Unsere Erlebnisse

Erlebnisse auf dieser Seite

Das Kind macht sich nützlich von Jürgen Hühnke
Tante Pia von Dieter Fleischmann
Der Kakaoabend von Petronella Schukat
Billiger Ersatz von Uwe Neveling
Silvester, bum, bum. von Uwe Neveling
Ostern von Uwe Neveling
Anstand von Pit Dwinger
Der Krieg der Knirpse von Hans Meier
Der Negerkuss von Jürgen Hühnke
Das Gespenst! von Edith Kollecker
Glück gehabt! von Jürgen Hühnke
Kindermund, oder wie kläre ich mein Kind auf? von Ingrid von Husen
Mein erstes Tauschgeschäft! von Edith Kollecker
Talente von Fritz Schukat
Brillenschlange von Fritz Schukat
Ein Mädchen namens Max von Fritz Schukat
Der kleine Sadist von Heinz Münchow
Kinderlandverschickung von Heinz Münchow
Unser Schwarzsee von Edith Kollecker
Ostern der besonderen Güte! von Edith Kollecker
Meine erste Begegnung mit dem Tod von Edith Kollecker
Mein Leid mit den Strümpfen von Edith Kollecker
Konfirmation 1949 von Edith Kollecker
Erinnerungen an einen Winter in Pommern von Edith Kollecker
Ein tierisches Erlebnis! von Edith Kollecker
Ein Junge weint nicht... von Edith Kollecker
50 Jahre Sandmännchen von Annemarie Lemster
Brausepulver und Bananen von Annemarie Lemster
Bullenmilch von Annemarie Lemster
Mein Metallbaukasten von Bernd Schwiers
Kindheit im Dritten Reich von Jürgen Hühnke
Kinderspiel von Jürgen Hühnke
Das Spielzeugauto von Jürgen Hühnke
Ritterlicher Minnedienst von Jürgen Hühnke
Fitschern von Jürgen Hühnke
Boot unter von Hans Meier
Milchzähne von Fritz Schukat
Seepferdchen, Frei- und Fahrtenschwimmer von Fritz Schukat
Ausland von Uwe Neveling
Blechdose und Tanne von Uwe Neveling
Eine Mutter berichtet von Uwe Neveling
Freischwimmer von Uwe Neveling
Sommer von Uwe Neveling
Wasser für Mensch und Tier von Heinz Münchow
Überschwemmungen von Annemarie Lemster
Die Sammeltasse von Annemarie Lemster
Meine Straße von Uwe Neveling
Frau Groß posiert barbrüstig von Jürgen Hühnke

 

Das Kind macht sich nützlich

von Jürgen Hühnke

Der Obst und Gemüsehof meines Großvaters, eine für Notzeiten wie die frühen Nachkriegsjahre gedeihliche Selbstversorgungsanlage, lag am äußersten Stadtrand von Stade etwas abseits einer großen Ausfallstraße, an der sich noch dörfliche Struktur durchsetzte: Bauernhöfe und Handwerksbetriebe, nämlich eine Tischlerei, eine Zimmerei und eine Schlosserei; zum Einkaufen freilich musste man die drei Kilometer „in die Stadt" mit dem Bus zurücklegen.

Auch für Kinder und Heranwachsende gab es hier genug zu tun, je nach Alter, Kraft, Geschick und Vernunft. Das begann mit dem sog. „Spreenhüten", d. h. dem Verjagen der in die Kirschen einfallenden Stare, setzte sich fort im Gießkannenschleppen zwecks Bewässerung der Erdbeerfelder und im Abernten der Apfelplantage und der sie umstehenden Haselnussbüsche.

An zwei Seiten bildeten Gräben die äußere Grenze. Sobald ich hinreichend kräftig war, oblag die Sauberhaltung dieser Gewässer mir. Mit Langschäftigen versehen, stapfte ich dann durch die flachen Fluten und rupfte heraus, was da nicht wachsen sollte. Da war Qualitätsarbeit gefragt, da war Opa ganz eigen und noch um einige Grad pedantischer als die Inspektoren vom Marschenbauamt bei der sommerlichen Grabenschau.

Einiges an Tätigkeiten fiel an für mich, wenn eines der drei Schweine geschlachtet wurde - nicht am Arbeitstisch des Hausschlachters natürlich, auch wenn man am Probieren des gesalzenen und gepfefferten Metts gern teilgehabt hätte. Der Transport jener Fleischmengen, die nicht als Wurst oder Sülze in Darm und Blase oder die als Ganzes in der Räucherkammer verschwanden, war meine Sache.

Eine vom Schlosser mit Rädern von Drahteseln versehene Kastenkarre wurde mit gefüllten Dosen und aufgelegten Deckeln vollgestellt und mir die ganze, höchst wacklige Angelegenheit logistisch anvertraut für den Weg zum Schmied, der dann die Dosen mit einer überbordelnden Rädelmaschine hermetisch verschloss. Eine andere Art des Transports, jetzt von Rohprodukten, lag für mich an, wenn es ans Brotbacken ging. Oma, eine exzellente Küchenfee, knetete einen Teig und formte zwei Laibe daraus, die mir auf eine Schiebkarre gelegt wurden, damit ich sie zum nächsten Bauern mit Backofen brächte. Diesen erreichte ich am besten über ein Feld, wenn es gerade gepflügt oder just abgeerntet war, im ersten Fall über eine Ackerfurche. Mit den noch heißen Brotlaiben ging es auf gleichem Weg retour.

Es gab also viele Möglichkeiten für ein Kind, sich nützlich zu machen. Da schwellte sich manchmal stolz die Brust ob der Verantwortung und des Geschicks. Schließlich gehörte nicht eben viel Tapsigkeit dazu, Teigrohlinge oder dampfende Brote in gute deutsche Scholle zu kippen.

Die Drahteselkarre wurde oft auch mit Spargel, Erdbeeren und Kernobst beladen und durch mich in die Stadt zu den Abnehmern geschoben. Das hatte einen enormen Vorteil, indem die belieferten drei Kinobesitzer mir zum Dank Dauerabonnements für die meisten Filmvor-führungen spendierten. Wer das Dolcefarniente genießen will, darf nun einmal eine gehörige Fron nicht scheuen.

 

Tante Pia

von Dieter Fleischmann erstellt am 24. August 2014

Tante Pia war gar nicht meine Tante, sondern unsere Nachbarin in der Lenaustraße in Berlin-Neukölln im vierten Stock. Unsere Wohnungen lagen direkt nebeneinander und waren gleich geschnitten, mit den Fenstern und Balkonen über den hohen Robinienkronen der Straßenbäume. Von Balkon zu Balkon konnten wir uns zuwinken, was ich als kleiner Junge auch gerne tat.

Pia war von hagerer Gestalt, um nicht zu sagen dürr. Beim Sprechen klapperte ihr Gebiss, was sie nicht daran hinderte, erst einmal eine Zigarette zu rauchen, wenn sie nervös wurde. Verheiratet war sie mit Häns‘chen Sittner, der vor dem Krieg aus dem Sudetenland gekommen war.

Wenn Pia mit mir in den Jahnpark zum Buddeln ging - sie hatte keine Kinder - kamen wir auf dem Rückweg über den Hermannplatz an Häns‘chens Arbeitsplatz vorbei. Er saß in einem Fahrkartenhäuschen der U-Bahn und knipste die Fahrscheine oder verkaufte sie.

Anschließend bekam ich im „Hammer“ an der Urbanecke oder im „Blauen Affen“ eine Fassbrause, bevor es den Kottbusser Damm entlang zurück in die Lenaustraße ging.

Hänschen war nicht sehr gesund und starb bald, so dass Pia ihre Schwester Else aus der Schönleinstraße zu sich holte. Sie hatte eine sehr dicke Brille und war sehr energisch, obwohl sie nur eine kleine Person war.

Pia kümmerte sich um mich, während meine Mutter am Küchenfenster an der Nähmaschine saß und die Kinderkleider zusammennähte, die meine Großmutter in der Pannierstraße zugeschnitten hatte und die dann später am Tauentzien in den feinen Geschäften teuer verkauft wurden. Bei meiner Großmutter und meiner nähenden Mutter blieb nicht viel hängen, obwohl sie viele Stunden am Tag mit den Kleidern zubrachten.

Mit mir hatte meine Mutter meist Ärger, weil ich in der Küche spielte, wo sie am Fenster an der Nähmaschine saß, meine Spielsachen aus dem „Kohlenkasten“ in der Küche verstreute und sie nicht wieder wegräumen wollte.

Meine Mutter war genervt und schimpfte mit mir, wenn ich meinen Bock bekam und schließlich verprügelte sie mich mit dem Teppichklopfer und sperrte mich in die dunkle Toilette. Da war ich froh, wenn ich zu Pia hinüber durfte. Hier fühlte ich mich wohl. Es war wie ein zweites Leben. Aus Wollresten wurde mit Hilfe einer Holzspindel ein dicker Faden gewebt, den ich meinem Teddy aus Paris - ich hatte ihn von meinem Vater - um den Hals als Schal legen konnte.

Als der Krieg vorbei war, wir aus Schlesien und Thüringen wieder in Berlin waren, lernte ich bei Tante Pia ganz andere Dinge.
Der neue weiße Teddy - der Pariser war in Schlesien auf der Flucht vergessen worden - musste einen Schal und eine Jacke bekommen.

Um sie herstellen zu können, lernte ich bei Tante Pia stricken. Auch das Stricken kleiner Decken mit Blumenmuster wurde mir beigebracht. Um die Decken herum häkelte ich einen blauen oder roten Rand.
Das brachte meinen Vater auf die Palme: „Was macht Ihr mit meinem Sohn?“ Er war richtig wütend. „Er soll auf der Straße Fußball spielen, sich zu verteidigen wissen, aber doch keine Weibsarbeit machen!“ Einmal sagte er zu mir: „Wenn Du weinend von der Straße hochkommst, werde ich Dich auch noch verprügeln.“ Jungen haben auf der Straße herumzurennen, sich mit gleichaltrigen Kindern zu zanken und zu streiten, dachte er sicher.

Pias Mann war dagegen von einer Sanftmütigkeit, die beruhigend auf mich wirkte. Von ihm stammt auch das Bild, auf das der Blick sofort fiel, wenn man in ihr Wohnschlafzimmer kam; es hing über dem Sofa: Böcklins „Toteninsel.“ Diese künstliche Stille, die nicht von dieser Welt war, hatte mich schon als Kind tief beeindruckt und nie wieder losgelassen.

Von „Häns‘chen“ erbte ich auch mein erstes Schachspiel mit gedrechselten Figuren. Im Schachspielen hat er wohl die Aggressionen ausgelebt, die er sich im richtigen Leben versagt hatte, ganz anders als mein Vater, von dem ich eine Ohrfeige zu unrecht erhielt, als er auf Urlaub von der Front bei uns war.

In der Hungerzeit 1945 - 1946 ging es uns nicht gut, aber wir wurden satt. Mein Vater hatte sich von Dresden aus nach Berlin durchgeschlagen, um die Wohnung zu retten. Wegen der großen Wohnungsnot nahm er einen Untermieter auf: Zundel. Der war Monteur bei Deutz in Köln und reparierte Motoren bei den Brandenburger Bauern und in Berlin. Getreide und Zuckerrüben waren oft seine Entlohnung, so dass es bei uns durch die Kaffeemühle geschroteten Weizen gab: morgens war der Brei in warmen Wasser geweicht, mittags in der Pfanne aufgebraten und abends eine der beiden Varianten. So mussten wir nicht von den Rationen der Lebensmittelkarten allein existieren, von denen man weder richtig leben noch sterben konnte.

Pia und Else ging es schlecht. Da sie nicht arbeiteten - Pia hat später Steine geklopft - bekamen sie die geringste Ration. Was es auf Marken gab, reichte nie, und so hungerten sie entsetzlich. Aber Not und Hunger machten erfinderisch und zerstörten jegliche Moral und alle Hemmungen.

Meiner Mutter fiel auf, dass während unserer Abwesenheit sich unser Brotlaib verringerte, ohne dass einer von uns sich eine Scheibe genommen hätte, weil wir nicht zu Hause waren.
Eines Tages überraschte meine Mutter Pia, die aus unserer Wohnung kam, denn die Schlüssel waren fast identisch und schlossen in beiden Türschlössern. Ich weiß nicht, wie Pia sich herausgeredet hat, aber sie war sehr verstört. Meine Mutter überging diese Angelegenheit, denn sie ahnte längst, dass der Hunger sie zu dieser Tat getrieben hatte.

Da mein Vater wegen seiner früheren Parteimitgliedschaft auf dem Bau gelandet war, bekam er eine bessere Lebensmittelkarte, was zusammen mit dem Zundel‘schen Brei zum Sattwerden reichte. Meine Mutter sorgte von nun an auch dafür, dass Pia und Else von unserem Brot auch etwas erhielten.

Für meine geistige Entwicklung war Pia auch mitverantwortlich. Sie schmökerte gern. Das war in Zeiten ohne Fernsehen noch eine beliebte Beschäftigung. Ich hatte in dem Zeitungsladen am Kottidie Groschenhefte „Die Deutschen Auswanderer“ entdeckt, in denen von einer Familie im 19. Jahrhundert berichtet wurde, die in den „Wilden Westen“ auswanderte. Die Hefte erschienen wohl alle 14 Tage und begeisterten mich und natürlich auch Tante Pia, die sie gegen ihre Arztromane austauschte. So erwarteten wir immer mit Spannung das nächste Heft. Leider sind die Hefte verloren gegangen.

Als ich älter wurde, lasen wir umfangreichere Werke.
Neben „Woolworth“ am Kotti gab es das „Buch“, das dem Herrn Nächster gehörte. Da viele Leute sich Bücher nicht leisten konnten, verlieh er spannende Romane für 30 Pfennige pro Woche. Pia und ich lasen sie gemeinsam, das war billiger. Hier lernte ich Winnetou, Tarzan, aber vor allem Zane Grays Wildwestromane kennen. Bis zu ihrem Untergang in den achtziger Jahren bin ich der Buchhandlung treu geblieben. Zusammen mit der Lesekultur in Neukölln starben diese Läden aus.

Pia ging auch mit mir ins Kino. Damals gab es einen spannenden und gruseligen Krimi: „Die Wendeltreppe“. Den wollte Pia unbedingt sehen, aber nicht allein, weil sie Angst hatte. So musste ich sie in das Spektakel am Kotti ins Kino begleiten.

Als meine Mutter schwer krank bei uns zu Hause lag und ich sie pflegte, half mir Pia und kochte für uns Kartoffelsuppe. Eines Morgens atmete meine Mutter nicht mehr und ich holte Pia, die den Puls fühlte und mich dann tröstete. Sie wollte zur Ärztin gehen, ich sollte meinen Großvater in der Pannierstraße, dem Vater meiner Mutter, Bescheid sagen. Inzwischen banden wir meiner Mutter noch ein Tuch um Kopf und Kinn, damit sich ihr Mund schloss und sie aussah, als würde sie schlafen. Es war der 10. August und der Geburtstag meines Großvaters, der bei der Nachricht heulte und jammerte, dass er noch weiterleben müsse.

Die Ärztin schimpfte mit uns, wir hätten der Kranken wohl zuviel Morphium gegeben.

Tante Pia sprang auch ein, als ich meine Examensarbeit schrieb und mein Vater wieder mit der Mietzahlung im Rückstand war. Das hatte zur Folge, dass unser Vermieter unseren maroden Kachelofen im Wohnzimmer nicht reparieren ließ. So saß ich im kalten Januar im ungeheizten Raum. Vor Pias Ofen konnte ich in wohliger Wärme meine schriftliche Examensarbeit abtippen.

Pia war so bescheiden, dass sie aus meinem Leben einfach verschwand, als sie nicht mehr notwendig war. Sie gehörte zu jenen Menschen, die gar nicht von dieser Welt sind.
Lag ihr Verschwinden wohl auch an mir?

erstellt am 24. August 2014
Erläuterungen

Robinien sind winterfeste hochwachsende Bäume, die ursprünglich aus Amerika kommen. Sie eignen sich vorzüglich für die Straßenbaumbepflanzung.

Sudetenland (auch Sudetengau) ist das Randgebiet um das Kernland der früheren Tschechoslowakei, das überwiegend von den deutschsprechenden Sudeten bewohnt wurde. Es wurde im Herbst 1938 von Hitler-Deutschland völkerrechtswidrig annektiert.

Der Jahnpark ist Teil des Neuköllner Volksparks Hasenheide, eines großflächigen Park inmitten des Häusermeers. Den volkstümlichen Namen „Jahnpark“ bekam ein Teil des Volksparks, weil „Turnvater Jahn“ dort Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung initiierte.

