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Was war früher eigentlich anders als heute? von Fritz Schukat
Heinz lacht von Uwe Neveling
Abschied von meinem Großvater von Ingrid von Husen
Erbstück von Uwe Neveling
Aber Du wirst nächstes Jahr schon 76! von Fritz Schukat
Abschied nehmen von Fritz Schukat

 

Was war früher eigentlich anders als heute?

von Fritz Schukat erstellt am 20.11.2013

Ja, eigentlich alles oder zumindest fast alles anders. Gut, es gibt Dinge, die kann man nicht anders machen, nehmen wir mal das Zusammensein z.B. von Mann und Frau, das hat sich sein Adam und Eva wohl nicht grundlegend geändert. Aber es gibt da doch Dinge, die in unserer Jugend anders liefen als heute.

Fangen wir mal mit der genauen Zeit an. Natürlich hatten wir Uhren, auch solche, die angeblich in einem Monat nur 10 Sekunden vor- bzw. nachgingen - Quarzuhr war das Zauberwort. Nachkontrollieren konnten wir das nicht - oder eben nur höchst umständ-lich. Die genaue Zeit kam aus dem Telefon: ein Anruf unter 1 1 9*/ und eine weibliche Stimme flüsterte uns in Öhrchen, wie spät es gerade jetzt in diesem Moment ist.
Heute bekommt man für nicht einmal 10 Euro schon eine Funkuhr als Tischuhr, die die genaue Zeit über einen kleinen Radioempfänger bekommt und ggf. selbständig nachtariert. Sie stellt sich auch automatisch auf Winter- oder Sommerzeit um. Allerdings, noch vor 30 Jahren kostete solch eine Uhr um die 200 Mark!

Mit dem Fotografieren ist das auch so eine Sache. Ganz früher verschwand der Fotograf unter einen schwarzen Stofftuch und hielt in einer Hand einen Gummiball, der auf einem dünnen Schlauch aufgesteckt war. Nach einer Weile stand er wieder neben dem Apparat, lächelte und erklärte, „...gleich kommt das Vögelchen und knipst Dich...!“ Wir Kinder glaubten ihm das, aber die Erwachsenen? Die standen wie die Ölgötzen vor einer merkwürdigen Kulisse, die anscheinend aus Athen von der Akropolis geklaut wurde und bewegten sich erst, wenn der Fotograf seinen Apparat wegtrug. Er hatte ein beschichtetes Glas in den Apparat geschoben, das in einer chemischen Flüssigkeit entwickelt werden musste. Dann musste dieses Glas nochmals auf ein lichtempfindliches Papier gelegt werden und wurde ebenfalls noch einmal belichtet - Kontaktabzug nannte sich das dann. Nach einer Woche konnte man das fertige Bild mit den bestellten Abzügen für Tante Emma und Oma abholen. Das war kein billiges Vergnügen, aber man tat es, weil es die anderen auch taten.

Nach dem Krieg konnte sich Otto Normalverbraucher für wenig Geld eine kleine schwarze Box mit einer Linse und einem merkwürdigen Innenleben kaufen. Ein Rollfilm wurde inwendig aufgewickelt und wenn er voll war, brachte man ihn zum Fotografen. Später gab es dann schon Geschäfte, die einen Apparat von der Größe einer Speisekammer in den Geschäftsräumen aufgestellt hatten. Dort konnte man warten und bekam nach ein-zwei Stunden Bilder und Film, so dass man schon am gleichen Tag sehen konnte, was man vor einigen Stunden aufgenommen hatte. Das klappte mit fast allen Filmformaten.

Komfortabler war dann aber die Polaroid-Kamera, die mit Spezialfilm gefüttert wurde. Nach dem Belichten begann eine Walze, die motorisiert war einen Quetschvorgang und nach ein-zwei Minuten war das Bild fertig - klein, farbig aber nicht repräsentativ und es war ein Unikat. Abzüge davon waren teuer und schlecht.

Bis zur Jahrtausendwende versuchten sich die großen Kamerahersteller wie Kodak, Agfa, Minolta und wie sie alle heißen mit neuen Formaten. Aber da drängelte sich auch schon für teures Geld die Digitalfotografie auf den Markt. Keiner glaubte daran, dass das mal der große Renner werden würde und heute? Die Apparate werden täglich billiger, die Pixeldichte erreicht sehr hohe Werte, trotzdem kommt die Auflösung noch nicht an die alten Medien ran, aber das wird bald soweit sein.

