wir nun hin. Das Haus befand sich, für uns unsichtbar, hinter einem hohen Holzzaun. Wir fanden einen schmalen Durchgang. Zita ging zum Haus. Oliver und ich betrachteten die Gegend und machten einige Fotos. Nach 15 Minuten kam Zita mit einem jungen Mann zurück. Der alte Mann wäre im Krankenhaus und wir sollten mit seinem Sohn dorthin fahren. Es wären nur 15 Kilometer, also nicht weit. Und der alte Mann wäre auch nicht so krank. Er könnte uns viel erzählen; als junger Mann von 17 Jahren hätte er die Kämpfe miterlebt. Wir fuhren mit dem Sohn zum Krankenhaus nach Jonava.
Der alte Mann deutete auf unser Auto. Wir sollten einsteigen. Das taten wir. Er stieg mit ein. Auf den Hintersitzen unseres PKWs saßen jetzt 4 Personen, ich saß vorne, bequem neben dem Fahrer. Nach 15 Kilometern erreichten wir wieder Isorai, der Fahrer wendete und stellte den Wagen neben einer Bus-Haltestelle ab. Der alte Mann führte uns eine kleine Böschung hinab auf ein völlig mit Bäumen und Gräsern bewachsenes Gelände. Er zählte mit raumgreifenden Schritten 30 Meter ab. Wenn auf seiner Linie ein Baum stand, umkurvte er ihn und setzte seinen Weg hinter dem Baum fort. Nach 30 Schritten bog er rechtwinklig ab, ging weiter und zählte bis 20. So groß sei das Gelände gewesen, 50 Gräber wären an dieser Stelle gewesen. Die Russen hätten mit Granaten auf die Deutschen geschossen. Um das zu verdeutlichen, schmiss er sich in einen Graben und feuerte andeutungsweise auf die andere Straßenseite. So wäre es gewesen und er hätte das als 17-jähriger beobachtet. Seine Angaben deckten sich mit meinen Informationen.
Es fiel schwer, sich Kampfhandlungen in dieser Gegend vorzustellen. Alles war so friedlich und ruhig. Es war lediglich Vogelgezwitscher zu hören, gelegentlich fuhr ein Auto vorbei. Ich fühlte nichts. Ich fühlte Leere in mir. Es war unwirklich. Sie haben damals sicherlich kein Vogelgezwitscher gehört. Hier fand mein Vater seine erste Ruhestätte. Gerne hätte ich ihn von hier mitgenommen. Ich bin sicher, dass wir uns beide viel gegeben hätten. Ich glaube, dass Oliver so ähnlich fühlte. Ich bin ihm dankbar, dass er mitgekommen ist. Für ihn schien es selbstverständlich zu sein. Es wäre schließlich sein Großvater, sagte er mir.
Wir brachten den alten Mann zu seinem Haus. Sein Sohn wollte ihn später wieder ins Krankenhaus fahren. Ich bedankte mich bei ihm, sagte „atschu“ und wünschte ihm gute Gesundheit. „1,2,3. Guten Tag!“ rief er mir hinterher. Wir fuhren zurück nach Kaunas.
erstellt am 23.10.2008

 

Das Haus am See

Gesegnete Mahlzeit 

von Uwe Neveling erstellt am 16.09.2009

Mit ruhigen Paddelschlägen gleiten unsere Boote durch das Wasser. Das Wetter ist herrlich. Es ist warm. Ein leichter Wind sorgt für eine wohltuende Kühlung. Die morgendliche Hektik ist einer angenehmen Gelassenheit gewichen.