Mit „Kotti“ kürzt der Autor den „Kottbusser Damm“ ab, der am Neuköllner Hermannplatz beginnt und zum Kreuzberger Kottbusser Tor (Hochbahnstation) führt.
Die Lenaustr. und die Schönleinstr. sind Querstraßen zum Kottbusser Damm, vom Hermannplatz aus etwa 200-400 m entfernt.

Die beiden Lokale „Hammer“ und „Blauer Affe“ waren Großdestillen in unmittelbarer Nähe des Hermannplatzes, in denen man auch deftiges Essen (z.B. Eisbein mit Sauerkraut und Erbspüree) bekam.

Vor dem Krieg bereiste der Vater unseres Autors das europäische Ausland, u.a. auch Frankreich. So kam er zu seinem Pariser Teddy, der 1945 auf der Flucht aus Schlesien zurückgelassen wurde.

Parteimitgliedschaft: Fleischmanns Vater trat gemeinsam mit seinen Kollegen um 1936 in die NSDAP (Nazi-Partei) ein, weil sie sonst keinen deutschen Reisepass bekommen hätten, den sie für Auslandsfahrten mit der MITROPA, ihrem Arbeitgeber, benötigten. Nach dem Krieg wurde er anstandslos „entnazifiziert“.Die amerikanische Firma „Woolworth“ (Billig-Läden im Non-Food-Sektor) betrieb schon seit 1928 bis zu 300 Filialen in ganz Deutschland.

Arnold Böcklin malte in den 1880er Jahren insgesamt vier Versionen seines bekanntesten Motivs „Die Toteninsel“. Es wurde auch von anderen Malern aufgegriffen und sogar in einer Comic-Version verhunzt.

Unterstützende Recherche F. Schukat

 

Der Kakaoabend

Meine Mutter wurde im Krieg in Frankfurt am Main dreimal ausgebombt.
Sie wuchs im schönen Stadtteil Sachsenhausen auf und war ein echtes Frankfurter „Mädsche“.
Ihr wurde nach der letzten Ausbombung in einem anderen Stadtteil eine kleine Mansarden-Wohnung zugewiesen.
Mit den Kindern und unserer Oma, der Mann im Krieg gefallen, wohnte sie nun in der für sie beengten, auch vom Krieg beschädigten „Behausung“ und fühlte sich dort zu keiner Zeit wohl.
Zunächst musste meine Mutter uns Kinder alleine großziehen.
Sie arbeitete hart in einer Fabrik im Akkord, um uns zu ernähren.
Die Geschwister meiner Mutter, also meine eine Tante und zwei Onkels wohnten inzwischen in der Nähe.
Es ergab sich so, dass der große Treffpunkt aller Familien-Mitglieder bei uns zu Hause in der kleinen Mansardenwohnung stattfand.
Mein großer Bruder war schon in der Lehre und fast nicht mehr zu Hause.
Meine beiden Schwestern gingen noch zur Schule und ich dann auch.
Ich war ganz stolz, dass ich nicht mehr in den „Hort“ musste und nach der Schule mit fast 8 Jahren ein Schlüssel-Kind wurde.
Ich durfte abends meine Mutter nun häufig von der Arbeit abholen.
Es machte nichts aus, dass wir 2 km nach Hause laufen mussten.
Der Weg führte zweimal die Woche zu einer Metzgerei namens „Borst“.
Der Metzger kannte meine Mutter sehr gut und wusste, dass wir stets hungrig auf Wurst waren. Immer gab er meiner Mutter ein so genanntes „Päckchen“ zusätzlich mit. Es waren großzügige Wurst-Enden und Wurst-Abschnitte darin. Ein wahres Überraschungspäckchen. Und ich bekam meine geliebte Gelbwurst über den Ladentisch. Hm....lecker, wenn ich mich heute erinnere!

Der Freitag war ein besonderer Tag.
Da kamen Tante Gertrud, Onkel Emil und Onkel Franz zu uns und es wurde Rommé gespielt bis tief in die Nacht.
Meine eine Schwester und ich waren freitags in einem Turnverein.
Meine ältere Schwester war zu unsportlich und ging nie mit.
Dafür übernahm sie die Aufgabe, für das Wohl der Familie mit zu sorgen.
Sie half meiner Mutter und schmierte jeden Freitag für den Abend die Wurst-Brötchen und kochte auch einen Riesentopf Kakao dazu. Das tat sie sehr gern, denn so konnte sie auch mal ein Stück Wurst ohne Brötchen in ihren Backentaschen verschwinden lassen. Und sie hatte wahre Hamsterbäckchen.
Die Erwachsenen saßen nun zusammen in gemütlicher Runde und begannen mit dem Kartenspiel. Wir Kinder kamen später hinzu.
Wir warteten ja schon sehnsüchtig die ganze Woche auf diesen Freitagabend.

Während wir verschwitzt vom Turnverein kamen, war das Kartenspiel der Erwachsenen in vollem Gange. Meine Schwester und ich rannten die Treppen hoch, um ja nicht als letzte am Kakao-Topf anzukommen.
Es gab immer Gerangel, wer wo sitzen darf und den größten Becher bekommt.

Wir Kinder saßen dann in der Küche und aßen genüsslich unsere Brötchen und schlürften Kakao dazu. Es war immer zu wenig !!!
Manchmal fragte ich, ob ich den Rest des Kakaos ganz einfach aus dem Topf trinken darf. Ich durfte ! Eine Unsitte, die aber doch lächelnd toleriert wurde.

Während dessen wurde es immer fröhlicher in der Karten-Runde.
Onkel Emil war herrlich. Es war bekannt, daß er sich über ein verlorenes Kartenspiel immer fürchterlich ärgerte und dann besonders grimmig schaute.

Die anderen tuschelten grinsend und verhalten, weil er sonst aufstand und nicht mehr spielen wollte. Er hatte die Gabe, beim Rommé-Spiel mit „39 Augen“ die Karten auf den Tisch zu legen, statt mit 40. Nun sahen alle anderen, was er für Karten auf der Hand hatte und nutzten das natürlich schamlos aus, wobei er dann auch meist verlor.
Und wehe, es machte jemand eine Bemerkung darüber oder fing an zu lachen, dann gab es Wortgefechte. So wiederholte sich das Woche für Woche, auch wenn Onkel Emil eigentlich nie mehr mitspielen wollte...

Wir saßen bei den Erwachsenen und sahen dem Kartenspiel zu, wurden aber immer darauf hingewiesen, ja nichts und mit keiner Miene etwas zu verraten. So lernte auch ich dieses Kartenspiel.

Dieser sogenannte „Kakao-Abend“ war jahrelang fester Bestandteil in unserer Familie.

 

Billiger Ersatz

von Uwe Neveling erstellt am 18.04.2012

Es war kurz nach dem Krieg. Ich wohnte damals in der Andreas-Hofer-Str.. Dort bemalten wir mit Kreide die Bürgersteige, entwarfen Gleiskörper, die wir mit Rollschuhen abfuhren, spielten mit Küchenbrettern Tennis. Wir entwickelten ständig neue Spiele. Die spielten wir dann auch. Sie durften allerdings nichts kosten, denn Geld hatten wir nicht.

Auf dem damaligen Postsportplatz am Freigrafendamm gab es einige wenige Tennisplätze. Wir schauten uns die Spiele an; gelegentlich betätigten wir uns gegen ein geringes Entgelt als Balljungen. Wir durften manchmal die völlig verschlissenen Tennisbälle mitnehmen. Für uns waren sie noch brauchbar. Sie tickten noch, wenn auch die Gummierung bereits durch den Fils schimmerte. Natürlich wollten wir mit den Bällen Tennis spielen, und zwar so, wie es uns die Großen vorgemacht hatten.

Wir zeichneten mit Kreide ein verkleinertes Feld auf die Straße. Das konnte man damals noch. Ganz selten kam mal ein Auto vorbei. An Stelle des Netzes trennten wir mit einem dicken Kreidestrich das Feld in zwei Hälften. Am Netz markierten wir auf jeder Seite zwei Aufschlagfelder und dahinter das eigentliche Spielfeld. Tennisschläger hatten wir nicht. Die aus den Kriegsjahren geretteten Tischtennisschläger waren für den schwereren Tennisball nicht geeignet. Wir fanden eine Lösung. In jedem Haushalt gab es dicke Küchenbretter mit einem Griff an der schmalen Seite. Damit konnten wir Aufschlagen, Retournieren und mit Vor- und Rückhand den Ball in das gegnerische Feld schlagen. Es wurden regelrechte Meisterschaften ausgetragen.

Ich darf von mir behaupten, und das tue ich eigentlich sehr ungern, dass ich ein guter Sportler war. Allerdings nur in den Sportarten Fußball und Tennis. Beim Tennis zirkelte ich den Ball immer unerreichbar für meinen Gegner in die Ecken. Das fand natürlich nicht immer den Beifall meines Gegenübers. Ich baute daher in mein Spiel einige Fehler ein. Mein Gegenpart bekam so wieder Lust am Wettkampf, und es spornte ihn an, Höchstleistungen zu erbringen. Das kam auch meiner Wettkampftechnik zugute.

Dem Bruder meines Vaters fiel meine ausgefeilte Technik auf. Er ermöglichte mir später die Mitgliedschaft in einem richtigen Verein. Der billige Ersatz mit Küchenbrettern und ausgemusterten Bällen war somit die Grundlage für meine spätere Tennisvorliebe geworden. Heute spiele ich nicht mehr, sehe mir aber die Turniere der Profis gerne an. Da sind bestimmt auch welche dabei, die, wie ich, mit Küchenbrettern den Grundstock für ihre Karriere gelegt hatten.

 

Silvester, bum, bum.

von Uwe Neveling erstellt am 05.01.2014

In der Schule kann man eine Menge lernen, vorausgesetzt man passt auf. Ich höre noch die mahnenden Worte meiner Mutter: Du lernst für Dich und Dein vor Dir liegendes Leben, streng Dich also an! Und das tat ich. Dabei hatten es mir die technischen Fächer besonders angetan. Ende der vierziger Jahre wollte ich unbedingt Physiker werden. Und das kam so: Mein Patenonkel war Verwaltungsdirektor bei einem großen und bekannten Forschungsinstitut. Wenn ich ihn besuchte, durfte ich in seiner Bibliothek stöbern. Dabei fand ich Autobiographien bekannter Wissenschaftler. Die von Schenzinger verfasste Lektüre über Atome, chemische Prozesse und Schifffahrt habe ich mit großem Interesse gelesen.

Ich war sehr oft bei meinem Patenonkel und schloss Freundschaft mit Gleichaltrigen. Da waren sogar Kinder eines Nobelpreisträgers dabei. Damals wusste ich noch nicht, was ein Nobelpreisträger ist. Es musste etwas Ehrenvolles sein. Seine Kinder bildeten sich aber nichts darauf ein. Sie waren wie ich, wir verstanden uns gut. Als mir mein Patenonkel eine Märklin-Eisenbahn schenkte, wollte ich Lokomotivführer werden, am besten beides: Physiker und Lokomotivführer. Mein Interesse für technische Bereiche kommt – wie man erkennen kann - nicht von Ungefähr. Mathematik, Physik und Chemie waren meine Lieblingsfächer.

In den vierziger Jahren konnten wir Silvester kein Feuerwerk abbrennen. Es gab nichts. Böller und Raketen konnte man nicht kaufen. Ich erinnere mich, dass wir Wunderkerzen abbrannten. Damit verabschiedeten wir das alte Jahr und begrüßten das neue. Wir fanden das langweilig. Was fehlte, war ein laut krachender Böllerschuss.

Meine Freunde und ich dachten nach. Da hatten wir doch neulich in der Schule einige chemische Elemente kennen gelernt, mit denen man etwas anfangen konnte. Mit Salpeter und Schwefel müsste es doch möglich sein, eine knallende Mischung herzustellen. Salpeter und Schwefel konnte man für wenig Geld in der Apotheke kriegen. Wilfried, ein in Chemie bewanderter Freund, besorgte das Grundmaterial. Wir experimentierten mit unterschiedlichen Salpeter-Schwefel-Mischungen und fügten feinen Sand hinzu. Das Endprodukt wurde in kleine Portionen aufgeteilt, die wir in Silberpapier einwickelten, das wir aus Zigarettenschachteln entnahmen. Mit einem Hammer schlugen wir auf den so präparierten Böller, der mit einem laut hörbaren Knall explodierte. Das funktionierte aber nur bei einem bestimmten Mischungsverhältnis der Grundchemikalien. Das hatten wir in diversen Testversuchen ermittelt. Bekanntlich macht Versuch klug. Wir hielten uns für die Größten und lernten dabei, dass neuen Erkenntnissen immer eine Versuchsreihe vorausgeht.

Das ist nun schon lange her. Ich denke aber immer gerne daran zurück, weil eigener Erfindergeist zum gewünschten Ergebnis geführt hat. Es muss aber immer darauf geachtet werden, dass damit verbundene Experimente gefahrlos sind. Wir haben damals nicht darüber nachgedacht und wohl auch viel Glück gehabt. Heute würde ich mit den Materialien nicht mehr so leichtfertig umgehen. In meinem Alter muss es auch nicht mehr knallen, ein zugerufenes „gutes neues Jahr“ tut es auch.

 

Ostern

Kommunion von Uwe Neveling 

von Uwe Neveling

Man schrieb das Jahr 1948. Den Krieg hatten wir überstanden. Allerdings nicht unbeschadet. Der Vater war gefallen, die Wohnung halb zerbombt und die Familie noch in alle Winde verstreut. Aber wir hatten überlebt. Wir waren Anlaufstelle für die heimkehrenden Familienmitglieder. Man rückte zusammen und schaffte Platz. Wenn man ganz unten ist, kann es nur noch besser werden. Und so war es dann auch. Sogar der Papst sorgte sich um mein Wohlergehen. Wieso der Papst? Kannte er mich etwa? Damals glaubte ich das jedenfalls!

Die katholische Kirche kennt sieben Sakramente. Davon hat man mir bisher vier verabreicht, u.a. die heilige Kommunion. Monatelang hatte man uns auf dieses Ereignis vorbereitet. Im Mittelpunkt der Unterweisungen standen der Katechismus, das Glaubensbekenntnis und die zehn Gebote. Dass man nicht stehlen und töten darf, war mir schon klar. Aber man durfte auch nicht des Nächsten Weibes begehren. Damit konnte ich nichts anfangen. Und beim Religionsunterricht hatte man dieses Thema ausgespart.

Die erste heilige Kommunion sollte am Weißen Sonntag stattfinden. Das ist im Kirchenkalender der erste Sonntag nach Ostern. Wir waren dreißig Jungen und Mädchen. In der Kar-Woche hatte man uns noch einmal eindringlich geschult. Ich hatte den Eindruck, dass man uns die Leiden des Herrn nachempfinden ließ. Ich hätte viel lieber Fußball gespielt. Stattdessen waren wir Gründonnerstag in der Kirche und betrachteten die vierzehn Stationen, die Jesus bis zur Kreuzigung erleiden musste. Den Leidensweg hatten die Erbauer der Kirche in erhabenen Bildern in die Wände gemeißelt.

Vor diesem Hintergrund wurden wir von unserem Religionslehrer mit erhobenem Zeigefinger an unser sündhaftes Leben erinnert. Aber davon könnte man sich erlösen lassen, sagte er. Und er fügte hinzu, wir müssten nur unsere Sünden beichten und erhielten dann die Absolution, wenn wir unser Fehlverhalten bereuen würden. Man musste auch Buße tun. Mir war ganz schlecht. Unsere Frage, ob der Papst auch beichten müsste, wurde bejaht. Auch er hätte einen Beichtvater. Das war beruhigend. Ich befand mich in guter Gesellschaft.

Bei der Beichte durfte man keine Sünde unterschlagen. Damit wir nichts vergaßen, sollten wir alles auf einen Zettel schreiben. Da ich immer ein braver Junge war, hatte ich wenig zu notieren. Das gefiel mir nicht. Ich dachte mir daher noch einige Verstöße aus. Die zehn Gebote waren dabei sehr hilfreich. Ich war mit meinem Spickzettel zufrieden und verpasste ihm auch noch eine Überschrift: Meine Sünden, aufgeschrieben von Uwe Neveling.

Es konnte nicht schaden, nicht begangene Schandtaten schon einmal vorsorglich anzusprechen. Das Maß der Buße war von der Schwere der Schuld abhängig. Das hatte ich nicht bedacht. Als es dann in der Woche nach Ostern zur ersten Ohrenbeichte in meinem Leben kam, fand ich die mir auferlegte Buße ungerecht. Ich hatte doch gar nichts getan. Ich tröstete mich damit, dass auch Jesus ungerecht behandelt worden war.