Die alte Glühbirne, erfunden von ‚olle‘ Edison, ist nun auch schon dem Tod geweiht. In den Wohnzimmern brannten 100 Watt-Birnen, die mehr heizten als Licht abgaben, aber wen kümmerte das? Über ein Jahrhundert leuchtete sie mit angeblich warmem Licht, wir sind mit ihr groß geworden! Das war ein luftleer gepumptes birnenförmiges Glasgehäuse, in dem ein Glühfaden aus Wolfram oder ähnlichem Metall zu glühen anfing, wenn er an Strom angeschlossen wurde. Irgendwann entdeckte man in Brüssel bei den Europäern, dass dieses Wunderwerk zu verschwenderisch mit unserer Energie umging. Es müssen jetzt Energiesparleuchten auf Quecksilberbasis oder Leuchtdioden verwendet werden, die eine höhere Lichtausbeute bei weniger Energieverbrauch bringen - auch ganz anders als früher.

Wir betanken unsere Autos anders als vor 50-60 Jahren. Damals manchmal noch mit Pumpen, die wir selber bedienten, heute verlassen wir uns auf elektrische Pumpen, die wir nicht mehr kontrollieren können und lesen von Displays - dazu sagten wir früher Zählwerke - Zahlen ab, denen wir blind vertrauen. Ich weiß nicht, wieso sich darüber noch keiner beschwert hat, denn ob sie richtig ticken, weiß niemand zu sagen.

So ist das auch, wenn wir „geblitzt“ werden. Da vertraut die Polizei oder Gemeinde-verwaltung, die den Blitzer aufgestellt hat, irgendwelchen TÜV-Berichten, die Eich-vorgänge bescheinigen, die niemand nachprüfen kann. Wir müssen denen glauben, denn die Gerichte kennen keinen Spaß, wenn wir dagegen mokieren!

Finanzamt, Rentenstelle, Arbeitgeber, Familienkasse oder Sozialamt berechnen Leistungen, die wir nicht nachprüfen können. Ich habe z.B. bei fast den gleichen Voraussetzungen im letzten Jahr vom Finanzamt um 1400 Euro zuviel gezahlte Steuern erstattet bekommen, in diesem Jahr ist es gerade mal etwas mehr als die Hälfte. Ich kann das nicht nachprüfen und muss davon ausgehen, dass mir letztlich kostenpflichtig der Kopf gewaschen würde, weil „...das völlig richtig war!“

Einer meiner Kollegen sagte noch vor gut 25 Jahren in dem ihm eigenen Humor: „Früher hatten wir noch einen Kaiser...“ und wenn etwas kaputt ging, was wir nicht mehr alleine reparieren konnten: „...früher war alles aus Holz!“

Wir leben in der Gegenwart, da ist eben alles anders als früher. Daran haben wir uns ja mittlerweile gewöhnt - okay, wir mussten, es blieb uns ja weiter nichts übrig. */ Die Zeitansage wurde bereits in den 1930er Jahren automatisiert, die Stimme kam von einem eigens dafür eingerichteten hochkomplizierten Grammophon.
Die Vorwahl 119 galt von den 1960er bis in die 1980er Jahre, dann wurde eine 0 vorangestellt, also 0119. Später wurde die Zeitansage ein Mehrwertdienst und musste sehr umständlich unter 01804 100 100 kostenpflichtig angerufen werden. In der DDR gab es die genaue Zeit unter 019.

 

Heinz lacht

von Uwe Neveling erstellt Oktober 2012

Von einem Bildschirm blickt ein freundlich drein blickender Heinz auf den Sarg, in dem er liegt. Um den Sarg hat man die Kränze und Blumen der Familie und der Freunde feierlich aufgereiht Es ist nur ein kleiner Raum. Es sind zweiundzwanzig Trauergäste, die von Heinz Abschied nehmen. Ich habe sie gezählt. Der Ort, an dem wir uns eingefunden haben, liegt inmitten eines Industriegebiets. Auf den Zufahrtswegen herrscht reger Verkehr. Manchmal wird es sogar etwas laut, wenn Motorräder, vor allen Dingen Harleys, vorbei donnern. Auf die „Traueroase“ - so nennt sich der Ort des Gedenkens - wird keine Rücksicht genommen. Im Trauerraum ist aber vom Straßenlärm nichts zu hören.