Heute Morgen hatten wir unsere Boote aufgebaut. Die Holzgerüste mussten zusammengesteckt und in die Bootshaut bugsiert werden. Die Spanten sortierten wir nach Größe und klinkten sie in die Längsverstrebungen ein. Das lockere Gerüst schoben wir in die Bootshaut. Mit etwas Kraftaufwand wurde dann der Spannboden nach unten gedrückt. Ein Blick auf die Nähte zwischen Leinwanddeck und Gummihaut. Die Nähte saßen stramm und in der richtigen Position. Schnell wurden Steuerung, Sitze und Luftsäcke moniert. Das alles konnten wir schon im Schlaf. Weit schwieriger war die Beladung. Wir wundern uns jedes Mal, dass wir unser Gepäck unterbringen können. Dazu gehören Zelt, Schlafsack, Kleidung, Rucksack, Bootswagen, Gestänge- und Bootsack, Waschzeug, Angel- und Kochgeschirr, Benzinkocher und die Verpflegung für mindestens eine Woche.

Unsere Notverpflegung besteht aus Ei- und Milchpulver, Haferflocken und Zucker. Mit Wasser vermengt, ergibt das einen zähflüssigen Brei, mit dem man den Mageneingang zubetonieren kann. Das Hungergefühl schwindet. Mit Fisch-, Obst- und Gemüsekonserven bringen wir etwas Abwechslung in unseren Speiseplan. Außerdem hoffen wir auf Petri-Heil beim Angeln.

Wir nähern uns dem Seeufer. Der Wald geht direkt bis an den See, bis auf einen schmalen Sandstreifen von vielleicht 100 m Länge. Wir laufen mit unseren Booten auf den Strand auf und können fast trockenen Fußes an Land gehen. Der Strand ist zehn Meter breit, dahinter befindet sich das Haus. Es ist ein einfaches Holzhaus in einem gepflegten blutroten Anstrich. Durch die Fenster können wir nach innen sehen. Die Einrichtung ist schlicht und sauber. Es gibt einen Wohn-, Schlaf- und Küchenbereich. Es ist keiner zu Hause, die Tür ist nicht verschlossen. Das ist hier so üblich. Hier traut jeder jedem. Wir respektieren das und betreten das Haus nicht. Wir setzen uns auf die Veranda und machen uns über unsere Notverpflegung her.

Wir hören hinter dem Haus Motorgeräusche. Dann wird es still, eine Fahrzeugtür wird zugeworfen, Schritte nähern sich unserem Mittagstisch. Neben dem Haus muss ein schmaler Gehweg sein. Den haben wir noch gar nicht gesehen. Es erscheint ein älterer Herr, der uns sehr freundlich begrüßt. Er muss uns schon bei seiner Herfahrt von der anderen Seeseite gesehen haben und ist daher nicht überrascht. Er wundert sich über unsere spärliche Mahlzeit und bittet uns in sein Haus. Wir setzen uns an den Tisch. Schnell ist der Tisch gedeckt. Aus seiner Vorratskammer holt er Brot, Butter, Wurst und Käse. Es gibt Bier, Milch und Wasser. Das alles macht uns sprachlos.

Wir bitten ihn darum, unsere Zelte auf dem Strand aufschlagen zu dürfen. Auch das gewährt er uns großzügig. Für heute Abend hat er mit uns noch etwas Besonderes vor. Er will die Sauna anheizen und lädt uns zu einem ausgiebigen Saunabad ein. Aber das ist erst heute Abend.

 

Genehmigtes Zeltlager 

 