Karfreitag hatten wir frei. Es ist ein hoher evangelischer Feiertag. Mit den Evangelischen wollten wir nichts zu tun haben. Wer wollte, konnte am Nachmittag ein stilles Gebet in der Kirche sprechen. Ich machte das zu Hause, weil der Herr ja überall zugegen ist.
Ostern verlief ruhig. Die wenigen Süßigkeiten, die ich damals erhielt, teilte ich mir ein. Schließlich wollte ich keine Völlerei begehen. Völlerei stand übrigens auch auf meinem Spickzettel. Wir liefen alle mit einem Heiligenschein durch die Gegend. Ich verkniff mir sogar den Besuch der Osterkirmes an der Castroper Straße.

Für meine Mutter waren die Ostertage arbeitsintensiv. Sie nähte mir einen Kommunionsanzug. Den Stoff hierfür hatte meine Tante Mia besorgt. Der zu erwartende Besuch am Weißen Sonntag musste bewirtet werden. Aber wie? Und jetzt erinnerte sich der Papst an mich. Ich erhielt von ihm ein Pfund Butter aus den Händen unseres Gemeindepfarrers. Die anderen Kommunionskinder erhielten ebenfalls diese Gabe des Heiligen Vaters. Er kannte uns alle. Wir waren begeistert.

Tante Mia war für die Produktion von Buttercremetorten zuständig. Ich erinnere mich, dass sie vorzüglich schmeckten und dass es uns anschließend gar nicht gut ging. Kalorienreiche und fettreiche Kost waren wir noch nicht gewohnt. Daran hatte der Heilige Vater wohl nicht gedacht. Dennoch bedankten wir uns bei ihm mit einer göttliche Email, mit einem stillen Gebet.

Die Zeitabläufe waren nun nicht mehr aufzuhalten. Am Tag der Erstkommunion war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Wir durften in den vorderen Bänken Platz nehmen. Wir Jungen trugen dunkle Anzüge mit kurzen Hosen, die Mädchen weiße Kleider. Sie waren die Engelchen. Die Mädchen saßen links von uns Knaben. Ein breiter Gang trennte uns. Man war auf Sitte und Moral bedacht. Nach der Wandlung gingen wir zum Altar. Wir knieten nieder und streckten dem Geistlichen unsere Zungen entgegen.

Der Pfarrer legte eine Hostie auf meine Zunge. Die Hostie blieb am Gaumen kleben. Das war unangenehm. Die Hostie symbolisiert den Leib Jesus. Sie ist somit nicht von dieser Welt. Ich pulte sie daher sehr vorsichtig mit meiner Zunge vom Gaumen los. Mein Magen knurrte. Zur Kommunion musste man nüchtern sein. Satt wurde ich von dem Leib Jesus nicht.



Wir erhielten alle ein vom Pfarrer unterschriebenes Bild mit der Innenaufnahme der Liebfrauenkirche. An diesem Tag bekam ich noch viele Heiligenbilder und Kruzifixe geschenkt. Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht neidisch zu sein, wenn meine Gäste sich über die Buttercremetorte her machten. Neid war ein Sünde und die fehlte auf meinem Spickzettel. Meinen Heiligenstatus wollte ich nicht aufs Spiel setzen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob mir das damals gelungen ist.

 

Anstand

von Pit Dwinger

Als ich noch ein kleiner Junge war, es muss 1933 oder ein Jahr später gewesen sein, versuchte mein Vater mir einige Anstandsregeln beizubringen. An eine davon kann ich mich heute noch genau erinnern. Sie lautete in etwa so:
„Wenn du einmal auf der Straße einem Leichenzug begegnen solltest, dann gehört es sich, dass du dem toten Menschen eine gewisse Ehrerbietung erweist!“
Fragend sah ich meinen Vater an. Wie sollte ein Fünfjähriger diese komplizierte Regel verstehen? Mein Vater bemerkte es und gab mir deshalb eine genauere Anweisung: Ich sollte mich in dem Fall an den Straßenrand stellen, die Mütze abnehmen, eine gerade Haltung annehmen und den Kopf leicht nach vorn beugen, so lange, bis der Leichenzug vorüber sei.
Die Sache gefiel mir überhaupt nicht, aber ich wagte es andererseits nicht, die Anweisungen meines Vaters zu ignorieren. Damit ich aber gar nicht erst in die Verlegenheit kam, passte ich in der Folgezeit höllisch auf, keinem Leichenzug zu begegnen. Eines Tages sollte es mir jedoch nicht gelingen:
Meine Mutter hatte mich zum Einkaufen zu dem Krämer Rudolf Schildt geschickt. Er betrieb zusammen mit seiner Frau Amanda einen „Tante Emma Laden“ im Harksheider Weg, gegenüber der jetzigen Einmündung der Marienhöhe. Schildt war außerdem Fotograf mit einem eigenen Fotoatelier. Da es zu der damaligen Zeit nur wenige Leute gab, die einen eigenen Fotoapparat hatten, ließen sie sich bei besonderen Gelegenheiten bei ihm ablichten.
Als ich mit meinem Einkaufskorb seinen Laden verließ, rumpelte ein Leichenwagen über das Kopfsteinpflaster des Harksheider Weges heran. Das Gefährt war bereits so nahe, dass eine Flucht unmöglich erschien. Ich musste wohl oder übel in den sauren Apfel beißen, setzte meinen Einkaufskorb ab und stellte mich an den Straßenrand, so wie mein Vater es angeordnet hatte.
Zwei kräftige Rappen, mit schwarzem Zaumzeug und einer gleichfarbigen Decke bestückt, auf den Köpfen einen dunklen Federbusch, zogen den offenen Leichenwagen, dessen Verdeck wie eine Art Baldachin auf vier senkrechten Stützen ruhte. Auf dem Bock saßen der Kutscher und der Beerdigungsunternehmer Peter Timm. Ihre Zylinder glänzten in der Morgensonne. Peter Timm hatte einen Wahlspruch, oder man hatte ihm diesen Reim angedichtet, der da lautete:

„Peter Timm! Sterben ist mein Gewinn,
wenn ich es nur nicht selber bin!“


Auf der offenen Plattform des Wagens saßen die sechs Leichenträger, drei auf jeder Seite, rücklings zueinander. Sie ließen ihre Beine baumeln, die bei den Bewegungen des schweren Wagens gleichmäßig hin und her pendelten.
Ich sah aus den Augenwinkeln, dass der Kutscher und die Träger mir anerkennend zunickten. Aber – was war das – huschte da nicht ein Grinsen über die sonst ernsten Gesichter der alten Herren?
Ich wunderte mich, konnte mir die Sache nicht erklären, hatte aber den Vorfall bald vergessen und erzählte ihn auch zu Hause nicht. Ich sollte jedoch noch oft daran erinnert werden, da auch die kleinsten Nebensächlichkeiten im Dorf herumgetratscht wurden. Im Ortskern von Quickborn wohnten derzeit nur dreitausend Menschen, und jeder kannte jeden.
Einer der Leichenträger war aus unserer Nachbarschaft. Er hatte mich erkannt und es Peter Timm erzählt. Er und mein Vater waren beide in der Freiwilligen Feuerwehr und so schloss sich der Kreis. Als sie eines Abends nach einer Übung in ihrem Vereinslokal bei „Tante Agnes“ (Quickborner Hof, heute „Visit“) beim Bier zusammensaßen, konnte Peter Timm es sich nicht verkneifen, über den Vorfall im Harksheider Weg ausführlich zu berichten.

Peter Tim sagte zu meinem Vater: „Du Hein! Dien Söhn, den hest du wohrhaftig Anstand biebröcht.“

Sie sprachen Plattdeutsch miteinander, aber ich will zum besseren Verständnis in Hochdeutsch fortfahren:
„Es war wirklich eine Freude, zu sehen, wie der Junge kerzengerade am Straßenrand stand und die Mütze abnahm, als wir vorbeifuhren. Dabei machte er sogar eine Art Verbeugung.“
Mein Vater war natürlich erfreut über diese Nachricht und seine erfolgreichen Belehrungen über Anstand. Aber Peter Timm war noch nicht fertig. Er lehnte sich zurück, machte genüßlich eine Kunstpause, bevor er fortfuhr:
„Aber das wäre eigentlich nicht nötig gewesen, denn wir hatten noch gar keine Leiche auf dem Wagen, nicht einmal einen Sarg und auch kein Gefolge. Wir waren nämlich erst auf dem Weg zum Trauerhaus, um den dort aufgebahrten Toten abzuholen.“

An diese Geschichte kann ich mich heute noch erinnern, weil sie zu meinem Leidwesen bei allen möglichen Gelegenheiten, immer und immer wieder aufgetischt wurde. Ich habe mich damals über die Erwachsenen geärgert und geschämt. Ich konnte es nicht verstehen, dass sie sich darüber amüsieren konnten, weil ich in meinem kindlichen Unverstand, die Begriffe „Leichenzug mit Gefolge“ und „leerem Leichenwagen“, auf Anhieb nicht unterscheiden konnte.

 

Der Krieg der Knirpse

von Hans Meier

Mit Staunen sah ich plötzlich 50 bis 70 Kinder in einem Schlachtgetümmel sich gegenseitig auf einer Kuhweide bekämpfen.
Es war in der Mitte der 1960er Jahre und was ich sah, war wohl eine der größten kriegerischen Handlungen von Kindern, die Quickborn je erlebte, doch dazu später mehr.

Das weitläufige Gelände der ehemaligen Munitionsfabrik bot für uns Kinder vielseitige Spielmöglichkeiten.

Ausgebaggerte Flächen, die mit Grundwasser gefüllt waren, eigneten sich besonders zum Boot fahren.
Abgesägte VW-Käfer-Dächer, die umgedreht auf dem Wasser schwammen, boten 3-4 Kindern Platz.
Bruchstücke von Bunkeranlagen luden zum Spielen ein. Ein noch intakter Bunker war bei größeren Kindern als Hauptquartier beliebt, der dann auch gegen andere verteidigt werden musste. Im Winter konnte man herrlich Schlitten fahren. Von den alten Ringwällen ging es steil nach unten und bei schneller Fahrt musste man sich gut festhalten.

Da ich wissen wollte, wie es zu dieser Schlacht gekommen war, befragte ich ehemalige Krieger, was sie darüber wussten.
Aus den vielen Erzählungen konnte ich einigermaßen die Vorgänge, die zu diesem Kampf führten, rekonstruieren.

Die Katapultbande
Die eine Gruppe, die aus etwa 14 Kindern bestand, hatte ihr Hauptquartier im alten Bunker hinter dem Grundstück der heutigen Lornsenstraße 72 in der Quickborner-Heide.
Da die Bewaffnung überwiegend aus Katapulten und nur wenigen Holzschwertern bestand, nenne ich sie, nur zur späteren Unterscheidung „Die Katapultbande“. Katapulte wurden auch Zwille oder Katschi genannt.

Bei der Herstellung eines Katapultes mussten ganz besondere Ansprüchen berücksichtigt werden. Einige Fahrradreifen hatten schon ihren Schlauch lassen müssen, um an das zähe Gummi heranzukommen. Alte Schuhlaschen dienten als Korb. Dabei sind kleine Baumeister herangereift. Die Astgabel musste einen guten besonderen Winkel vorzeigen. Nicht alle Bäume konnten solche Astgabeln „liefern“, sie waren rar und häufig nur auf privatem Grund zu finden.
So gab es wohl aufkeimende Nachdenklichkeit bei einigen Grundstücksbesitzern, die vor einem ihrer Bäume standen und sich fragten, wieso über Nacht in nicht unbeträchtlicher Höhe plötzlich nur noch ein abgesägter Aststummel zu sehen war.
Und es passierte, dass frecherweise ahnungslose Spaziergänger per Katschi mit Brombeeren oder Himbeeren beschossen wurden.

Die Ritterbande
Die zweite Gruppe bestand aus circa 7 Kindern und hatte ihr „Fort“, wie sie es nannten, gegenüber der Hermann-Löns-Straße 49 in einer Schonung direkt am Ringwall. Dieser Ringwall war früher eines der Sprengstofflager der Munitionsfabriken, die 1917 in die Luft geflogen waren. Er besteht aus einem ringförmigen Erdwall, wobei man mittels eines Tunnels ins Innere unter freien Himmel kam.
Die Bewaffnung bestand überwiegend aus Schilden und Holzschwertern. Deswegen bekommen sie von mir den Namen „die Ritterbande“. Die Waffen waren sorgfältig bearbeitet, einige waren sogar verziert.

Es gab in der Gegend schon früher kleinere Kämpfe. Ein neuer Krieg lag also in der Luft.
Ein Zeuge der Ritterbande erzählte mir:
„Es war nur eine Frage der Zeit, ob wir oder sie zuerst angreifen. Ich hatte mir ein Schwert aus zwei Holzstücken zusammen gehämmert und einen Griff hinter einer Holzplatte angebracht: das war mein Schild. So ging ich zum Fort.“

Am gleichen Tag schlichen drei Kinder der Ritterbande von der Ulzburger Landstraße in Richtung Bunker der Katapultbande, um sie auszuspionieren. Dabei wurden sie gefangen genommen und in den Bunker gezerrt, dort sollten sie auspacken. Einer der Spione erzählte damals einem Kameraden, dass sie ihn ganz schön gepiesackt hätten.

Der große Angriff
Ein Späher von der Ritterbande, der hoch oben im Baum am Ringwall Ausschau hielt, schlug hektisch Alarm. Er sah die Katapultbande auf den Feldern zum Fort heranschleichen, genau an der Stelle wo des öfteren das Gatter der Schweinekoppel von Kindern geöffnet wurde, um aus sicherem Versteck mit anzusehen, was die Säue so alles anstellten. Dieser Umstand verleitete wahrscheinlich den wütenden Bauern des öfteren zur nervösen Kontrolle.

 

Der Ringwall vom Steertmoorweg aus gesehen, 1999. In diesen Birken wurde Alarm ausgerufen. Rechts die Schonung und das Fort der Ritterbande . Das Getreidefeld war in den 60er Jahren eine Graswiese. Schutz bot der Katerpultbande beim Angriff die dreibeinigen Heuständer, die hier zahlreich herumstanden.

 

Eiligst wurde zu den Waffen gegriffen und dem Feinde entgegen gelaufen. Und ein Feld später wurde er dann gestellt. Aber die Katapultbande drängte die Ritterbande immer weiter zu ihrem Stützpunkt zurück.

Zurückgedrängt zwischen den Bäumen und Sträuchern in der Schonung gab es ausgezeichnete Deckung. Ein Eindringen in dieses kleine Wäldchen wäre strategisch äußerst riskant gewesen, und somit konnte die in der Minderheit kämpfende Ritterbande die Stellung halten.

Die Verzweiflung war groß. Wie lange konnte die Katapultbande noch in Schach gehalten werden?

Ein Kurier wurde eiligst beauftragt, so schnell wie möglich alles, was Beine hat, von der Hermann-Löns-Straße und vom nahe liegenden kinderreichen Feldweg zu holen.

Da die Häuser vom Feldweg aus der Position der Katapultbande zu sehen waren, konnten diese nun die herannahende Verstärkung schon von weitem sehen.

Eine gewaltige Anzahl von Kindern drohte nun, in die rechte Flanke der Katapultbande einzudringen.
Das Blatt sollte sich wenden. Die unter lautem Getöse herannahende Großoffensive vom Feldweg kam jedoch nicht so schnell voran, zu viele Zäune behinderten die Angriffswelle.

Die ganz kleinen Kinder, die nicht so schnell laufen konnten, blieben beim schnellen Vorstoß immer wieder in den Zäunen hängen und mussten hinüber gehoben, oder aus dem Stacheldraht befreit werden. Es machte zwar wenig Sinn, die Kleinen mitzuschleppen, aber dadurch kam eine gewaltige Horde von Kindern heran, und das war ein strategischer Vorteil.

Die Katapultbande, die einen geordneten Rückzug wegen der weit entfernten Feldoffensive antrat, sah sich nun von der Ritterbande zusätzlich erheblich bedrängt. Gestärkt durch den sichtbaren Nachschub von der Hermann-Löns-Straße, dem Feldweg und der weiteren Umgebung, wagte die Ritterbande unter Geschrei einen Ausbruch. Was die heillose Flucht der Katapultbande zu Folge hatte.

Es ging zurück über die Felder in Richtung Theodor-Storm-Straße. Dort begann das eigentliche Territorium der Katapultbande. Und hier standen im Rücken der Kämpfenden, Häuser. Auf den Wiesen stellten sich die Flüchtenden nochmals der Übermacht mutig entgegen.