Ich blicke auf das Kranzarrangement. Die Kränze sehen sehr teuer aus. Ich kann das beurteilen. Ich habe auch einen Kranz bestellt, natürlich mit Schleife. Darauf sollte stehen: Heinz, Du warst einer von uns. Wir vergessen Dich nicht. Und dann die Vornamen. Doch ich finde diesen Kranz nicht. Ich spreche mit dem Beerdigungsunternehmer. Da wurde keiner mehr geliefert, versichert man mir. Man ist ratlos. Da es ein Urnenbegräbnis ist, werden Blumen und Kränze nach der Trauerfeier zum Urnengrab expediert. Sollte der Kranz noch eintreffen, würde man ihn ebenfalls zum Urnengrab mitnehmen. Im Übrigen fühlt man mit mir. So etwas wäre noch nicht vorgekommen. Ich hinterlasse meine Telefonnummer.

Zwischenzeitlich beginnt die Trauerfeier mit einer swingenden Melodie. Michael hatte mich bereits vorgewarnt. Ich müsste mit einer Trauerfeier der anderen Art rechnen. Da Heinz keiner Kirche angehört, wird vom Unternehmen ein Redner gestellt. Der hatte sich zwei Stunden mit der Familie unterhalten und daraus ein sehr persönliches Konzept entwickelt. Die Rede beginnt mit der Erläuterung des Begriffs Trauerfeier. Feier hat sich aus dem Wort Frei entwickelt. Das bedeutet, dass die Trauergäste sich für den Verstorbenen frei genommen haben, um seiner zu gedenken. Auch für die brennenden Kerzen hat er eine Erklärung parat. Sie sollen die Wärme des Verstorbenen auf die Anwesenden übertragen. Ich bin etwas irritiert und frage mich, wann der Redner endlich zur Sache kommt. Und das macht er dann auch. Er schildert Heinz als einen warmherzigen, humorvollen Menschen. Er spricht die Familienmitglieder einzeln an. Für Jedes Mitglied gibt es eine passende heitere Begebenheit. Er übertreibt nicht. Er ringt der Trauergemeinschaft ein befreiendes Lächeln ab. Aus Tiefpunkten in seinem Leben hat Heinz sich immer wieder frei machen können. Dazu gehörten der Verlust eines Auges und der Kriegstod seines Bruders. Seinem Bruder wollte er immer nacheifern. Das ist ihm wohl zu seiner Zufriedenheit auch gelungen. Der berufliche Werdegang mit seinen Höhen und Tiefen wird geschildert. Die ihm eigene Menschlichkeit hat er auch als Chef der Betriebstechnik nicht verloren. Aus seinem Beruf kommt seine Vorliebe für Statistiken. Das musste seine Kegelmannschaft bewundernd zur Kenntnis nehmen. Er liebt das Reisen, die schönen Künste jeglicher Art und vor allen Dingen die Musik. Schon früh besitzt er ein Akkordeon. Mit Akkordeonmusik endet die Rede. Wir alle sind gar nicht mehr traurig. Heinz lebt in unserer Erinnerung weiter. Im Restaurant Waldesruhe gibt es Kaffee und Kuchen. In diesem Lokal haben wir auch den achtzigsten Geburtstag von Heinz gefeiert. Es herrscht eine aufgelockerte Stimmung.