Es ist früher Nachmittag. Da könnten wir doch eigentlich noch angeln. Unser neuer Freund muss noch einmal kurz weg und kann daher nicht mitmachen. Wir stecken die Rutenteile ineinander, befestigen die Rolle am unteren Ende und ziehen die Schnur durch die Rutenringe. Am Angelhaken spießen wir Würmer auf. Unser Gastgeber hat eine Würmerkiste. Daraus dürfen wir uns bedienen. An der Schnur haben wir einen Korkschwimmer befestigt. Schwungvoll werfen wir unsere Angeln aus und warten. Zunächst tut sich erst einmal nichts. Plötzlich ruft Otto: Ich hab einen! Hilf mir, ihn vom Haken zu befreien. Ich komme ihm zu Hilfe, greife den Barsch, es ist ein Barsch, den Otto gefangen hat, mit beiden Händen. Otto löst den Haken aus dem Fischmaul. Der Fisch wehrt sich und zappelt heftig. Er rutscht mir aus den Händen und springt in einem hohen Bogen zurück ins Wasser. Ich blicke in die perplexen Augen von Otto. Ein tierischer Schrei kommt aus seinem Mund. Der leere Angelhaken schwingt leicht hin und her. Ich renne so schnell ich nur kann von ihm weg. Ich kann schneller laufen als er. Sein größeres Gewicht bremst ihn ab. Ich erreiche den schmalen Gehweg neben dem Haus und laufe ans andere Ende. Ich halte an und drehe mich um. Durch den Blätterwald kann ich Otto noch an der gleichen Stelle stehen sehen. Er ist mir nicht gefolgt und blickt trostlos immer noch auf den leeren Angelhaken. Ich atme auf, mir kann erst einmal nichts passieren.

Fünf Minuten später gehe ich langsam wieder zurück und nähere mich ihm vorsichtig. Er hat sich beruhigt, ist aber noch etwas grummelig. Kurze Zeit später müssen wir beide lachen. Er schildert mir das, was ich nicht sehen konnte. Nämlich meine Flucht in den schmalen Gehweg. Es muss schon merkwürdig ausgesehen haben, als ich in Sprinterposition den Strand querte und im Buschwerk verschwand. Das sind Reaktionen, die man nicht kontrollieren kann. Es sind Urinstinkte. Kein Mensch lässt sich gerne verprügeln, auch wenn er Mist gebaut hat.

Das Ereignis liegt nun schon viele Jahre zurück. Wir erinnern uns aber gerne an das Abenteuer beim Haus am See. Übrigens haben wir dann doch noch Fische gefangen. Ein so großer Barsch war allerdings nicht darunter.

 

Der Dorfanger

von Uwe Neveling

Heinz und ich waren sehr spät in Hanko, Finnland, angekommen. Unser Schiff, die Hansaexpress, lief kurz vor Mitternacht in den Hafen ein. Es dauerte dann noch einmal eine Viertelstunde, bis sie festgemacht hatte und mit dem Entladen begonnen werden konnte. Die Personen- und Lastwagen verließen die Ladedecks und nach einer kurzen Zollkontrolle auch den Hafenbereich. Das ging alles sehr zügig vonstatten. Dann zogen wir endlich mit unserem Gepäckwagen von Bord und gingen zunächst zum Zoll.

Wir hatten einen zweiräderigen Wagen, auf dem wir unser zusammen gefaltetes Boot, unsere Zeltausrüstung und unseren Seesack geschnallt hatten. Die Zöllner waren ausgesprochen freundlich zu uns. Sie verlangten nicht, dass wir zur Überprüfung alles auspackten, sondern winkten uns durch. Auf unsere Reisepässe warf man nur einen kurzen Blick und wünschte uns hyvä matka, gute Reise.

In Finnland kannst du überall zelten, sagte Heinz zu mir. Wir suchten also eine geeignete Stelle für unser Zelt. Wir hatten nur ein kleines Zweimannzelt. Das brauchte nicht viel Raum. Wir ließen das Hafengebiet hinter uns und machten uns auf den Weg in die Stadt. Hanko ist ein kleiner, übersichtlicher Ort. Von hier ist es nach Helsinki und nach Turku genauso weit. Es sind jeweils ungefähr 130 km. Er soll 9000 Einwohner haben. Gesprochen wird sowohl finnisch als auch schwedisch. Das hatten wir vor Reiseantritt im Griebenführer gelesen.