Mittlerweile hatte sich die Anzahl der Kämpfenden sowohl bei der Katapultbande als auch der Ritterbande erhöht und es kamen immer noch mehr Kinder heran, so auch ich.
Was nun folgte, war wohl einer der größten Kämpfe von Kindern, den die Quickborner Heide je erlebt hatte. Nach Schätzungen beteiligter Zeugen waren wohl 50 bis 70 Kinder, von denen einige erst später zum Schlachtfeld fanden, in diese „Schlacht“ verwickelt.
„Da war alles vertreten von 3 bis 17 Jahren, alles, was laufen konnte, war unterwegs.
Die Großen allerdings waren ernsthafter bewaffnet und somit weitaus gefährlicher. Es wurde viel gefochten - wenn man das Fechten nennen kann. Bei den Kampfhandlungen surrten den Kindern Eicheln und Kastanien um die Köpfe, ein Junge hatte sich als Schutz eine große blecherne Kuchenform vor den Bauch gebunden. Viele bekamen durch die Stöcke und Holzschwerter blaue Flecken.“

Ein Zeuge: „Ich schlug einen Jungen mit meinem Schwert auf den Oberarm, dabei ließ er seine Zwille fallen und ich sammelte diese als Kriegsbeute ein“. Man musste noch dazu wissen, dass Mitglieder der beiden Kontrahenten Nachbarn waren oder einige zusammen zur Schule gingen.

So rekrutierte sich die Katapultbande aus Kindern der Theodor-Storm-Straße und dem heute nicht mehr vorhandenen Meisenweg (Falkstraße), von der Straße Am Berg und sogar vom Feldweg, woher ja die Großoffensive kam. Tatsächlich konnten viele Kinder in dieser Lage weder Freund noch Feind voneinander unterscheiden. Die, die später kamen, wussten auch nicht immer, in welchem Lager sie sich befanden.

Wahrscheinlich waren die kleineren Krieger damit überfordert, und die größeren sahen
sich dann wohl nicht nur der Katapultbande als Gegner gegenüber. Die Kühe, die anfangs kaum Beachtung fanden, waren von einigen verirrten Geschossen getroffen worden. Diese in Panik geratenen Kühe musste man zusätzlich zum Getümmel stets im Auge behalten.

Beim Vorwärtsstürmen sowie bei hastiger Flucht musste man außerdem noch ins Gras schauen, da die Kuhfladen wie Tretminen auftauchten - und sie kamen zum Leidwesen der kleinen Krieger recht häufig vor.

Ein Zeuge erinnert sich an eine Szene: „Ich hörte ein lautes Dong. Die Kuchenform eines
Jungen wurde getroffen. Anscheinend kannte er den Ursprung des Geschosses und rief laut ‚Na warte, morgen in der Schule kriegst du Saures!’“

Einige hatten Helme aus Zeitungspapier, einer einen spitz zugehenden Sylvesterhut, den Hut vom Vater. Andere trugen Stahlhelme, die sie im Moor gefunden hatten. Einer hielt den großen Deckel vom beheizbaren Waschzuber als Schild vor sich. Es war wohl zu hoffen, dass hier die mütterlichen Nerven geschont wurden und die hektische Waffenbesorgung nicht während des Waschvorganges erfolgte. Waschbretter als Schilde waren des öfteren zu sehen.

Die angeforderte Verstärkung hatte wohl in der Eile alles zur Bewaffnung genommen, was nicht niet- und nagelfest war. Ich selbst war als einer der Kleinsten mit auf dem Feld, konnte in dem für mich heillosen Durcheinander nur so dastehen, während sich die Fronten hin- und herbewegten. Wobei wir Lütten uns mal in der einen und mal in der anderen Front wieder fanden, weil wir nicht so schnell laufen konnten.
Aber nicht selten habe ich mich bei dem Versuch, einem Vorbeilaufenden, egal ob Freund oder Feind (wer wusste das schon), einen Fußtritt zu verpassen, kräftig auf meinen Hintern gelegt, weil ich ihn verpasste. Ich erinnere mich nicht, auch nur einen getroffen zu haben. Teilweise wurden wir Kleinen in Sicherheit gebracht, teils wegen der Kampfhandlungen nicht beachtet.

Anfangs hörte ich noch einige Rufe, man möge die Kleinen rausnehmen oder nicht die Kleinen beschießen, doch diese Stimmen verstummten irgendwann, wohl aus der Einsicht, dass dies nicht zu realisieren war. Es hielt sich sowieso niemand daran. Links und rechts von mir surrte die Zwillenmunition ins Gras, doch ich wurde nicht getroffen. Ich weiß bis heute nicht, auf welcher Seite ich eigentlich gekämpft habe.

Es half aber alles nichts: Die Übermacht war zu groß und die Katapultbande wurde immer mehr zur Straße gedrängt. Hastig wurde Nachschub aus dem Bunker geholt. Einkaufstaschen voller Munition für die Katapulte wurden herangeschleppt.

Der Schlachtenlärm von den Wiesen blieb den Erwachsenen mit der Zeit nicht verborgen. Sie standen nun entsetzt und fassungslos an der Straße, sahen sich das Durcheinander aber nicht lange mit an.
Einige Streithähne wurden auseinander gerissen, Backpfeifen wurden verteilt, damit Schluss war. Sowie sie aber losgelassen wurden, konnten einige nicht an sich halten und stürzten sich wieder ins Getümmel.

Das Blatt sollte sich nochmals wenden. Die Erwachsenen schimpften laut und forderten ein Ende. Und so wurden die Erwachsenen, ohne dass sie es wollten, zur Verstärkung der Katapultbande. Die Übermacht beendete ihren Kampf ungern. Aber so nach und nach wurden die Kampfhandlungen eingestellt und die siegreichen Krieger gingen langsam nach Hause.

Der Bunkerbewacher sah aus der Entfernung den Abzug des Feindes, aber nicht den Grund dafür und mutmaßte, dass die Ritterbande siegreich geschlagen wurde. Ein Glück für die Katapultbande, denn ohne die Verstärkung der Erwachsenen wäre ihr Bunker womöglich von der Ritterbande gestürmt worden. So gesehen, war es ja auch ein Sieg.

Auf jeden Fall blieb die Katapultbande ungeschlagen.

 

Der Bunker an der Lornsenstraße, Bild von 1981 

 

Der Negerkuss

von Jürgen Hühnke

Um 1950 war es, da rumpelte eines Tages ein bunter Bus mit verspiegelten Fenstern auf den Obsthof meines Großvaters, was die Nachbarschaft zu einem kleinen Volksauflauf zusammenrief. Erst stieg nur der Fahrer aus und verursachte prompt Furore: „Oh, ah, ein Neger!" Das potenzierte sich, als auch die Tür auf der anderen Seite gleichfalls einen Mann entließ, den König oder Häuptling eines Ewe-Stammes, würdig anzusehen, sonderlich wegen eines uralten Kneifers, der sich allenfalls als „Pinte-nez" apostrophieren ließ.
Die nächsten „Ahs!" und „Ohs!" entquollen den Lippen der Urwaldmajestät und meines Opas, die sich sofort bei beidseitigem Rückenklopfen umarmten wie Winnetou und Old Shatterhand, während der Bus nun eine Schar togolesischer Kinder und Mütter entließ, die Häuptlingsfamilie, Lieblingsfrauen und Kebsen, ein Harem von Tropenschönheiten in weitärmeliger kimonoartiger Gewandung mit viel Schwarz und Gelb, Frauen mit elfenbeinweißen, blitzenden Zähnen und einer palisanderfarbenen Haut. Das war meine erste Begegnung mit leibhaftigen Negern, wie man solche Exemplare ungeniert nannte. Sie hießen weder Schwarze noch gar Farbige - als wären sie bunt! Ich sehe diesen ganzen Rummel mit der political correctness eigentlich immer noch nicht ein, da ja das aus dem spanischen „negro", „negrito" (Schwarzer, schwarz) übernommene Lehnwort letztlich gar nichts Diskriminierendes aussagt, sondern erst die von den ultrarassistischen Yankees geprägte Form „Nigger".
Bei diesem ersten Zusammentreffen mit „Negern" erhielt ich auch meinen ersten (und einzigen) Negerkuss, den mir 15-jährigem Knaben-Jüngling eine Ewe-Beauty aufs Haar drückte, eine Frau von 25,28 Jahren, also eine Matrone für mich, wobei sie meinen Kopf warm in die Kerbe ihrer Oberweite presste. Dieser Neger-Kuss - da hatte an mir der Sarotti-Mohr seine Schuldigkeit getan - war unvergleichlich, vor allem wenn ich an die unausstehlichen Schmatzer denke, die meine Hamburg- Holm-Seppensener Tante Petronella, wenn sie dem Postbus entstiegen war, vermeintlich innig auf die Wange zu klatschen pflegte.
Ja, beim kosmopolitischen Opa lernte man wahrlich Humanismus in Reinkultur. Auf diesen weltläufigen Großvater, der solche Edel-"Wilden" von Mensch zu Mensch kannte, war ich ernstlich stolz. Ich wusste zwar, dass er 1912-14 als Sanitätssergeant in Togo stationiert gewesen war, doch neu für mich war, dass er aus dieser Zeit einen Thronanwärter kannte, der nun also wohl einen Europabesuch dazu genutzt hatte, einen Abstecher zu seinem alten Freund in Stade zu machen, was gewiss nicht jener Treue und Verbundenheit geschuldet war, die man den Kralbewohnern ehemaliger Kolonien den Deutschen gegenüber gar zu gern nachsagt.
Leider fuhr der Bus schon spätnachmittags wieder nach Hamburg zur Einschiffung Richtung Äquator, wo man, wie Opa berichtete, nach den heftigen Gewittern gegen 14:00 Uhr geradezu den Chronometer stellen konnte.
Übrigens muss ich mich berichtigen: Ich nannte die Ewe oben „palisanderfarben", und Palisander ist ein Holz von dunkelbrauner Tönung mit einem Touch ins Violette, was nun doch für extreme „Farbigkeit" spricht!

 

Das Gespenst!

von Edith Kollecker erstellt März 2013

Im November wurden unsere circa 35 Gänse geschlachtet. Deren Federn wurden in Säcke gestopft und auf dem Boden zum trocknen gehängt. Im Februar, wenn es noch kalt, ungemütlich und früh dunkel war, holten wir sie dann herunter! Sie wurden auf unseren großen Esstisch geschüttet, um sie zu schleißen. Dabei wurden die Federn an beiden Seiten der Speilen*, wir nannten sie Posen** abgerissen. Die Daunen wurden gleich aussortiert und in ein Inlett gestopft. Bei dieser Aktion brauchten wir viele Helfer, darum kamen noch etliche Nachbarfrauen dazu. Alles ältere Frauen, die sich einen schönen Abend machten, während meine Mutter „Berliner" backte, das gehörte immer dazu. So wiederholte sich das auch bei den anderen Familien. Uns Kindern hat es sehr viel Spaß gemacht. Zur Schummerstunde kamen die Frauen und hatten viel zu erzählen. Meistens ging es um gruselige Geschichten, von Toten, die sich aus unterschiedlichen Gründen bemerkbar gemacht hatten. Wenn ein Angehöriger einen Sarg für ein Familienmitglied bestellen wollte, gingen sie zum Schreiner. Dieser erklärte dann, der Tote hätte sich genau diesen Sarg schon per Klopfzeichen ausgesucht, natürlich wurde der dann auch gekauft. Wir Kinder spitzten bei solchen Geschichten die Ohren und natürlich standen uns die Haare zu Berg. Glauben konnten wir es nicht so richtig und an Gespenster glaubten wir auch nicht, hatten aber trotzdem Angst, im Dunkeln ohne Begleitung zum Klo zugehen, das 20 m entfernt im Hof stand. Bei unserer großen Familie war das kein Problem, es war immer einer da, der auch musste. Das habe ich bis dahin persönlich miterlebt und es wiederholte sich dann Jahr für Jahr.
Nun geschah eines Tages folgendes. Kurz bevor mein Vater seinen Dienst um 10 Uhr abends antreten musste, er war Nachtwächter auf dem Gut, schmierte er sich noch eine Stulle. Dieses nutzte meine Schwester Irmi damals 17 Jahre aus, um nochmal aufs Klo zu gehen. Die Fenster spendeten genug Licht, so dass der Hof beleuchtet wurde und Papa war ja noch in der Nähe. Unser Papa hatte aber gar nicht gemerkt, dass eines seiner Kinder nicht im Bett lag. Normalerweise schlief alles schon, denn die Mädchen mussten morgens früh raus, um zu arbeiten. Als Irmi vom Klo kam, war alles dunkel und die Tür abgeschlossen. Die unteren Fensterflügel waren auch zu, doch die oberen nur angelehnt. Glücklicherweise schien der Mond und so konnte sie sich das Fahrrad aus dem Schuppen holen und unter das Fenster stellen, um auf das Fensterbrett zu klettern und sich am Fensterkreuz festhalten. Das Fenster gehörte zu dem Raum in dem Tuddi damals 16 Jahre und sie beide in einem Bett schliefen. Leider war Tuddi im Tiefschlaf und hörte nicht das leise Rufen. „Tuddi mach auf, ich bin‘s Irmi!" Tuddi hörte nicht, also etwas lauter: „Tuddi mach auf!“ aber Tuddi hörte immer noch nicht. Dann klopfte sie energisch an die Scheibe und rief, „Mach endlich das Fenster auf!" Jetzt wachte Tuddi endlich auf, sah eine Person im weißen Gewand am Fenster hängen und kreischte so laut sie konnte los und schrie, „ein Gespenst, ein Gespenst" und kroch unter die Bettdecke. Natürlich waren alle von dem Gekreische wach geworden. Doch ehe wir uns aufraffen konnten, um zu sehen was los war, hatte meine Mutter dem Spuk schon ein Ende bereitet und sie rein gelassen. Wir anderen haben von dem Geschehen nichts mitbe-kommen.
So viel dazu, wir glaubten nicht an Gespenster!
Bei unseren späteren Familientreffen - und es waren viele bei immerhin 7 Geschwistern, mit Männern und Kindern - wurden viele Erlebnisse von früher erzählt. Es fing dann an, „...weißt du noch?". Es gab viel zu erzählen und genau diese Geschichte war meistens dabei.*Speil ist eigentlich ein Holzstäbchen zum Verschließen des Wurstdarms, hier aber als Anderwort für den Federkiel verwendet.
**
Pose ist das norddeutsche Wort für Federkiel

 

Glück gehabt!

von Jürgen Hühnke September 2012
Kindheit in der NS-Zeit 1933 - 1945

Erinnerungen aus den Jahren 1933-45 fallen, je nach dem damaligen Alter des Erinnernden, oft relativ heiter aus. Wer damals noch ein Kind war, sieht ohnehin auf viel Schönes zurück. Abgesehen von den wenigen Menschen, deren verkorkste Kindheit das Urteil eines Richters milde stimmt, wachsen Kinder im Regelfall behütet auf und haben demgemäß glückliche Episoden gespeichert.

Zwar kennen Kinder das Phänomen des Schreckens, vor bissigen Hunden etwa oder vor dem großen Maul des Rotkäppchen-Wolfes, aber fremd ist ihnen die existenzielle Todesangst, solange in ihrer Nähe nicht Bomben und Granaten einschlagen. Bis dahin ist das Geschehen emotional so fern, wie dem Jugendlichen von heute das virtuelle Ballerspiel von der Hand geht.

Während der Erwachsene abstrahiert und assoziiert, hat die Beobachtung der Außenwelt für das Kind nur die Bedeutung eines faszinierenden Spektakulums. Der im Werden begriffene Mensch staunt nur, wenn die vom Himmel fallenden „Christbäume" die Landschaft für einen Bombenangriff ausleuchten oder die herabflatternden Stanniolstreifen die Flugabwehr irritieren sollen. Er staunt, wenn ein abgeschossenes Flugzeug brennend herunterkommt und explodierend einige hundert Meter entfernt zerschellt. Er staunt, wenn Jagdflieger in eine Menschenmenge schießen, die in der Nähe nach einem Bombenabwurf den Brand löschen. Er staunt, aber ist nicht - wörtlich - „betroffen". Eigentlich träumt er noch, ist verschlafen, weil die Eltern ihn wegen eines Alarms aus den Federn gezerrt haben und er nun in irgendeine Richtung taumelt, in die man ihn ziehen will.

Andere Tieffliegerangriffe erlebte ich fast täglich, Angriffe auf die Züge der bei unserem Hause vorbeiführenden Eisenbahnlinie. Aus Aberdutzenden von Einschusslöchern lief dann das Wasser aus den Kesseln der Lokomotiven. Ich sah interessiert auf dieses Beispiel der verwundeten Technik, und nur mein Großvater, Sanitätssergeant in Kamerun vor dem Ersten Weltkrieg, eilte den verwundeten Lokführern und Heizern zur Hilfe, wenn er sie nicht tot bergen musste.