Nur meine Stimmung liegt in der Nähe des Nullpunkts. Wo ist der Kranz? Ich erzähle Gisela und Michael von meinem Missgeschick. Ich erhalte Trost und verspreche, nach dem Verbleib zu forschen. Am nächsten Tag gehe ich zu meinem Fleurop-Laden. Die Blumenhändlerin versucht, die ausliefernde Stelle zu erreichen. Das schlägt eine Zeitlang fehl. In der letzten Zeit hört man so viel von Insolvenzen. Ich reihe den Laden gedanklich in die insolventen Unternehmen ein. Doch da kommt ein Gespräch zustande. Man will die Chefin befragen und verspricht zurückzurufen. Ich warte ungefähr eine Viertelstunde. Der Rückruf kommt nicht und wir rufen wieder an. Wir erreichen die Chefin. Die hat zwischenzeitlich herausgefunden, dass der Kranz samt Schleife zum Friedhof in Reinbek geliefert worden ist und nicht - wie vereinbart - zur „Traueroase“. Ich stelle mir vor, wie der Kranz in der dortigen Trauerhalle abgelegt worden ist und das Grab eines anderen Verstorbenen namens Heinz schmückt. Die Chefin ist am Boden zerstört Ich höre mit und erfahre, dass ihr so etwas noch nie passiert wäre. Das hatte ich doch schon mal gehört. Ich habe mittlerweile den Telefonhörer von meiner Händlerin bekommen und versuche, die sich am anderen Ende der Leitung in Entschuldigungen Ergehende zu trösten. So weit ist es schon gekommen. Der Geschädigte versucht, den Verursacher moralisch wieder aufzurichten. Ich komme gar nicht zu Worte. Ich höre immer wieder, dass es ihr Leid tut und sie alles unternehmen will, um es wieder gutzumachen. Sie holt tief Luft. Das ist meine Chance. Ich schlage vor, dass sie sich mit der „Traueroase“ in Verbindung setzt und den Kranz nachträglich unserem Heinz zukommen lässt. Ich bitte auch um ein Kranzfoto, dass sie an meine Email-Adresse schicken soll. Ich habe den Eindruck, dass ihr beim Notieren meiner Adresse vor lauter Aufregung der Kugelschreiber mehrfach aus der Hand fällt. Erst meine auf-munternden Worte bringen sie wieder ins Gleichgewicht. Ich hätte alles von ihr haben können. Ich will aber nur ein Foto. Sie will - das hat sie mir auch versprochen - einen besonders schönen Blumenschmuck (mit Schleife) für das Urnenbegräbnis herstellen. Auch hierfür bitte ich um ein Foto, das sie mir unter Tränen zusagt. Ich beende das Gespräch und wünsche ihr gute Besserung.

Ich bin davon überzeugt, dass Heinz über die Kranzodyssee schallend gelacht hätte. Die Odyssee ist noch nicht zu Ende. Den Worten müssen schließlich noch Taten folgen. Ich höre Heinz im Hintergrund immer noch lachen, denn Tote leben bekanntlich länger. Vor allen Dingen dann, wenn es was zu Lachen gibt.

 

Abschied von meinem Großvater

von Ingrid von Husen

Am 1. Mai 1949 starb mein Großvater im Alter von nur 69 Jahren. Es war das erste Mal, dass ich mit meinen 14 Jahren so unmittelbar mit dem Tod konfrontiert wurde. Zwar hatte ich im Krieg um mich herum viel Tod, Zerstörung und Leid gesehen. Aber dies war doch etwas anderes. Er war der Freund meiner Kindertage und meine einzige männliche Bezugsperson.
Wie krank er war und was ihm überhaupt fehlte, hatte man mir nie gesagt. Es wurde wenig über Krankheiten und überhaupt über Persönliches gesprochen.
An seine Beerdigung kann ich mich noch sehr gut erinnern. Sie fand an einem sehr kalten Maitag statt und es war eine Erdbestattung.
In der Kapelle, bei der Trauerfeier, habe ich wie ein Schlosshund geheult. Auch weiß ich, dass ich etwas später am offenen Grab furchtbar gezittert habe, vor Kälte, aber auch vor innerer Erschütterung. Da ich das alles zum ersten Mal erlebte, konnte ich nicht fassen, dass nun ein geliebter Mensch in diese Grube versenkt und ihm obendrein noch Erde hinterher geworfen wurde.
Außer meiner Mutter hatten meine Großeltern noch drei Kinder, die jetzt alle mit ihren Ehepartnern und mit meiner Mutter Großmutter und mir, ein nahe gelegenes Lokal ansteuerten. Zum „Fellversaufen“, wie es einer meiner Onkel nannte.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Eben am Grab waren sie alle – so schien es mir wenigstens – noch betroffen und jetzt wurden alle innerhalb kurzer Zeit puppenlustig!
Da ich die Einzige zu sein schien, die hier überhaupt trauerte und immer noch vor Kälte schlotterte, flößte mir irgendwer einen Schnaps ein, mit den Worten, dass ich mich danach wohler fühlen würde. Aber der Schuss ging nach hinten los! Überhaupt nicht alkoholerprobt, aber durch den Schnaps sehr mutig geworden, beschimpfte ich nun die ganze Gesellschaft. Sie seien ganz "falsche Fuffziger und große …" (das Wort mag ich hier nicht wieder geben)! Ich bekam noch zu hören, dass der „Olle“ auf seiner Wolke beleidigt wäre, wenn wir nicht tüchtig feiern würden, was mich nur noch mehr empörte!
Meine Mutter war der einzige Mensch, der mich zu verstehen schien. Sie packte mich kurz entschlossen, um mit mir diese Gesellschaft, die sich – da bin ich mir heute ganz sicher, über mich amüsiert hat – zu verlassen.
Zu Hause haben wir beide uns noch lange über Opa unterhalten, was mir sicher besser bekommen ist, als das in meinen Augen unmoralische Besäufnis.