Wir hielten uns für vorbereitet. Wir waren aber nicht vorbereitet auf eine stockdunkle Nacht. Der Himmel war bedeckt. Kein Sternenlicht und kein Mondlicht erhellten unseren Weg. Auch die Straßenbeleuchtung ließ zu Wünschen übrig. Es gab nur einige wenige Lichter. Aus den Häusern schimmerte kein noch so schwaches Lämpchen. Man war wohl zu Bett gegangen und träumte einem neuen Tag entgegen. Das wollten wir eigentlich auch. Wir bogen rechts von der Hauptstraße ab. Ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich eine Hauptstraße war. Es war die Straße, die schnurgerade aus dem Hafen heraus führte. Sie schien uns geeignet zu sein uns direkt zum Bahnhof zu führen. Denn von da wollten wir nach Helsinki und noch weiter nach Kuopio fahren.

Die Straße, in die wir jetzt hineingingen, war schmaler als die vorherige und endete nach einer kurzen Wegstrecke. Es schien eine Sackgasse zu sein. Dahinter befand sich ein unbebauter Bereich. Die ihn einfassenden Bäume konnten wir nur erahnen. Wir hörten auch einen nächtlichen Eulenruf, der uns das vor uns liegende Gelände schmackhaft machte. Der Untergrund war mit Gras bewachsen und weich. Das war gut für die Zeltheringe. Die konnte man wahrscheinlich leicht in die Erde drücken. Irgendwo plätscherte ein kleiner Bach.

Wir luden den Bootswagen ab und machten uns an den Zeltaufbau. Das ging schnell. Wir hatten den Aufbau zu Hause mehrfach geübt und konnten die Hütte in fünf Minuten hinstellen. Viel länger brauchten wir in der Dunkelheit auch nicht. Wir waren müde, krochen schnell in unsere Schlafsäcke und schliefen ein.

Ich träumte von unserer Abenteuerreise. Heinz und ich hatten ein Faltboot gekauft. Wir wollten im Land der sechzigtausend Seen eine Kajak-Wanderfahrt unternehmen. Trainiert hatten wir mehrere Tage auf der Alster. Wir hielten uns für fit. Unser neues Boot wollten wir taufen. Doch welcher Name sollte es sein? In der griechischen Mythologie bestand Odysseus mit seinem Schiff haarsträubende Abenteuer. Er überlebte und kam gesund wieder zurück. Genau wie wir uns das wünschten. Wie hieß sein Schiff? Wir durchforsteten die einschlägige Literatur. Heinz hätte Homer heißen können. Da kannte er sich aus. Doch kam er mit seinen Kenntnissen in diesem Fall nicht sehr weit. Offensichtlich hatte das Schiff von Odysseus keinen Namen. Und so nannten wir unser Kajak Odysseus II.

Ich durchlebte unsere fruchtlose Namenssuche noch einmal. Es war ein Albtraum. Ich erwachte von fröhlichem Vogelgezwitscher. Durch das Zeltdach schimmerte ein strahlend schöner Sonnentag. Heinz war zwischenzeitlich ebenfalls wach geworden. Es war sechs Uhr in der Früh. Ich öffnete die Zeltplane. Die Luft war angenehm frisch und warm. Mein Blick fiel auf einen gut gepflegten Rasen, auf dem wir unser Zelt errichtet hatten. Am Wiesenrand sah ich eine Baumreihe. Ein kaum spürbarer Wind bewegte die Äste ganz leicht. Wir verließen das Zelt und blickten uns weiter um. Hinter unserem Zelt sahen wir eine eng stehende Häuserzeile. Die Häuser sahen sehr gepflegt aus und hatten den für Skandinavien typischen blutroten Anstrich. Das Weiß der Fensterrahmen stach ins Auge. An den Türen gab es kunstvolle Schnitzereien. Vor den Häusern hatte man einen gepflasterten Gehweg angelegt. Alles sehr sauber. Was wir für einen Bach gehalten hatten, war ein kleiner Teich mit einer Fontäne. Das war uns in der nächtlichen Dunkelheit entgangen.