Zum kindlichen Glück gesellte sich also die kindliche Unschuld, die einmal jemand, sich in den Mantel der Geschichte kuschelnd, in seiner Vorliebe für grandiose Worte und Gesten („blühende Landschaften", Händchenhalten in Bitburg) als „Gnade der späten Geburt" apostrophiert hat - woraufhin ich mich, fünf Jahre jünger, eigentlich als Zuspätgekommener verstehen müsste.

Glück ist nicht nur Angelegenheit der Kinder. Die erste Hälfte des „Tausendjährigen Reiches" wurde auch von den Erwachsenen für seligmachend erachtet, als sie ein „Friedenskanzler" anführte, der seinerseits viel Glück hatte. Die folgenden sechs Jahre des Krieges mit den anfangs so erfolgreichen Blitzkriegen schienen die gute Zeit zu verngern und ließen die Deutschen vorerst einmal wie „Gott in Frankreich" schwelgen, indem andere, besetzte Länder für unseren Schein-Wohlstand ausgeplündert wurden. Da gab es Cognac oder Bordeaux.

Auch für mich fiel da etwas ab, weil Vati ein Päckchen mit Flugzeugmodellen aus Aluminium schickte, einen ganzen Flugplatz voll gewissermaßen. Dann konnte ich das infernalische, aus der Wochenschau bekannte Geheul der Stukas nachahmen oder ließ meine Spitfires gegen die Messerschmitts antreten und sogar gewinnen - schließlich war ich im Kinderzimmer mein eigener Kommodore!

Auch später noch, als mit EI Alamein und Stalingrad alles ins Negative geriet, als der Tod Soldaten und Zivilisten in einen Mustopf warf, blieb mir die Freiheit, zugleich zu beiden Lagern zu gehören. Das kann man sogar wörtlich nehmen. Nicht weit von Opas Obst- und Hühnerhof lag eine Wehrmachtskompanie zur Bewachung eines Lagers für kriegsgefangene Franzosen, zu denen auch Alphonse gehörte, Opas Apfelpflücker und Apfelkornbrenner. Die Soldaten kamen täglich an unserem Haus vorbei und schauten jedesmal rein, wenn sie Omas köstlichen Kartoffelpuffer erschnupperten. Zum Dank nahmen sie mich mit zu ihren Baracken und ab und an auch zu einem Rundflug mit ihrem „Fieseler Storch"

Auch Alphonse nahm mich mit, in die Baracken seiner Landsleute. Unvergesslich blieb mir der 14. Juli 1944, als ich kleiner Knabe unter den Nachfahren von Asterix und Obelix saß, die mich mit matschigem Rhabarberkuchen und gebratenen Froschschenkeln pappsatt fütterten und aus heiseren Kehlen grölten (was ich natürlich damals nicht herauszuhören verstand): „Allons, enfants da la patrie, le jour de gloire est arrive ..." Man kann dieses Erlebnis, am 155. Jahrestag der Französischen Revolution dabei gewesen zu sein, durchaus als Glück bezeichnen; denn nur eine, zwei Wochen später wäre es Alphonse nicht gestattet worden, ein deutsches Kind zu bewirten. Nach dem Stauffenberg-Attentat wurde ja - als Rache des Systems an der Wehrmacht - Himmler Oberbefehlshaber des Ersatzheeres, und die SS bewachte hinfort die Gefangenenlager. Glück hatte ich auch damit, dass man mich nur einmal in meinem Leben zum Antreten zwang: Am 20. April 1945, also zu „Führers Geburtstag`; sollte ich ins Jungvolk eingegliedert werden und mich mit den anderen meines Jahrgangs beim Kino einfinden, wo uns ein Film nach typisch Goebbels'scher Manier über den vom „perfiden Albion" niedergeschlagenen irischen Osteraufstand 1916 gezeigt wurde.

Ein Glück also war es, dass ich ansonsten verschont blieb. Aber beinahe hätte das Gift um mich herum seine Wirkung getan, lediglich durch die Allgegenwart der Propaganda und Hetze. Da ich wusste, dass man den Tod verdiente, falls man Feindsender hörte, die nahen Verwandten sich an Radio Moskau und London orientierten, war ich fast davon überzeugt, ich müsse das melden. Zum Glück ließ mich etwas davon abrücken. Ja, das Wort Glück ist unvermeidbar in solchen Zusammenhängen. Vielleicht könnte man auch vom Zufall sprechen - im Sinne von Max-Frisch, der ihn als das, was einem zufällt, versteht. Oder man greift zu Worten wie Schutzengel oder Gnade, aber bitte nicht mit dem Geburtstermin verschwurbelt, so dass die Menschen in Frühchen, Spätzünder und Blindgänger eingeteilt werden könnten! „Gnade der späten Geburt" klingt so calvinistisch prädestiniert oder so astrologisch, als bestünde eine sogenannte Jahrgangskohorte aus lauter Klonen.

 

Kindermund, oder wie kläre ich mein Kind auf?

von Ingrid von Husen erstellt am 05.05.2012

Vor 50 Jahren war man mit der Aufklärung noch zurückhaltender, als es heute der Fall ist. Damals hieß es, nur immer die Fragen, die ein Kind stellt, beantworten. Und so wartete ich dann auch auf Fragen meiner Tochter.

Aber die Lehrerin meiner Tochter, eine fortschrittliche junge Frau, kam mir leider zuvor. Sie hat die Erstklässler auf ihre Art aufgeklärt. Und so erzählte mir meine Tochter von Samenkörnern, Eiern und Gebärmutter.

Zu dem Zeitpunkt hatten wir keinen Kontakt zu ihrem Vater – ich hatte mich gleich nach der Geburt meiner Tochter von ihm getrennt. Sie hat in der Schule erzählt, sie hätte keinen Vater. Das passte natürlich nicht in das Konzept der Lehrerin. Sie sagte darauf, dass aber jedes Kind einen Vater haben muss, denn ohne Samenkörner vom Vater, könne gar kein neues Leben entstehen.

Da meine Tochter damals gleich nach der Schule in die Betreuungsgruppe des Kindergartens ging, war die Kindergärtnerin die erste Person, bei der sie nun, voll mit ihrem neuen Wissen, herausplatzte: „Tante Helga, einen Vater hab ich nicht, aber die Samenkörner, die waren da!“

Die Kindergärtnerin hat es mir wieder erzählt. Damals konnte ich gar nicht richtig darüber lachen, hatte ein schlechtes Gewissen und mir fest vorgenommen, nicht zu warten, sondern meine Tochter entsprechend aufzuklären.

 

Mein erstes Tauschgeschäft!

von Edith Kollecker aufgeschrieben vor 2003, erstellt 27.07.2011

In unserem kleinen Dorf (Gut Streckenthin) waren 1943 ca. 20 französische Kriegsgefangene in einer Baracke untergebracht. Sie mußten unter Bewachung auf den Feldern arbeiten. Sie bekamen aus ihrer Heimat öfter mal ein Päckchen, unter anderem auch mal Schokolade. Meine Freundin und ich hatten mal gehört, dass Franzosen gerne Frösche essen. Wir sammelten etliche dicke Kröten in einen Schuhkarton und brachten sie dem Koch. Er nahm uns den Karton ab, schenkte uns Schokolade und schüttete die Frösche hinter der Baracke wieder aus. Später erfuhren wir dann, dass es ganz bestimmte Frösche sein mussten, die sie essen und außerdem hatten andere Kinder die gleiche Idee gehabt!

Zur selben Zeit waren ca. 20 Ukrainerinnen in einer Wagenremise untergebracht. Die Mutter meiner Freundin konnte Polnisch und nahm uns beide sonntags mit. Die Frauen saßen auf ihren Betten und bröselten so vor sich hin, nähten und flickten. Für uns Kinder war es eine Abwechslung. Diese Frauen mussten mit meinen Geschwistern auf dem Feld arbeiten, und so freundeten sich die jüngeren Mädchen mit uns an.

Als sie nach einiger Zeit am Sonntag Ausgang bekamen, besuchten sie uns. Bei unserem 9-Personen Haushalt war immer Tag der offenen Tür. Da kam es auf ein paar mehr nicht an. Leider hatten sie nichts, was sie uns schenken konnten, außer Läuse, worüber sich meine Mutter höllisch aufregte. Trotzdem durften sie im Winter bei uns Gänsefedern schleißen helfen, dieses Mal auch die Älteren. Das nahmen uns die Nachbarn allerdings sehr übel und kamen nicht mehr zu uns. Sonst war es auf dem Gut üblich, dass man sich gegenseitig half. Während die ganze Horde an den Federn zupfte, backte meine Mutter den ganzen Abend Pfannkuchen (Berliner). Für die Ukrainerinnen war es sicher ein schöner Abend!

Unser Schulweg war ziemlich lang. Und weil die Winter damals sehr kalt waren, war meine Mutter sehr darauf bedacht, uns so warm wie möglich anzuziehen, damit wir uns nicht erkälteten. Sie strickte uns in jeder freien Minute Strümpfe, aus selbst gesponnener Wolle, von unserem Schaf. War der Schaft zu lang, wurde er oben umgeschlagen, war die Spitze zu lang geraten, wurde auch sie umgeschlagen, damit wir in die Schuhe reinpassten, die sowieso immer zu groß waren. Waren uns die Strümpfe schon ein Dorn im Auge, so hassten wir die langen grauen Unterhosen, die wir auch anziehen mussten, wie die Pest. Es waren auch unmögliche Dinger, aus grauen, innen angerautem Trikotstoff, langärmelig und Beine bis über die Knie. Die Hose von meinem Bruder hatte hinten eine Klappe und meine war vorn bis hinten offen. Weil die Bündchen schon ausgeleiert waren, musste man sie einschlagen, damit man die gestrickten Strümpfe darüber ziehen konnte, und die wurden an Leibchen mit Gummibändern befestigt. Darüber kam dann noch der Schlüpfer, der auch zu groß war, man wuchs ja erst noch hinein. Der war übrigens außen glänzend und innen angeraut, aber die dicken Knie verdeckte er trotzdem nicht, die uns die ominöse Unterhose bescherte.

Meine Mutter war aber mit dem Ergebnis zufrieden, wir hatten es auch zu sein und hofften auf den Sommer, wo wir uns der unbequemen Sachen entledigen konnten.

 

Talente

von Fritz Schukat erstellt am 14.07.2011

Meine Mutter konnte „ganz toll zeichnen“ - so hab ich's in Erinnerung. Sie malte für uns - wir waren drei Geschwister – wenn sie mal Zeit hatte, mit Buntstiften hübsche aquarellartige, wolkige Bildchen mit fantastischen Blumen, kleinen Jungs und Mädchen und erzählte beim Malen dazu kleine Geschichten. Es waren keine Märchen sondern spontane Eingebungen, die wir aber anschließend genau wiedergeben konnten, und wenn einer sie nicht richtig erinnerte, sprang der andere meist ein wenig besserwisserisch ein. Die Bilder wurden aufgehoben und lagen in einer Mappe. Wenn wir sie uns nochmals anschauten, ergänzte Mama sie manchmal, was mir aber nicht so sehr gefiel.

Als wir im Sommer 1943 evakuiert wurden, blieben die Mappe, die Buntstifte und die Zeichenpappe in Berlin. In der neuen Unterkunft war es so beengt, dass es wohl keine Möglichkeit gegeben hätte, diese Mal-Erzählstunden fortzusetzen. Bei schlechtem Wetter kam es sicher auch mal vor, dass wir Kinder uns selber beschäftigten, ich versuchte mich natürlich auch als Zeichner, aber Meisterwerke sind sicher nicht entstanden.

Ein Bild aus jener Zeit existiert allerdings immer noch. Ich hatte es auf braunem Packpapier für unseren Vater gemalt, dessen Firma ins thüringische Plaue verlagert wurde. In einer fast hellseherischen Eingebung malte ich unsere Wohnung und schrieb darunter in kriekliger Schreibschrift: „...wenn unsere Wohnung kabut ist, male ich uns einfach eine neue! Dein Fritzechen“. Das Haus, in dem wir seit 1941 wohnten, ist tatsächlich während unserer Abwesenheit im Frühjahr 1945 ausgebombt worden. Es brannte bis auf die Außenmauern völlig aus.

Nach Kriegsende brachte Vater mein kleines „Kunstwerk“ mit nach Hause. Leider konnten wir in dem gezeichneten Haus nicht wohnen. Das frühkindliche Kunstwerk blieb dann lange Zeit verschollen. Erst als wir die großelterliche Wohnung in den 1960er Jahren auflösten, kam es wieder zum Vorschein. Seitdem ist es als „naive Malerei“ wieder in meinem Besitz.

Während meiner Schulzeit hatte ich in Zeichnen meistens eine „eins“. Figürlich und perspektivisch konnte ich gut zeichnen, Gesichter gelangen mir jedoch nicht, es wurden meist nur Karikaturen. Da ich mich aber auch in Kalligrafie versuchte, gelangen mir schon in meinen ersten Berufsjahren kleine Geburtstagskarten. Ich hätte mich mit dieser Fingerfertigkeit nicht „outen“ dürfen, denn noch immer muss ich für die Familie Geburtstagskarten etc. „malen“ - ich mach das heute aber am PC, das geht flotter und es ist nicht schlimm, wenn man sich mal vertut. Bis zum Ausdruck des fertigen Entwurfs ist ja alles nur virtuell!

Die Geschichte hätte keinen großen Sinn, wenn sie hier aufhören würde. Ich hatte keineswegs die Absicht, mich selbst zu loben. Lieber versteck' ich mich, als zuzugeben, dass ich irgend etwas gut oder besser kann, das war nie mein Ding. Das Zeichentalent meiner Mutter hatte in ihrer Familie ein Gegenstück. Ihr Bruder, also mein Onkel, war offenbar noch besser. Er arbeitete als Redakteur bei einer Sportzeitung in der DDR und hatte deshalb natürlich gute Verbindungen innerhalb des Verlagswesens. Er verfeinerte seine Fingerfertigkeit so, dass er sogar kleine Karikaturen platzieren konnte. Ob er dafür Geld bekam, weiß ich nicht, aber auch in der DDR galt sicher der Grundsatz, „von nüscht kommt nüscht“ - er wird wohl dafür ein kleines Taschengeld bekommen haben.

Wenn es jetzt gleich nach „Eichenlaub stinkt“, dann nehm' ich das gern in Kauf. Unser Jüngster - Jahrgang 1976 - muss eine gute Portion Zeichen-Gene von meiner Mutter über mich abbekommen haben, denn er ist in dieser Hinsicht sehr gut ausgestattet. Seine Zeichnungen waren schon in frühester Jugend wesentlich besser als mein „Wohnungsbild“, das ich mit 8 Jahren gemalt hatte. Bei Carsten blickte das Talent bereits mit 4 Jahren durch. Dann folgten kindliche Schaffensperioden, in denen er nicht nur abmalte, sondern sich auch mit Objekten beschäftigte. Er baute mit Pappe, Leim und Plaka-Farben kleine Fantasie-Maschinen, später auch kompliziertere Objekte, z.B. „Diamanten“ - wie er seine Werke nannte - aus Pappe mit Lineal entworfene Oktaeder und andere geometrische Körper. Und immer wieder filigrane Großzeichnungen, bei denen jeder Strich stimmte.

Carsten hatte anfangs ein Handicap, das eigentlich gegen seine Begabung hätte wirken können: er hatte in frühester Jugend eine Hornhautverkrümmung, die dafür sorgte, dass er in den ersten Lebensjahren sehr starke Brillengläser brauchte und vor allem, er musste deswegen lange Zeit mit einem zugeklebten Auge durch seine Kinderwelt stapfen. In dieser Zeit konnte er nicht räumlich, dreidimensional, d.h. perspektivisch sehen. Aber er beobachtete mit einem Auge seine Umwelt offenbar so gut, dass er in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten hatte. Trotz dieser Behinderung - er braucht auch heute noch starke Brillengläser - ist er ein Augenmensch, und hat sein Talent zum Beruf gemacht: er ist „Web-Designer“ und verdient seine Brötchen mit anspruchsvollen Grafikprodukten, an denen er manchmal tagelang herumfeilen muss. Er tut das mit großer Begeisterung und kann sich bis zur Ablieferung der Aufträge „so richtig austoben!“ Natürlich ist heute in dieser Sparte technische Handfertigkeit Trumpf, seine Werke entstehen am PC. Aber ohne seine zeichnerische Begabung könnte er in diesem Beruf nicht bestehen.

 

Brillenschlange

von Fritz Schukat aufgeschrieben am 3. Oktober 2011

Hatte in meiner Jugend ein Mädchen eine Brille auf, war es eine Brillenschlange. Ich könnte jetzt keinen Namen nennen, aber das waren immer zarte Mädchen und die Brillen hatten echte Gläser, die kaputt gingen, wenn die Brille runterfiel.