 

Erbstück

von Uwe Neveling erstellt am 04.08.2011

„Oma, wenn Du stirbst, krieg ich dann Deine Uhr?“ Es war Kusine Christa, die unserer Großmutter diese Frage stellte. Und alle lachten. Uns Kindern war nicht klar, dass Sterben den Verlust eines Menschen bedeutete. Hätten wir es gewusst, dann hätten wir so etwas nicht gefragt. Dafür hatten wir unsere Großmutter viel zu lieb.

Jahre später wussten wir, dass der Tod zum Leben gehört. Und wenn ein Mensch dann nicht mehr da ist, musste man sich um seine Hinterlassenschaften kümmern. In vielen Fällen hatte der Verstorbene testamentarisch verfügt, was damit geschehen sollte. Um bedacht zu werden, musste man sich zu seinen Lebzeiten mit ihm gut stellen. Wer allerdings nur wegen einer Erbschaft freundschaftliche Kontakte pflegte, war kein guter Mensch. Zu solchen Menschen wollte ich nicht gehören.

Nachdem meine Großmutter mit 72 Jahren verstorben war, lebte unser Großvater alleine als Untermieter in einer großen Etagenwohnung. Er bewohnte zwei Zimmer. Eine Haushälterin versorgte ihn vormittags. Sie machte sauber und kochte für ihn. Er liebte ausgedehnte Spaziergänge und einmal im Monat kümmerte er sich um die Armenpflege in unserer Stadt. Für sein soziales Engagement erhielt er später sogar das Bundesverdienstkreuz. Er hatte eine Leidenschaft, das Kartenspielen. Von Skat oder Doppelkopf hielt er nicht viel; für ihn gab es nichts Schöneres als ausgiebig Sechsundsechzig zu spielen. Nachdem unsere Großmutter nicht mehr lebte, war ich sein bevorzugter Spielepartner.

Er wohnte in meiner Nähe. Ich brauchte nur den Freigrafendamm herunter zu gehen und die Wittener Str. zu überqueren. Ich ging dann auf der linken Straßenseite bis zur zweiten Straßeneinmündung. Hier in der Rombergstr. 18 war er zu Hause. Er freute sich jedes Mal, wenn ich kam. Ich klingelte zweimal. Untervermietete Wohnungen hatten ein eigenes Klingelzeichen. Er wusste, dass der Besuch dann ihm galt. Nach der herzlichen Begrüßung, griff er in die kleine Uhrentasche unterhalb des Hosenbundes, zog eine Taschenuhr heraus und nahm die Zeit. Er tat das unbewusst, er tat es aber jedes Mal, wenn ich kam.

Die Uhr hatte es mir angetan. Sie glänzte silbern und auch die Kette war aus Silber. Die Uhr hatte ein schwarzes Zifferblatt und viele Zeiger. Neben dem Stunden- und Minutenzeiger gab es einen Sekundenzeiger. Das war eigentlich nichts Besonderes, das haben fast alle Uhren. Nur hatte dieser Sekundenzeiger einen eigenen kleinen Kreis, der mit sechzig Strichmarkierungen unterteilt war. Immer dann, wenn der Sekundenzeiger den Kreis einmal durchlaufen hatte, rückte der Minutenzeiger einen Teilstrich vor. Oberhalb des Sekundenkreises gab es einen weiteren Kreis mit 30 Teilstrichen. Der in diesem Kreis montierte Zeiger war dem Stoppuhrmechanismus zugeordnet. Die Taschenuhr war also auch eine Stoppuhr. Immer dann, wenn die Taste für die Stoppuhr gedrückt wurde, lief ein großer Sekundenzeiger auf dem Stundenkreis los. Er brauchte genau sechzig Sekunden von der Zwölf bis zur Zwölf. Wenn er die Zwölf überschritten hatte, erhielt der Stoppminutenzeiger einen Impuls und lief einen Teilstrich weiter. Auf dem Ziffernblatt waren noch weitere Teilstriche und Ziffern markiert. So konnte man zum Beispiel auch Stundenkilometer errechnen. Die Uhr hatte für mich fast schon astronomische Dimensionen. Den Zeigern, Ziffern und den vielen Kreisen mit ihren Unterteilungen hatte man eine goldene Farbe gegeben. Gold auf Schwarz sah gut aus und setzte sich vom silberfarbenen Gehäuse deutlich ab. Die Uhr war in der Schweiz produziert worden. In einem der Kreise erblickte man den Herstellernamen LANCEL.