Der Gehweg fasste das ganze Gelände ein und schien eine Art Rundgang zu sein. Wir ahnten, dass wir den Dorfanger für unsere Zwecke missbraucht hatten. Zu unserem Glück waren in dieser frühen Stunde nur wenige Menschen unterwegs. Und die, die uns sahen, grinsten verständnisvoll. Die Finnen sind eben gastfreundliche Menschen. Am Teich muteten wir uns eine Katzenwäsche zu. Dann bauten wir schnell ab, beluden den Bootswagen und machten uns vom Acker.

Wir gingen zurück zur Hauptstraße und erreichten nach wenigen Kilometern den Bahnhof. Wir lösten eine Fahrkarte nach Helsinki. Unser Bootsgepäck mussten wir selbst verladen. Die Bahnhofsvorsteherin gab uns hierzu gute Ratschläge. Da sie nur finnisch sprach, verstanden wir kein Wort, nickten aber zu ihren Ausführungen und asteten den schweren Bootswagen in den Gepäckwagen. Sie schien mit uns zufrieden zu sein und rief hyvä matka hinter uns her. Das muss geholfen haben.
Unsere matka war wirklich hyvä.

erstellt am 05.02.2010

 

Eine nachhaltige Erfahrung

von Uwe Neveling

„Spaß beim Lesen wünscht der Autor.“ Und dann finde ich noch ein Datum: Neustrelitz, 23. April 2005. Selbstverständlich habe ich auch ein Autogramm des Autors. Das alles steht auf der ersten Seite eines kleinen Büchleins, unter dem Titel: „Zweieinhalb Tage“. Ich habe es direkt vom Autor erworben. Wir haben auch einige Worte gewechselt. Wo ich herkomme und was mich in die Gegend verschlagen habe, hat er mich gefragt. Ich sage es ihm, und auch, dass mir seine Lesung gefallen hat und dass ich mich für seine Geschichten interessiere. Das hört er gerne. Welcher Autor hört so etwas nicht gerne? Ich meine es aufrichtig.

Er hat eine angenehme jugendliche Stimme. Was eigentlich nicht verwunderlich ist. Ich schätze sein Alter auf Mitte dreißig. Bei der Lesung ist mir aufgefallen, dass er die Stellen betont, über die ich einfach hinweglesen würde. Dadurch bekommt die Erzählung einen unverwechselbaren Klang. Die Melodie ist einzigartig. Der Autor ist Komponist und musizierender Künstler zugleich. Er weiß, mit seinen Texten umzugehen.

Wenn er liest: „Die Brottasche schlug im Takt des Schritts an mein rechtes Knie. Das Knie im selben Takt irgendwie x-beinig einzuknicken, um die Schläge zu dämpfen, misslang, weil Knie sich nicht in alle Richtungen einknicken lassen“, dann verspürt man die Schläge der Brottasche und versucht ihnen x-beinig auszuweichen. Es wird ein Bild erzeugt, dass durch die Sprache des Autors an Schärfe gewinnt. Allerdings wird die eigene Fantasie dadurch etwas eingeengt. Das stört aber nicht. Ich kann mich voll auf das Bild konzentrieren und muss die Wörter nicht erst in eigene Vorstellungsbilder übersetzen. Das ist entspannend und bringt einen Zeitgewinn. Ich beobachte die Zuhörer. Was empfinden sie? Sind sie gelangweilt, interessiert oder gar gefesselt? Dadurch bekommt man ein Gefühl für gleichgesinnte Gruppierungen. Man ist nicht allein und fühlt sich irgendwie geborgen.