Omas und Opas sind prädestiniert für Brillen, sie gehören einfach zu ihnen, aber Kinder? Also, sehr oft sah man früher Kinder mit Brillen nicht. Mein kleiner Cousin trug allerdings eine, die er mit dem Zeigefinger immer wieder in die Normalstellung drückte, weil sie ständig herunterrutschte. Das sah schon putzig aus, aber er merkte es gar nicht mehr, es gehörte einfach zu ihm.

Dass ich mal eine Brille tragen müsste, glaubte ich lange nicht. Ja, eine Sonnenbrille hatte ich, sogar eine recht teure, aber eine Lesebrille oder gar für die Ferne? Ende der 1970er Jahre fing es unmerklich an. Erst sah ich über den Buchstaben farbige Ränder, obwohl gar keine dort waren und dann wurden die Buchstaben immer undeutlicher. Ich musste ran und bekam eine riesige Brille zum Lesen, die ich aber sonst immer abnehmen musste, manchmal auch schnell in die Haare schob, was ich aber gar nicht mochte, ich fand das affig.

Meine nächsten Brillen waren sogenannte Halbbrillen, also Lesebrillen, über die man hinweg schauen konnte, wenn man die die Ferne gucken musste. Eine feine Lösung. Ein paar Jahre vor meiner Katarakt-OP rechts sollte ich eine Gleitsicht-Brille bekommen, mit der man Lesen und in die Ferne schauen konnte, ohne sie abzunehmen. Viele Leute erklärten mir, das sei das Ei des Columbus, aber bei mir funkte das nicht.

Da mein linkes Auge noch leidlich in Ordnung war, verschleppte ich den OP-Termin noch ein paar Jahre, aber dann musste es wohl sein. Peter Frankenfeld spielte mal einen Berliner, der sich wegen einer ähnlichen Situation selbst beschimpfte und formulierte das in feinster Berliner Mundart: „...ick könnt ma peitschen!“ So kam ich mir vor, denn das Seherlebnis nach dieser OP war umwerfend. Aber, obwohl ich jetzt fast ohne Brille sehen kann, hatte ich vor der OP getönt: ...selbst wenn ich nach der OP gut sehen kann, werde ich eine Brille tragen und wenn sie nur Fensterglas enthält! Die Brille ist mein Markenzeichen. Ich trage weiterhin Brille!

Brillengläser waren früher wirklich aus Glas. Wie gesagt, fiel die Brille unglücklich herunter, war ein Sprung im Glas, manchmal sogar sternenförmig. Ich seh heute noch meinen Opa mit einer solchen Brille rumlaufen. Er weigerte sich, das Glas austauschen zu lassen.

Irgendwer sammelte in der Familie alte Brillen, meist hatten sie keine Gläser mehr und eigneten sich vortrefflich zum Verkleiden auf Kinderfesten und so. Wir waren wieder einmal am Schminken und hatten das Kästchen mit den Brillen auf die Frisierkommode gestellt, als meine Tante hereinkam und sich das neue gelbe Brillengestell, das sie noch nicht kannte, aufsetzte. Hocherfreut erzählte sie, dass sie durch diese Brille fantastisch gucken könne! Als wir sie darauf aufmerksam machten, dass ja gar keine Gläser drin seien, lief sie - die gestandene Frau von etwa 40 Jahren - feuerrot an, musste dann aber herzlich lachen. Über diese Story lachten wir noch Jahre danach.

Unser Junior wurde in Mainz geboren. Seinen ersten Geburtstag feierten wir ganz groß mit Oma, Opa, Tanten, Onkels, Bruder und Cousinen. Darüber gibt es unzählige Bilder und natürlich auch einen Film – leider stumm. Da war der Lütte quietschlebendig, rannte schon freihändig herum und beschäftigte alle Leute. Mit seinen Augen war alles offenbar noch in Ordnung. Den zweiten Geburtstag feierten wir schon in Norderstedt – allein. Die Familie wohnte ja in und um Frankfurt/M., zu weit weg, um mal eben vorbeizukommen. Trotzdem gibt es viele Bilder. Als ich sie durchblätterte, nachdem wir sie eine Woche später vom Fotogeschäft abholten, wies ich meine Frau darauf hin, dass „...der Kleene schielt!“ „Das ist nicht wahr!“, war die Antwort, und doch stimmte es, denn in den nächsten Wochen wurde es immer schlimmer, bald rutschte das eine Auge an den Nasenflügel, so dass es nun auch meine Frau sehen musste.

Nach der augenärztlichen Untersuchung dann das für mich schlimme Urteil – Carsten hat Hornhautverkrümmung – was auch immer das tatsächlich ist. Das muss vielleicht sogar operativ korrigiert werden, auf jeden Fall muss er eine Brille bekommen, 10 Dioptrien auf beiden Seiten. Ich war fassungslos, „... dann ist er ja praktisch blind!“ Ich sah ihn schon mit so einer Art Lupenbrille rumsausen, die sicher so schwer seine Nase belasten würde, dass er später wie ein Boxer aussehen würde. Die erste Brille war auch tatsächlich schlimm, ganz dicke Gläser aus Kunststoff, versteht sich, so modern waren wir vor gut 30 Jahren schon, aber er bekam dann jedes Jahr eine neue. Trotzdem wurde fleißig geklebt, mal das rechte, mal das linke Auge, aber der kleine Kerl meisterte das und klagte nicht. Er konnte eben auch mit einem Auge noch besser sehen, als zuvor ohne Brille. Und er entwickelte sogar perspektivisches Sehen, obwohl er lange Zeit nicht doppeläugig, also dreidimensional sehen konnte, das merkten wir an seinen Zeichnungen, die von Jahr zu Jahr immer figürlicher wurden. Die Schielstellung wurde sogar zweimal operiert, ein drittes Mal hätten die Sehnen nicht durchgehalten. Heute trägt er natürlich immer noch Brille, aber die Schielstellung ist behoben.

Vor ein paar Wochen hatte meine Frau ebenfalls eine Katarakt-OP – rechts. Hat alles prima geklappt, nur ihre bisherige Brille kann sie nicht mehr tragen. Sie braucht jetzt eine zum Lesen und Fernsehen und eine zum Autofahren.

Apropos Autofahren. Sie durfte drei Wochen nicht allein Auto fahren. In dieser Zeit war ich ihr Chauffeur. Dass sie das so lange ausgehalten hat, betrachte ich nachträglich als kleines Wunder. Für sie aber war das eine böse Zeit!

 

Ein Mädchen namens Max

Rosis Hahnenkamm 

oder wie meine Schwester zu ihrem Spitznamen kam
von Fritz Schukat ergänzt im August 2011

In den Nachkriegsjahren spielten wir - wie alle Kinder zu dieser Zeit - selbstverständlich auf der Straße, eigentlich zu allen Jahreszeiten, am liebsten natürlich, wenn es warm war. Es gab ja auch kaum Spielzeug, mit dem man in der Wohnung spielen konnte, wenn man mal von den Puppen der Mädchen absah, die oft genug von den Müttern oder Großmüttern selbst gebastelt wurden, wofür sie meist alte rosane Unterwäsche kunstvoll zusammennähten, mit Watte ausstopften, Haare aus brauner oder gelber Wolle annähten und die Gesichter mit Buntstiften auf den Stoff malten.

Puppen mit Porzellanköpfen oder aus Celluloid, mit Glasaugen, die sich auch schließen konnten, wenn man sie im Arm hielt, hatten nur ganz wenige Mädchen. Ein Nachbarjunge hatte vom Vater einen Märklin-Baukasten von vor dem Krieg „geerbt“, aber ansonsten wurde improvisiert. Mein Onkel schnitzte mir einmal einen Schiffsrumpf für ein Segelboot aus einem Scheit Holz. Die Segel nähte ich mir selbst aus Stoffresten, die ich bei Oma „abstaubte“ und die Takelage bastelte ich aus schwarzem Zwirn. Ob mein Schiff jemals richtig im Wasser schwamm, daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich war jedenfalls ziemlich stolz auf dieses Kunstwerk. Mein Ozean war der Teppich in der guten Stube. Aber am liebsten waren wir doch unten, denn da waren wir meist ohne direkte Aufsicht.

Wir spielten Fangen, Völkerball und Verstecken, rannten herum und brauchten keine Angst zu haben, denn Straßenverkehr war damals fast gleich Null. In unserer Straße standen jeweils etwa 15 Meter von einander entfernt relativ stattliche Bäume, die durchaus 10-12 Meter hoch waren, so dass selbst diejenigen, die - wie wir - im zweiten Stockwerk wohnten, vom Balkon aus manchmal noch die Äste anfassen konnten. Dazwischen standen dann die in Berlin damals noch üblichen Gaslaternen.

Meine kleine Schwester war ein lebhaftes Kind und manchmal war sie wilder als die Buben, mit denen sie spielte. Kein Laternenpfahl war vor ihr sicher, sie kletterte daran hoch wie ein Wiesel und sie kletterte auch in die Straßenbäume, allerdings brauchte man dafür Hilfe, denn die unteren Äste waren wohlweislich abgesägt.

Irgendwann kam die Zeit der Kopfläuse. Viele Kinder waren davon befallen, auch meine kleine Schwester. Um die „Pläster“ los zu werden, wurden die Haare mit sonem Entlausungszeugs eingepudert. Dann musste das arme Kind ein paar Stunden mit einem Turban rumlaufen, der aus einem Handtuch gewirkt wurde. Schließlich wurden die dann meist toten Biester mit einem Läusekamm einfach ausgekämmt und fielen auf ein darunter gelegtes Blatt Papier. Damit war man aber die Nissen noch nicht los, das sind die Läuseeier. Die klebten nach wie vor an den Haaren und mussten einzeln „abgesucht“ werden. Das machten die Erwachsenen „wie die Affen im Zoo“. Und wenn eine Nisse gefunden wurde, nahm man beiden Daumennägel und zerquetschte sie. Das gab einen herrlichen Knackslaut und die Augen der „Eiermörder“ glänzten verzückt.

Bei meiner Schwester half das nur bedingt. Sie hatte hübsche, halblange Haare, aus der ihr meist ein Hahnenkamm gewickelt wurde, das war damals die Standardfrisur für kleine Mädchen. Leider wurden diese Mädchen dadurch auch ein beliebter Zufluchtsort für Kopfläuse. Wenn man aber diese Plagegeister ganz sicher loswerden wollte, gab es eigentlich nur noch die Radikalmethode: einfach die Haare abschneiden! Das haben sie mit meiner Schwester auch gemacht. Sie sah mit ihrer „neuen Tolle“ wie ein Junge aus! Erst gab es ja Tränen, schließlich fühlte sie sich aber doch recht wohl, da man ihr versprach, dass die Haare nachwachsen würden. Als sie sich das erste Mal mit dieser Tonsur unten auf der Straße blicken ließ, wurde sie spontan von den Kindern „Max“ getauft. Sie trug zu gern eine Jungenhose und sah nun ja auch so aus wie der Max aus dem Bilderbuch von Wilhelm Busch!

Diesen Namen hat sie bei den Straßenkindern noch lange getragen. Wenn manchmal eine ihrer alten Freundinnen zu Besuch kam, wurde sie weiterhin so angesprochen und sie reagierte darauf mit einem Lächeln.

Max gibt’s nicht mehr. Sie ist vor einem Jahr verstorben.

 

Der kleine Sadist

Ein Tag in meiner Kindheit
von Heinz Münchow 02.07.2004

Es geschah Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre. Ich war etwa vier oder fünf Jahre alt. Meine Eltern wollten einmal - ohne Kind - verreisen und brachten mich zu meiner Großmutter.

Oma wohnte in einem Häuschen mit Garten, und ich hatte in Hof und Garten Platz zum Spielen. Oma hatte sechs Kinder großgezogen - und traute sich selbstverständlich zu, auch ihren Enkel zu betreuen. Dieser Enkel bemächtigte sich eines Tages Omas Lesehilfe, einer Lupe. Mit dieser Lupe stellte er dann 'optische Versuche' an.

Ich entdeckte, dass man bei Sonnenschein mit Lupe und Zeitungspapier Feuer machen konnte und: wenn der 'Brennpunkt' etwa auf eine Fliege traf, war ihr Zustand im Nu "gasförmig"!

Wenn ich Oma nicht gehorchte, griff sie auf ihre Maßnahmen von früher zurück: Sie packte mich an den Schultern und schüttelte mich (meinen Eltern 'petzte' ich es, als sie mich abholten: „Oma hat mich gewackelt!“)
Beim Abendbrot schlug mein 'Sadismus' nochmals zu. Auf dem Käsebrett lag ein Stück Käse. Oma schnitt sich eine Scheibe ab. Ich bemerkte, dass sich aus dem Käse ein Würmchen schlängelte. Voller Interesse verfolgten meine Augen den Weg des Würmchens bis in Omas Mund. Ich hab' nix gesagt!

Der Sadismus hat mich mein Leben lang nicht verlassen, z.B. bei meiner Schwiegermutter. Jedes Jahr lud sie zum Grünkohl-Essen ein. Der Kohl wurde mit viel Wasser zubereitet, so dass im Suppenteller viel Flüssigkeit vorhanden war. U n d alle Jahre wieder rührte ich mit meinem Löffel am Boden des Tellers, u n d alle Jahre wieder knirschte es - und alle Jahre wieder brach Schwiegermutter in Tränen aus, verließ den Raum und murmelte wie jedes Jahr: ich hab den Kohl doch siebenmal gewaschen!

Es gab trotzdem alle Jahre wieder Grünkohl.

 

Kinderlandverschickung

von Heinz Münchow 22.04.2004

damals In den Kriegsjahren 1939 bis 1945 gab es die sog. KLV - "Kinderlandverschickung". Schulkinder von etwa 10 bis 15 Jahren aus „bombenangriffgefährdeten Großstädten" wurden klassenweise mit dem Lehrpersonal in Gegenden transportiert, die nicht oder kaum als luftangriffgefährdet galten. So waren auch in Pommern (östlich von Stettin) Schulkinder aus dem Rheinland untergebracht.

Ich ging während der ersten Kriegsjahre in Stettin noch zur Schule, war aber auch schon in der Jugendbewegung tätig. Eines Tages kam für meinen Schulfreund Harald und mich die Anfrage, ob wir einen „KLV-Begleitauftrag" übernehmen würden. Wir konnten uns zunächst nichts Genaues darunter vorstellen, sagten dann aber zu, denn der Auftrag war mit einer Reise nach Köln verbunden! Die Unterkunft in Köln wäre für uns bereits in der Jugendherberge gebucht.
Na, dann konnte die Reise ja beginnen. Treffpunkt war Stettin Hauptbahnhof an einem bestimmten Spätnachmittag. Harald und ich bekamen einen Eisenbahnwagen zugeteilt, einen Personenwagen, etwa in der Größe eines Eilzugwagens, mit Türen an beiden Enden. Und dann kamen die Schulkinder! Etwa 40 Mädchen, die darauf brannten, nach einigen langen Wochen wieder in ihr rheinisches Zuhause zu kommen. Gab es noch ein Zuhause? Oder hatten die Bomben ihr Zuhause schon zerstört?
Der Zug setzte sich mit schnaufender Dampflok in Bewegung. Die Nachtfahrt begann. Und wir zwei postierten uns an beiden Enden des Waggons, um die Türen zu bewachen. Unser pommersches Temperament prallte zunächst auf das rheinische. Doch ein paar Regeln schafften Ordnung:
KEIN LICHT,
KEINE TÜREN ÖFFNEN,
TOILETTENBENUTZUNG: JA.
Vom Bahnpersonal erfuhren wir: bei Fliegeralarm durfte der Zug auf keinen Fall anhalten! Aber wie erfuhr der Lokführer vom Fliegeralarm? An den Bahnwärter - Häuschen und an den Bahnhöfen wurden violett leuchtende Lampen eingeschaltet (ich habe diese Lampen in der Nacht leuchten sehen.) Aufgabe des Lok-Personals war es außerdem, die Befeuerung der Lokomotive so niedrig zu halten, dass aus dem Schornstein der Lok möglichst keine Funken stoben.
Eine lange Nacht ging zu Ende. Am Vormittag erreichte der Zug einen Vorortbahnhof von Köln. Eltern und Angehörige erwarteten ihre Lieben und schlossen sie in die Arme.

Harald und ich hatten zwei Jugendherbergs-Übernachtungen vor uns. Zur Belohnung wollten wir uns Köln anschauen, was wir auch taten. Zwei „Erlebnisse" sind mir in der Erinnerung geblieben:

In Köln lief man nicht, man 'bewegte' sich mit der Straßenbahn - jedenfalls damals. Das war für uns Stettiner nichts Ungewöhnliches. Die Stettiner gingen mit ihrer Straßenbahn aber etwa so um: Hörte man das 'Abklingel-Signal' des Schaffners, begann man 1angsam einzusteigen. Warum sollte es in Köln anders sein? Doch diese Praxis versuchten wir nur ein einziges Mal! Wir konnten gar nicht so schnell gucken, wie die Bahn weg war...