Ich weiß nicht, ob die Uhr wertvoll war. Für meinen Großvater hatte sie aber einen hohen ideellen Wert. Sein Sohn - der im Krieg gefallen war - hatte sie ihm geschenkt. Und dieser Sohn war mein Vater. Das ist dann wohl auch der Grund gewesen, warum ich diese Uhr geerbt habe. Ich glaube nicht, dass mein Großvater die Uhr nur deshalb an mich weitergegeben hat, weil ich ihn beim Kartenspielen habe gewinnen lassen.

 

Aber Du wirst nächstes Jahr schon 76!

von Fritz Schukat Februar 2011

Xmal haben wir im letzten Jahr dieses Spielchen gespielt. Es begann immer mit dem Satz „Ick bin ja erst 75, aber Du …“ siehe oben. Irgendwie stimmte diese Rechnung, nur – mein Freund wurde im Januar 1935 geboren und ich im Dezember. Es hörte sich toll an, war aber genau umgekehrt und änderte nichts an der Tatsache, dass er fast ein Jahr älter war als ich. Das war auch der Grund, weshalb wir uns in der Schule erst in der 10. Klasse näher kamen.

Natürlich kannte ich ihn schon früher, er war nämlich Pausenaufseher und hatte dafür zu sorgen, dass kein Kind in der Pause zurück in sein Klassenzimmer gehen konnte. Die Schüler sollten sich austoben und Sauerstoff tanken, war die von den Lehrern ausgegebene Devise. Ob mein Freund jemals den Schulhof während einer Pause gesehen hat, habe ich schon an anderer Stelle stark bezweifelt. Damals war er eine Klasse weiter als ich.

Es muss im Jahre 1952 gewesen sein, als in Berlin die 13. Klasse an den Oberschulen eingeführt wurde. Von da an konnte das Abitur erst nach dem 13. Schuljahr „gebaut“ werden. Ganz so schlimm waren die Folgen für die damals in der 12. Klasse anstehenden Abiturienten aber nicht. Sie mussten nur etwas mehr als ein halbes Jahr warten, denn das Schuljahr wurde nicht mehr vor den Großen Ferien sondern schon vor Ostern beendet. 1952/53 war also ein kurzes Schuljahr.

Weshalb aber gerade mit dieser Umstellung so viele Schüler sitzenblieben, darüber kann man nur noch spekulieren. Wahrscheinlich hatten die Pädagogen die Gelegenheit genutzt, schwache Schüler zurückzustellen, um ihnen dann tröstend zu erklären, dass es ja nur knapp 9 Monate seien, die sie länger zur Schule gehen müssten.

Mein Freund „erlitt“ ebenfalls dieses Schicksal. Wenn wir gelegentlich mal vom „Sitzenbleiben“ sprachen, „fuchste er sich einen“ und erklärte , „...ick bin ja nur zurückjestellt worden“, „...aber Du“, und dann gab er mir immer einen Stich, „Du bist ja würklich sitzenjebliem!“ Auch das stimmte, war aber eben nur die Hälfte der Wahrheit. Natürlich war das eine Lachnummer. Unsere inzwischen feste Freundschaft vertrug solche Späßchen allemal.