Ich muss noch erzählen, wie ich in die Veranstaltung geraten bin. Auf der Suche nach einem Ort für unser jährliches Treffen mit Freunden bin ich in Neustrelitz gelandet. Ich finde ein Hotel, nehme ein Zimmer und esse gegen 19:00 Uhr zu Abend. Das Abendessen ist ausgezeichnet. Eine halbe Stunde später treffen fröhlich gestimmte Gäste ein, die in einem Nebenraum verschwinden. Ich bin neugierig und frage die Bedienung, was denn da los sei. Und ich erfahre Folgendes: Immer wenn Vollmond sei, treffen sich gebildete Bürger der Stadt zu einer Literaturlesung. Auch ich könne daran teilnehmen. Es koste nur 5,-- €. Man habe dieses Mal einen örtlich bekannten Journalisten verpflichtet, der auch schon Preise bei einem Autorenwettbewerb gewonnen habe. Das lass ich mir nicht zweimal sagen. Ich erwerbe eine Karte mit dem Aufdruck Vollmond und schließe mich den Literaturbegeisterten an.

Der Raum ist gerammelt voll. Ich finde einen Platz dicht an der Wand neben dem örtlichen Apotheker. Auch der Stadtrat ist vertreten, der Pfarrer, der Pastor. Die Zuhörer kommen aus allen Bevölkerungsschichten. Der Autor wird kurz vorgestellt und der Literaturabend kann beginnen.

Ich denke gerne an diese zwei Stunden zurück. Sie haben in mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ich möchte die am 23. April 2005 gemachten Erfahrungen nicht missen. Immer bei Vollmond muss ich an Neustrelitz und seine Dichter denken. Bald haben wir wieder Vollmond. Wer wird von den Verantwortlichen als Autor begrüßt? Meine Neugierde lässt sich nur dann befriedigen, wenn ich hinfahre. Vielleicht tu ich das.

erstellt am 12.02.2009

 