In der Innenstadt von Köln überkam uns ein Hungergefühl. Vielleicht könnte man ein Stück Kuchen vertragen, eine Schnecke? Wir suchten also einen Bäckerladen. Aber wir haben keinen gefunden! Eine Konditorei stand neben der nächsten, aber ein Bäckergeschäft? Fehlanzeige!

Zwei Tage später endete mit der Rückreise nach Stettin unser Ausflug an den Rhein.

 

Unser Schwarzsee

von Edith Kollecker erstellt am 20.02.2007

Sommer, Sonne, Hitze und ein See in der Nähe, was konnte für die Kinder schöner sein? Unser Schwarzsee in Streckenthin war für uns Kinder der schönste See! Wir kannten auch keinen anderen.
Als wir ihn im Jahre 2005 wieder besuchten, sahen wir, dass er seinem Namen, (die Polen nennen ihn jetzt „Schwarzer See“) immer noch alle Ehre macht. Das Wasser ist dunkel, aber wenn man hinein geht und eine Weile stehen bleibt, kann man bis auf den Grund sehen. Darüber haben wir ins früher keine Gedanken gemacht.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, waren unsere Eltern eigentlich sehr leichtsinnig! Sie ließen uns Kinder alleine zum Baden fahren. Es konnte keiner gut schwimmen, geschweige denn jemanden vor dem Ertrinken retten.
Der See war ca. 3 km entfernt, lag in einer Tannenschonung und war nicht ungefährlich. Die Sommer waren in meiner Erinnerung immer schön warm. Hatte ein Kind die Idee, zum Schwarzsee zu fahren, kam gleich eine Horde von 8 bis 10 Kindern zusammen, die auch baden wollten. Mama war meistens im Garten beschäftigt. Wir riefen dann nur: „Wir fahren zum Schwarzsee!“ und warteten gar nicht erst die Antwort ab.
Leider hatte nicht jeder ein Fahrrad, meistens nur die Älteren. Dann wurde der Gepäckträger mit einem weiteren Kind besetzt, es hatten ja fast alle kleinere Geschwister. Beim Herrenfahrrad setzte sich zusätzlich eins auf die Stange, dort war dann noch ein Notsitz befestigt.
Meine Freundin Ursel durfte das Fahrrad ihrer Mutter nehmen und nahm mich mit. Leider war sie zu kein, um auf dem Sattel zu sitzen, sie musste im Stehen fahren und so war der Sturz schon vorprogrammiert. Die Wurzeln der Bäume trugen auch dazu bei. Natürlich nahmen wir die Abkürzung durch den Wald und schon lagen wir beide auf dem Boden. Zuerst schob sie das Fahrrad neben mir her, aber es behinderte sie, da die Pedalen immer ihre Beine streiften. Sie stellte das Rad einfach an einen Baum und ging mit mir zu Fuß zum See. Als wir am See ankamen, planschten die anderen Kinder schon eifrig im Wasser.Wenn auch keiner richtig schwimmen konnte, hatten wir doch viel Spaß!
Als wir zurück gingen, stand das Fahrrad meiner Freundin immer noch am Baum. Ohne mich auf dem Gepäckträger fuhr sie sicher allein nach Hause. Es war auch nur einmal, dass wir uns beide aufs Fahrrad wagten.

 

Ostern der besonderen Güte!

von Edith Kollecker gespeichert 13.02.2006

An Ostern in meiner Kindheit erinnere ich mich als erstes an Stiebruten und an Osterwasser. Denke ich aber weiter darüber nach, fing es schon drei Wochen vorher an.
Da das Osterfest immer im Frühjahr ist, entwickelte meine Mutter eine richtige Putzwut. Es wurden Schränke ausgeräumt und mit frischem Papier aus gelegt. Am Wochenende gingen dann meine Schwestern mit Schrubber und Putzlappen dem winterlichen Dreck zu Leibe. Das musste auch sein, denn um unsere großen Kachelöfen zu heizen, wurde nicht nur viel Holz, sondern auch viele Spinnen mit reingebracht. Kamen aber erst die Fenster und Türen dran, zog es im ganzen Haus wie Hechtsuppe. Man musste schon Reißaus nehmen, wenn man überleben wollte. Das tat ich dann auch, sonst hätte man mir einen Lappen in die Hand gedrückt, um das Untergestell unserer Singer-Nähmaschine putzen müssen. Alles schon mal da gewesen und dazu hatte ich nun gar keine Lust.
Der Freitag vor Ostern gefiel mir schon besser, es wurden Brote, Streuselkuchen und der schöne, leckere Krustenbraten im Dorfofen gebacken.
Am 1. Ostertag mussten meine Schwestern früh aufstehen und Osterwasser holen. Hatte sich die ganze Familie damit gewaschen, wurde das Wasser wieder zurück gebracht. Es musste noch vor Sonnenaufgang sein und es durfte nicht dabei gesprochen werden, dann hatte man das ganze Jahr über eine reine Haut.
Zum Frühstück gab es natürlich Eier. Weil unsere Hühner nur weiße Eier legten, wurde dem Wasser Zwiebelschalen oder Kräuter zugefügt, damit sie eine andere Farbe bekamen. Süßigkeiten bekamen wir dann beim Osterruten stieben.
Mit einem Reisigstrauch bewaffnet gingen wir zu den Familien mit kleinen Kindern, die noch im Bett lagen und sangen: „Stieb, stieb Osterhas, gibst du mir kein Osterei, stieb ich dir das Hemd entzwei“ und schon bekamen wir unsere Ostereier. Wir selbst waren früh auf, damit man uns nicht im Bett überraschte.
Meine älteste Schwester, die schon in Stellung war, brachte uns aus der Stadt noch kleine Ostersachen mit, die es bei uns auf dem Land nicht gab. So war es immer und wir dachten nicht, dass es sich mal ändern würde.
Es kam aber anders.
Mein Osterfest der ersten Güte war 1945! Am 1. März 1945 begann unsere Flucht in den Westen. Mit 12 Pferdewagen fuhren wir los, den ganzen Tag und abends übernachteten wir auf Gütern in Kuhställen oder auf Heuböden und bekamen auch Essen, meistens eine Suppe. Das änderte sich, als wir die Grenze zu Vorpommern passierten. Jetzt mussten wir in Schulen oder Sporthallen kampieren, auf Stroh, wo vor uns schon hunderte Menschen drauf gelegen hatten. Mittags gab es, wenn überhaupt, in irgendeinem Dorf Kohlsuppe oder Steckrüben, es waren aber nie Kartoffeln drin. So verbrachten wir die Tage und Nächte ca. 4 Wochen, dann kam Ostern.
Ostersonnabend hielten wir etwas früher in einem kleinen Dorf an. Ob es in dem Ort keine Sporthalle gab, oder sie schon überfüllt waren, jedenfalls wurden meine Mutter, mein Bruder und ich zu einem älteren Pastoren-Ehepaar geschickt. Dort bekamen wir erst einmal eine Stulle, durften uns waschen und bekamen ein Zimmer mit zwei frisch bezogenen Betten! Herrlich, wir konnten es kaum fassen. Dann der nächste Morgen, Ostern! Der gedeckte Tisch und jeder ein Ei, mein Bruder und ich ein paar Bonbons. Leider konnten wir das nicht lange genießen, wir mussten weiter in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Und so war es dann auch!

 

Meine erste Begegnung mit dem Tod

von Edith Kollecker gespeichert 23.04.2009

Ich muss ca. 6 Jahre alt gewesen sein, als ich das erste Mal mit dem Tod konfrontiert wurde. Mein Onkel Willi wohnte 4 km von uns entfernt, im Nachbarort Nedlin. Dort war der einzige Kolonialwarenladen in unserer Gegend und so fuhren meine Schwestern jeden Sonnabend dorthin, um einzukaufen. Im Sommer mit dem Fahrrad und im Winter mit dem Schlitten. Wenn es ihnen in den Kram passte, wurde ich mitgenommen. Oft besuchten wir dann Onkel Willi nebst Frau und 3 Kindern, einem Mädchen und 2 Jungen, die 2 und 12 Jahre alt waren.
Viel hatte ich damals nicht mitbekommen, aber meine Tante muss sehr schwach gewesen sein, denn oft fuhr eine meiner Schwestern dort hin, um sie im Haushalt zu unterstützen. Eines Tages war sie dann verstorben und kurze Zeit später auch der ältere Sohn.
Meine Eltern hielten alles von mir fern. Es war alles sehr traurig und so kam der kleine Junge zu uns. An ein Gesicht kann ich mich nicht erinnern, aber an einen lustigen, kleinen Bengel, der auf dem Töpfchen sitzend in der Stube hin und her rutschte.
Eines Nachts war viel Lärm und Unruhe. Ich schlief im Zimmer nebenan und hörte, der Kleine hätte Krämpfe. Mein Vater holte noch mit einem Pferdewagen einen Arzt aus dem Nachbardorf. Aber ohne Telefon und Auto hatte das Kind keine Chance. Als der Arzt endlich da war, hatte das kleine Herz schon aufgehört zu schlagen.
Als ich den nächsten Tag aus der Schule kam, hatten sie den Jungen in einem kleinen Zimmer auf dem Bett aufgebahrt und alle Nachbarn hatten Blumen gebracht.
Das Bild das sich mir bot, werde ich nie vergessen: er lag auf einem weißen Laken von einem Blumenmeer umgeben, als ob er schlief.

 

Mein Leid mit den Strümpfen

von Edith Kollecker gespeichert am 07.06.2006

Unser Schulweg war ziemlich lang und im Winter war es sehr kalt! Meine Mutter war dann sehr darauf bedacht, uns so warm wie möglich anzuziehen, damit wir uns nicht erkälten sollten. Sie strickte uns in jeder freien Minute Strümpfe. Aus selbst gesponnener Wolle von unserem Schaf. War der Schaft zu lang, wurde er oben umgeschlagen, war die Spitze zu lang geraten, wurde auch sie umgeschlagen, damit wir in die Schuhe reinpassten, die sowieso immer zu groß waren.
Waren uns die Strümpfe schon ein Dorn im Auge, so hassten wir die langen grauen Hemdhosen, die wir auch anziehen mussten, wie die Pest. Es waren auch unmögliche Dinger, aus grauen, innen angerautem Trikotstoff, langärmelig und Beine bis über die Knie. Die Hose von meinem Bruder hatte hinten eine Klappe und meine war von vorn bis hinten offen. Weil die Bündchen schon ausgeleiert waren, musste man sie einschlagen, damit man die gestrickten Strümpfe darüber ziehen konnte, und die wurden am Leibchen mit Gummibändern befestigt. Darüber kam dann noch der Schlüpfer, der auch zu groß war, man wuchs ja noch hinein. Der war außen glänzend und innen angeraut, aber die dicken Knie verdeckte er trotzdem nicht, die uns die ominöse Unterhose bescherte.
Meine Mutter war aber mit dem Ergebnis zufrieden, und wir hatten es auch zu sein und hofften inständig auf den Sommer, wo wir uns der unbequemen Sachen entledigen konnten.

 

Konfirmation 1949

von Edith Kollecker

Es war der 1. Ostertag, der 17. April 1949*, als ich konfirmiert wurde. Meine Schwester Gerdi hatte mir ein Kleid aus blauen Wollstoff genäht. Durch den weißen Kragen sah es auch etwas festlich aus. Ich hätte auch gerne ein Seidenkleid gehabt, wie meine Schulkameraden, die vorher schon immer davon geschwärmt hatten. Wir fuhren mit einer Pferdekutsche zur 6 km entfernten Kirche. Es war noch recht kalt, so war mir das Wollkleid recht, denn einen ordentlichen Mantel besaß ich damals auch nicht.
Es war auch nur eine kleine Familienfeier. Außer ein paar Freunden kam die Bauersfrau, bei der ich zwei Jahre nach der Flucht gelebt hatte. Sie schenkte mir einen seidenen Unterrock, darüber habe ich mich sehr gefreut. Zum ersten Mal hatte ich auch seidene Strümpfe an, aber auch zum letzten Mal.
Am Abend sind wir Kinder zum Osterfeuer gegangen, querfeldein versteht sich. Das haben die guten Seidenen leider nicht so gut gefunden. Es war ein schöner Abschluss.
Die Strümpfe musste ich allerdings erst mal verstecken, sie waren nicht mehr zu gebrauchen.
vermutlich schon 2006 entstanden
gespeichert am 12.02.2008

Recherche
In der Urfassung vermerkte die Autorin den 14. April als 1. Ostertag (Ostersonntag). Das ist jedoch ein Irrtum, denn nach dem hier vorliegenden Kalendarium 1949 war der 14. April Gründonnertag.
Grundsätzlich fanden Einsegnungen am Palmsonntag, also dem Sonntag vor Ostern statt, in Sonderfällen (zu viele Konfirmanden) aber auch zu Ostern. Die Autorin wurde wegen der Berichtigung informiert.
Fritz Schukat, 24.05.2011

 