Heinz kam damals nicht allein in unsere Klasse. Wenn ich mir das nachträglich überlege, waren viele Schüler dabei, die aus dem Ostsektor oder aus den grenznahen Berliner Vorstädten wie Schulzendorf, Zeuthen oder Eichwalde kamen. Auch Manfred B., Ingo Sch., Erhard H. und Karin R., die 30 Jahre später sogar den Erhard heiratete! Sie waren alle dabei, als wir im Jahre 2005 in Berlin das Goldene Abitur feierten – ich war ebenfalls eingeladen mitzufeiern, wir waren ja viele Jahre zusammen. Wenn man sich die Karrieren der „Sitzenbleiber“ übrigens mal genau anschaut, kommen die wundersamsten Dinge heraus: Manfred, Ingo, Karin und Erhard haben studiert und ihren Doktor gebaut, Heinz ist lange Jahre gefeierter Fernsehstar gewesen und hat auch etliche Bücher geschrieben. Haben sich unsere Lehrer damals vielleicht doch geirrt? Na ja, aber geschadet hat es sicher nicht.

Den Spaß mit den verdrehten Altersangaben kann ich nun leider nicht mehr machen. Mein Freund ist im November des letzten Jahres gestorben. Ich bin im vergangenem Dezember 75 Jahre alt geworden. In diesem Jahr hätte ich Heinz mit der Feststellung verblüffen können, dass ich im nächsten Jahr 77 würde! Hätte.

Seinen 76. Geburtstag haben wir leider nicht mehr feiern können, aber an seinem Geburtstag habe ich ganz intensiv an diesen Spaß gedacht.

 

Abschied nehmen

von Fritz Schukat, März 2011

Wie oft haben wir Abschied genommen! Von der Schule, von der Familie, von Arbeitskollegen. Meist waren wir diejenigen, die weggingen, neue Wege such-ten, die in die Ferne führten, weg vom Altvertrauten. Privileg der Jugend.
Mancher musste früh von lieben Menschen Abschied nehmen. Bei dem einen blieb der Vater im Krieg. Gefallen für's Vaterland, hieß es. In der Ferne begraben. Unsere Mutter wurde nur 38 – Tbc. Hatte sie sich 1945 auf der Flucht zugezogen. „Du fehlst uns...“ stand auf der Schleife im Juni 1947.
Schulabschluss, Ende der Ausbildung - und wieder Abschiedsstimmung. Verlobung, Hochzeit, weg von Zuhause!
„Wir wollen niemals auseinander gehen...“ Heidi Brühl sang das vor 50 Jahren. Wir bekamen die Single zur Hochzeit. Sieben Jahre später die Scheidung. Raus aus Berlin. „Sie werden uns fehlen!“ Von den Kollegen bekam ich 1967 ein kleines Bilderbuch mit launigen Sprüchen. Artiger Kotau, schnell vergessen. Ein neuer Kollege kam, und es ging ohne Unterbrechung weiter.
Fünf unruhige Jahre folgten. Über Celle, Saarbrücken und Mainz kam ich nach Hamburg. Immer wieder Tschüßi, Adele, Mach's gut!
1982 Intermezzo in Berlin. Nach fast einem Jahr wieder „Sie werden uns fehlen!“ Jemand kritzelte den Spruch auf die eine Seite, 10-12 Unterschriften standen auf der anderen. Die „Eins-fuffzich“-Karte hab ich vor ein paar Tagen noch in der Hand gehabt. Ich hab sie „entsorgt“ - wen interessiert das denn noch? Meine Erben können damit nichts mehr anfangen.
Dann kam der endgültige Abschied aus dem Berufsleben. Aber, Gott sei Dank, nicht mehr mit dieser „Sie werden uns fehlen“-Mentalität. Der potenzielle Nachfolger stand schon in den Startlöchern „...na, hoffentlich geht der Alte bald!“
Der Chef kam extra aus Berlin! Über 60 Kolleginnen und Kollegen tranken Sekt auf mein Wohl! Abschied aus dem Berufsleben. Wenn man das Alter erreicht hat, dann ist das so – unwiderruflich.
Eine Zeitlang genießt man „die neue Freiheit!“
Und dann gehen die anderen, denen wir zurufen „...mach's gut!“ In letzter Zeit viel zu oft mit gesenktem Haupt.

Ich fand diese Sprüche:

Zum Leben gehören immer auch schwere Entscheidungen: Enttäuschungen, Trauer, Abschied - aber zum Glück auch wunderbare Menschen.
Unbekannt

Es ist irgendwie seltsam, wie beschissen leer ein Leben sein kann, wenn nur eine einzige Person darin fehlt...