Schulfreundschaft

von Uwe Neveling

Wir waren wieder einmal unterwegs, Ottokar und ich. Es war mittlerweile schon Tradition, dass wir einmal im Jahr auf große Fahrt gingen. Viel Geld hatten wir nicht. Das günstigste Verkehrsmittel waren unsere Räder.
Ich hatte mir meins vor einigen Jahren während der großen Ferien erarbeitet. Ich arbeitete damals bei einem Hoch- und Tiefbau-Unternehmen als Hilfskraft, d.h. der Polier setzte mich für vielfältige Aufgaben ein. Ich versorgte die Mannschaft mit Getränken und Verpflegung, half beim Auf- und Abladen von Baumaterialien, pflasterte Innenhöfe und hub gelegentlich Gräben aus. Offensichtlich war man mit mir zufrieden; der Lohn reichte für den Kauf eines neuen Fahrrades, sogar mit Gangschaltung. In den letzten Jahren waren wir in Holland, Belgien und Norddeutschland gewesen. Dieses Mal sollte es nach England gehen.
Ottokars Schwester arbeitete zu der Zeit in einem Fellowship-Friendhouse in der Nähe von Eastbourne. Die wollten wir besuchen und dann auch weiter nach London fahren. Mitte der fünfziger Jahre war eine derartige Tour schon etwas ungewöhnlich und in Anbetracht unserer finanziellen Möglichkeiten sogar abenteuerlich. Übernachten wollten wir in Jugendherbergen und Youthhostels. Für Notfälle nahmen wir ein einfaches Zweimannzelt mit. Später stellte es sich heraus, dass wir das Zelt gut gebrauchen konnten. Wir nächtigten einmal bei englischen Pfadfindern, die uns freundlich aufnahmen und uns an ihrem Lagerleben teilnehmen ließen. In Eastbourne zelteten wir auf dem Zeltplatz nahe der Steilküste.
Wir fuhren mit dem Zug nach Brüssel, das wir am späten Nachmittag erreichten. Wir holten unsere Räder aus dem Gepäckwagen und starteten sogleich Richtung Ostende. Wir fuhren die ganze Nacht durch. Ich erinnere mich daran, dass wir um Mitternacht Gent erreichten und am frühen Morgen im Hafen von Ostende ankamen. Wir nahmen dann die Fähre nach Dover, quälten uns die englische Steilküste hoch und machten uns auf den Weg nach Eastbourne.
Das südliche England ist eine liebliche Landschaft mit heckenumsäumten Straßen und Wegen. Gegen Mittag rasteten wir an einem kleinen Wäldchen. Ein Schild fiel mir auf: „Beware for the adders“ - man sollte also auf Kreuzottern achten. Wir ließen uns dadurch in unserer Mittagsruhe nicht stören. Die andere Straßenseite wurde von einer mannshohen Mauer begrenzt. Wir hörten Stimmen, die uns neugierig machten. Wir erklommen die Mauer und erblickten einen äußerst gepflegten Rasenplatz. Auf dem tummelten sich weißgekleideten Herren. Einige Herren trugen eine Schutzkleidung. Sie warfen sich einen kleinen, ebenfalls weißen Ball zu. Am Rande des Spielfeldes saßen einige Zuschauer, die aus uns unerfindlichen Gründen gelegentlich in lautem Jubel ausbrachen.
Man erblickte uns. Ein sportlich gekleideter Engländer kam zu uns herüber. Er fragte uns, wo wir herkämen. Er war sehr höflich und nahm es uns nicht übel, dass wir Deutsche waren. Im Gegenteil, er stellte sich vor und auch wir nannten unsere Namen. Er hieß Silverspoon. Silverspoon war begeisterter Kricketanhänger, und dieses Spiel fand gerade auf dem Rasen statt. Er erklärte uns die komplizierten Regeln des Spiels. Wir verstanden nur Bahnhof. Bei diesem Spiel geht es darum, das Tor des Gegners zum Einsturz zu bringen. Die Tore bestehen aus Stäben und Querstäben und werden von einem Schläger bewacht. Der Schläger schlägt den auf ihn zufliegenden Ball mit einer Schlagkeule möglichst weit ins Feld zurück. Verfehlt er den Ball, so muss der Torwächter den Ball fangen und versuchen, das gegnerische Tor umzuwerfen. Wir nickten freundlich und taten so, als hätten wir alles verstanden. Silverspoon war glücklich. Er meinte wohl, neue Anhänger für diesen Sport gewonnen zu haben und lud uns zu einer Tasse Tee ein. Da konnten wir nicht nein sagen.
Für uns war der Tee etwas gewöhnungsbedürftig, er wurde mit Milch und viel Zucker gereicht. Wir sahen dem Spiel noch eine Weile zu, ohne es zu begreifen. Es kam uns vor, wie eine Mischung aus Pinnchen-Schlagen und Schlagball. Die Feinheiten blieben uns verborgen.
Wir verabschiedeten uns von unserem neuen Freund und fuhren in den späten Nachmittag hinein. Am Abend trafen wir auf die Pfadfindergruppe. Wir nahmen am Abendgottesdienst teil, erhielten eine warme Mahlzeit und durften unser Zelt in ihrem Lager aufbauen. Nach diesem anstrengenden Tag gingen wir früh schlafen. Ich träumte von Mr. Silverspoon. Er erklärte mir noch einmal die Regeln und ich begriff wieder nichts. Ottokar meinte am nächsten Morgen, dass ich sehr unruhig geschlafen hätte. Ich hätte von toten Bällen gemurmelt und „...der Schläger ist aus!“ gerufen.
Damals hatte ich Ottokar nicht verraten, dass Mr. Silverspoon mir in einem Traumkursus versuchte, die Kricketregeln beizubringen. Viel geholfen hat es nicht. Ich kenne sie immer noch nicht. Ich vermisse sie auch nicht. Ich denke aber gerne an Mr. Silverspoon. So stelle ich mir einen englischen Gentleman vor: Er besitzt eine gute Aussprache, ist höflich und gut gekleidet. Als Gentleman nimmt er es mir sicherlich nicht übel, dass ich Kricket nichts abgewinnen kann.
aufgeschrieben am 23.03.2006