Erinnerungen an einen Winter in Pommern

von Edith Kollecker gespeichert am 30.10.2006

Heute vermisse ich den Schnee nicht, ich kann sehr gut damit leben, dass wir einen milden Winter haben. Das war aber vor ca. 65 Jahren anders, daran kann ich mich noch gut erinnern.
Ende November kam meine Mutter ins Zimmer, um uns, meinen Bruder und mich, zu wecken. Wir sollten uns rechtzeitig für den Schulweg fertig machen. Sie sagte: „Schaut mal aus dem Fenster.“ Flugs waren wir da, hauchten ein kleines Loch in die gefrorene Fensterscheibe, und was sahen wir dort: Es hatte geschneit. Es hatte wohl schon die ganze Nacht geschneit, denn der ganze Hof war weiß und der Gartenzaun hatte weiße Mützen auf. So schnell wir konnten machten wir uns für den Schulweg fertig.
Meine Mutter mummelte mich richtig ein. Schnürschuhe, dicke selbst gestrickte Fausthandschuhe, die mit einem langen Band aus den Ärmeln der Winterjacke ragten, damit wir sie nicht verlieren. Jetzt kamen noch die Wollmütze und der Muff, ich konnte mich kaum bewegen. Auf dem Hinweg hatten wir keine Zeit, uns an der weißen Pracht zu erfreuen. Leider waren die ersten Begegnungen mit dem Schnee während der Pause auch nicht so erfreulich. Die älteren Kinder veranstalteten eine Schneeballschlacht - und immer auf die Kleinen. Der Lehrer musste eingreifen, wenn sie es zu doll trieben. Der Heimweg war auch nicht besser und sehr lang. Sie hatten ihren Spaß daran, unser Gesicht mit Schnee einzureiben, oder Schnee in unseren Kragen zu stecken. Weinend kam ich dann zu Hause an. Mama musste sich dann mein Gebrüll anhören, während mein Bruder hinter ihr Faxen machte und mich eine Petze nannte, er war nämlich einer der frechen Jungen.
Meine Freundin Ursel und ich machten einen weiten Bogen um die Bagage. Nach einiger Zeit ließ das Interesse an uns von selbst nach, denn jetzt fing der Spaß erst richtig an. Alle Räder der Leiterwagen vom Gut, auf dem wir seit ich denken kann lebten, waren auf Kufen befestigt worden und wir banden unsere Schlitten daran fest. Der erste musste ein langes Seil haben, damit ihn der Kutscher mit seiner Peitsche nicht erreichen konnte. Verboten war es allemal, doch die jüngeren Männer übersahen uns einfach. Sie freuten sich, wenn einer in der Kurve runterfiel und hinterher laufen musste.
Viel Spaß machte uns das Rodeln am Schlossteich. Wir hatten nur einen Schlitten und den beanspruchte mein Bruder. Ich musste dann auf Ursel zurückgreifen, die einen größeren besaß, darauf hatten wir dann beide Platz. Was war das für eine Freude, wenn wir den Berg herunter sausten und über den halben See schlitterten. Leider mussten wir ihn wieder zu Fuß hochklettern. Manchmal war eine Seite des Sees abgesperrt. Dort wurden große Blöcke Eis herausgesägt und in den Eiskeller gebracht, wo sie bis zum Sommer lagerten. Wenn erst einmal die leidigen Schularbeiten erledigt waren, ging es raus zum Wintersport. Handschuhe lagen auf der Ofenbank immer parat, noch einen Bratapfel aus der Ofenröhre, und Mama sah uns den ganzen Nachmittag nicht wieder.
Es schneite tagelang, es stürmte und wehte hohe Schneewehen auf, die durch den Dauerfrost so fest waren, dass wir uns darunter Höhlen bauen konnten. Im
Winter war auch die Zeit, in der geschlachtet wurde. Wenn wir aus der Schule kamen, hing das Schwein schon gebrüht und geschruppt an einer Leiter, die an unserer Hauswand lehnte. Wir schauten zu, wenn der Schlachter dem Schwein den Bauch aufschnitt und nahmen den bestialischen Gestank in Kauf, wenn er die Därme reinigte. Später wurde darin der Wurstteig gefüllt. Es roch nicht nur tagelang nach gekochtem Fleisch und Fett, es klebte auch an allen Türklinken. Mama hatte so ihre Taktik, eins nach dem anderen und kurze Zeit später hingen die Würste fein säuberlich über einem Besenstiel fertig zum Räuchern.
Dann begann das Attentat auf die Gänse. Einen Tag vorher wurden sie auf einen kleinen See getrieben, damit sie sich säuberten. Sie kamen in den mit frischem Stroh ausgelegten Stall und hungerten dem nächsten Tag entgegen. Es waren ca. 35 Gänse, die geschlachtet, gerupft, gewaschen und ausgenommen werden mussten. Die Federn wurden in Säcken zum Trocknen auf den Boden gehängt.
Die Zeit verging, wir freuten uns auf das nahende Weihnachtsfest und es schneite immer noch. Wir marschierten in Eintracht mit den großen Kindern, die uns jetzt in Ruhe ließen, zum Schloss, um ein Weihnachtsmärchen einzustudieren, das dann am Sonntag vor Weihnachten aufgeführt wurde. In dieser Zeit wurden auch für unseren 9-Personen Haushalt große Mengen Plätzchen gebacken. Mama schimpfte mit uns, wenn das Interesse am Ausstechen der Sternchen nachgelassen hatte. Was hatten wir sie vorher genervt, endlich damit anzufangen, weil wir helfen wollten, jetzt wollten wir aber lieber in den Schnee.
Dann kam das langersehnte Weihnachtsfest, mit geschmücktem Weihnachtsbaum Geschenken und dem Weihnachtsbraten.
Zwischen den Jahren war auf dem Gut für meine Schwestern wenig zu tun und sie gingen dann mit uns rodeln. Dann wurde Silvester gefeiert. Wir Kinder gingen verkleidet von Haus zu Haus, um Süßigkeiten zu bekommen. Mama konnte zum Jahreswechsel mit dem Krapfenbacken nicht nachkommen, so schnell hatten wir sie aufgegessen. Es ging alles viel zu schnell vorbei.
Der Januar war sehr stürmisch und früh dunkel. Obwohl Mama sagte: „Es ist schon einen Hahnenschrei länger hell“. Meine Schwestern kamen schon früh von der Arbeit nach Hause. Sie beschäftigten sich dann mit Plätten, Stopfen und Nähen. Die Federn, die auf dem Boden hingen, mussten geschlissen werden, damit war dann ein neues Bett gesichert. Mama hatte im Winter auch mehr Zeit und beschäftigte sich mehr mit der Essenszubereitung. Wir waren Topfgucker der üblen Sorte. Die erste Frage war, was gibt's zu Essen? Gab es aber Wruken oder Erbsensuppe, wusste ich im voraus, dass ich gar keinen Appetit hatte. Mama legte ihre Hand an meine Stirn und sagte: „Du wirst doch nichts ausbrüten?“ Sie machte sich immer Sorgen um ihr Nesthäkchen. Etwas später stand das arme, appetitlose Kind am Brotspind und schmierte sich eine Stulle mit Butter und ganz dick Zucker drauf. Auch der Februar war kalt, und es lag immer noch viel Schnee. Es war schon etwas länger hell, doch große Lust zum Rodeln hatten wir nicht mehr. Der März brachte uns auf den Geschmack des Vorfrühlings.
Wir jammerten Mama die Ohren voll, schon mal bei Sonnenschein Kniestrümpfe zu tragen. Wie immer gab sie nach. Doch das Wetter schlug um, es wurde wieder kalt, was wir nicht wahrhaben wollten. Die Rache folgte gleich, ich hatte mir eine starke Erkältung eingehandelt, der Mama mit einer gekochten Zwiebel, oder gekochten und zerdrückten Pellkartoffeln zu Leibe rückte, dann ab ins Bett und tüchtig schwitzen. An einen Arzt kann ich mich nicht erinnern. Das arme kranke Kind wurde mit Hühnerbrühe und anderen leckeren Eierspeisen wieder aufgepäppelt. Mir ging es gut, immer kam eine meiner Schwestern rein, um mir Gesellschaft zu leisten. Nur der Lebertran, den ich schlucken musste, machte alles zu Nichte. Schon der Anblick der gelblich aussehenden Flüssigkeit im Löffel, der mir verdächtig näher kam, verursachte mir Übelkeit. Gab Mama immer bei mir nach, so stellte sie sich hierbei stur. Ja sie verbiss sich direkt darin und war der Meinung, dass nur dieses mir helfen würde, um wieder auf die Füße zu kommen. Mit der Meinung stand sie allerdings nicht alleine da. Später gab es in der Schule auch Lebertran nur für die schwächeren Kinder. Der Lehrer blieb so lange bei uns stehen, bis wir den Löffel Lebertran tatsächlich runtergeschluckt hatten. Wie habe ich meine Freundin beneidet, die etwas pummelig war.
Ob mit oder ohne Lebertran, ich wurde wieder gesund und niemand nahm mehr Notiz von mir. Auch der längste Winter geht mal zu Ende. Die Sonne schien, es hingen Eiszapfen am Dach, die wir gerne gelutscht haben. Mama schimpfte mit uns, und sagte: „Ihr werdet noch Läuse in den Bauch kriegen, kommt mir nicht nach Hause und jammert, ihr hättet Bauchschmerzen“. Die Äpfel mussten aus der Bratröhre verschwinden, um einem Schuhkarton mit kleinen, niedlichen, viel zu früh geschlüpften Küken Platz zu machen. Unser Hund (Prinz) scharwenzelte immer davor und leckte sich genüsslich das Maul. Wir ließen ihn auch mal daran schnuppern.
Die Zuchtgänse saßen schon lange auf ihren Eiern, und warteten geduldig, dass sich endlich Nachwuchs einstellte, es piepte schon verdächtig. Wenn die ersten Gösselchen geschlüpft waren, ließen sie sich nicht mehr halten, der Rest wurde mit einer Wärmflasche im Bett ausgebrütet. Die Sonne stieg höher und höher, es wurde warm und unsere verhassten Wollstrümpfe konnten eingemottet werden.
Der Sommer war endlich da!

 

Ein tierisches Erlebnis!

von Edith Kollecker erstellt am 18.06.2004

Mit Tieren sind wir 7 Kinder einer Tagelöhnerfamilie in Pommern aufgewachsen. Hund und Katze begrüßten uns schon im Bett. Traten wir vor die Tür, meist mit einer Stulle in der Hand, kamen gleich die Hühner, Gänse, Enten angerannt, um etwas abzubekommen.
Das hatte sich auch nicht geändert, als wir nach unserer Flucht auf einem kleinen Gut im nordwestlichen Niedersachsen Unterkunft gefunden hatten. Das Gut besaß 6 Sauen. Eine davon starb bei der Geburt und hinterließ 12 kleine Ferkel. Meine Mutter nahm dann die kleinen Ferkel zu uns in die
Stube und versuchte, sie aufzupäppeln. Alle zwei Stunden bekamen sie die Flasche.
Nach einiger Zeit hatte sie tatsächlich 6 kleinen Ferkeln das Leben gerettet. Eines jedoch war klein und mickrig geblieben, man gab ihm keine Überlebenschance. Dieses wurde uns geschenkt und entwickelte sich als Prachtschwein. Nicht etwa, dass es schnell groß und stark wurde, es war eher klein, aber schlau. Durch jede Lücke die sich ihm bot, entwischte es uns. Als es, welch ein „Wunder“ doch zu groß für unsere Stube geworden war, zimmerte mein Vater ihm einen kleinen Stall im nahen Wäldchen. Wir mussten es verstecken, weil wir kein Schwein halten durften. Jeden Tag nach meiner Schule, musste ich es spazieren führen, damit es etwas Bewegung hatte. Man konnte auch herrlich mit ihm spielen, einen ganzen Sommer waren wir täglich zusammen.
Weil in der Schwarzmarktzeit Viehzählung anstand, musste ich einmal den ganzen Tag mit ihm auf dem Feld verbringen. Aber wie das Leben so spielt, nach einem schönen Sommer war es schlachtreif. Meine Eltern kannten noch einen Schlachter aus Pommern, der bereit war, das Schwein in der Nacht zu schlachten. Da es schon dunkel war, wollte es nicht seinen Stall verlassen. Obwohl ich gehofft hatte, nichts von dem mitzubekommen,
musste ich es rauslocken. Und tatsächlich, mir, seiner Freundin, vertraute es und folgte mir zur Schlachtbank.
Ich habe noch einige Zeit darunter gelitten und mir schmeckte kein Essen!

 

Ein Junge weint nicht...

Edith Kollecker, im März 2011

...und ein großes Mädchen auch nicht. So in etwa bekam ich es bei uns zu Hause zu hören, wenn ich mit Blessuren vom Spielen nach Hause kam. War meine Mutter sonst so nachsichtig, hatte sie kein Verständnis dafür, wenn wir barfuß in eine Glasscherbe getreten waren oder unter dem Stacheldrahtzaun durchkrochen und nicht den Umweg durch die Pforte nahmen. Waren es Schürfwunden, wurden sie nur gewaschen, denn es sollte Luft rankommen. So war es dann auch. Es bildete sich Schorf, der später abfiel, und alles war wie vorher. Waren es tiefere Wunden, wurden sie mit Spitzwegerichblättern belegt und mit einem Lappen verbunden. Dieser Verband hielt dann gerade noch „von 12 bis Mittag“, weil er keinen Halt hatte. Nun, meine Mutter war ja keine Krankenschwester, aber trotzdem waren wir in kürzeste Zeit geheilt.
Dass Jungen auch mal weinen, habe ich auch erfahren. Wir hatten zu Hause etliche Tiere, Hühner, Enten, Gänse usw.. Interessant waren sie für mich nur, wenn sie noch klein und niedlich anzusehen waren, so wie auch die kleinen Kälbchen, die jedes Jahr bei uns geboren wurden. Ich ließ sie gerne an meinem Finger saugen. An den beiden Schweinen, die bei uns im Stall grunzten, hatte ich keine Interesse. Sie waren dreckig, stanken und schmatzten beim Fressen, es waren eben nur Schweine. Vielleicht lag es daran, dass wir sie nicht schon als kleine rosa Ferkelchen bekamen. Sie waren schon etwas größer, wenn wir sie bekamen und wurden zum Schlachten gemästet. Eins wurde im Winter für uns geschlachtet, damit wir was zu Essen hatten. Das zweite wurde verkauft, um die Haushaltskasse aufzubessern.
Eines Tages sah ich meinen Vater auf dem Holzklotz sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt, er hatte Tränen in den Augen. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen, für mich war er immer der starke Mann, der alles machte und alles konnte. Den Grund, weshalb er traurig war, habe ich später von meinen Schwestern erfahren. Das Schwein, das verkauft werden sollte, war an Rotlauf erkrankt und wurde abgeholt. Tragisch war es deshalb, weil kurz davor auch eine Kuh eingegangen war. Es war ein sehr großer Verlust für unsere große Familie, denn das gesunde Schwein brauchten wir für den Eigenbedarf.

 

50 Jahre Sandmännchen

von Annemarie Lemster

Dieses kleine Männchen mit seiner spitzen Mütze und dem Sandsack auf dem Rücken, das niemals gesprochen hat, war für viele Kinder der Abschluss eines schönen Kindertages. Um fünf vor Sieben saßen die Kleinen vor dem Fernsehapparat und schauten, was an diesem Tag das Sandmännchen für sie mitgebracht hatte. Ging das Sandmännchen, verstreute es noch einmal Sand aus seinem Sack in die Augen der Kleinen, und es wurde ohne zu murren ins Bett gegangen. Die Industrie hat den kleinen Mann dann auch recht schnell vermarktet, es gab Lätzchen, Kinderdecken und, und, und...
Über dem Bett meiner kleinen Tochter hing viele Jahre ein Wandbehang mit dem kleinen Mann bei seiner Arbeit. Sehen konnte man den Sandmann nur, wenn man eine Antenne auf dem Dach hatte, die nach Osten ausgerichtet war. Dieser kleine Mann war nämlich ein Bewohner der damaligen DDR.
29.12.2009

Bemerkung der Redaktion:
Von 1959 bis 1991 gab tatsächlich zwei dieser hübschen Stop-Motion-Trickfilm Puppen. Die Figur, die Frau Lemster hier als Bewohner der DDR bezeichnet, hieß nur „Sandmann“, während das Pendant der ARD tatsächlich „Sandmännchen“ hieß.
Beide hatten aber wesentliche Züge gemeinsam, sowohl im Ost- wie im Westfernsehen wurden sie als kleiner Mann mit weißem Bart und Zipfelmütze dargestellt.
Der DDR-Sandmann überlebte die Wende und wird noch immer im Kika, RBB und MDR gesendet, während das West-Sandmännchen nach der Wende im Jahre 1991 eingestellt wurde.
Wer noch die Melodie im Ohr hat, hat keine Schwierigkeiten, es selbst herauszufinden: „Sandmann, lieber Sandmann …..“
Ob es vor der Wende in der alten Bundesrepublik wirklich Lätzchen und Kinderdecken mit der Figur des Ost-Sandmanns gab, wollen wir hier nicht gleich bezweifeln, denn beide Figuren sahen sich ja sehr ähnlich!
Fritz Schukat, 24.05.2011

 

Brausepulver und Bananen

von Annemarie Lemster erstellt am 28.08.2008

Es gab einmal Zeiten, da gab es Kinder, die nicht wussten, was eine Banane oder eine Apfelsine ist, ja - die nicht einmal wussten, dass es eine Frucht ist und deshalb auch nicht wussten, wie sie aussah.
Wenn Sie nun glauben, ich will Ihnen ein Märchen erzählen, so ist dem nicht so. Es ist kein Märchen und doch fühlten sich viele Kinder wie in einem Märchen.
Eins von diesen Kindern war nämlich ich, acht Jahre alt und zufrieden in meiner kleinen Kinderwelt. Zufrieden, wenn ich ein Zuckerbrot bekam oder Mutti sich ein Spiegelei mit mir teilte. Immer zufrieden, weil es so war und ich nichts anderes kannte. Bis Karla in mein Leben kam. Karla war die Freundin meines großen Bruders und arbeitete in einem Haushalt - na, ich sage mal - in einem Herrschaftshaushalt. Es war der Haushalt eines Fabrikbesitzers, der noch vor ein paar Monaten für die deutsche Wehrmacht Material produzierte und jetzt brannten schon wieder die Hochöfen für die Siegermächte.
In diesem Haushalt gab es keine Not und von allem schon wieder im Überfluss. Eines Tages kam uns wieder einmal Karla besuchen und zog aus ihrer Manteltasche etwas gelbes Gebogenes heraus. „Für dich", sagte sie, gab mir das gelbe Ding und sah mich erwartungsvoll an. Mutti erzählte mir, dass dieses Obst sei und ich es essen könne. Ich staunte, war aber auch skeptisch, denn solches Obst hatte ich noch an keinem Baum gesehen, auch nicht auf der Erde, wie Erdbeeren. Dann roch ich an dieser Frucht, doch noch ehe ich anbeißen konnte, wurde mir gezeigt, wie man sie öffnet. Was ich damals empfunden habe, weiß ich nicht mehr, nur - es war ganz toll. Eines habe ich aber bis heute behalten, meine Bisse wurden immer kleiner, damit der Geschmack nicht so schnell zu Ende gehen sollte.
Ich hatte die erste Banane in meinem Leben gegessen!
Karla kam uns noch oft besuchen und immer hatte sie etwas mitgebracht. So lernte ich auch Apfelsinen kennen und meine erste Erdnuss. Es war nicht immer etwas zu essen. Eines Tages hatte sie in ihrer Hand etwas Blaues, das Ähnlichkeit mit einem kleinen Schlauch hatte. Mein Bruder nahm es, pustete hinein und schon wurde dieser Schlauch größer. Er machte in das Ende einen Knoten und gab ihn mir. Huch, war der leicht und schon flog er in die Luft!
Mein erster Luftballon.
Ganz vorsichtig spielte ich „fangen“ mit ihm in der Küche. Am Abend legte ich ihn auf meinen Nachtschrank, um am Morgen traurig festzustellen, er war über Nacht eingelaufen. Am anderen Tag war er nur noch ein schlaffes Etwas. Mein Bruder zeigte mir noch, wie man ganz kleine Luftblasen machen konnte, in dem man das Gummi in den Mund einsog und dann schnell umdrehte. So war das mit uns Kindern nach dem Krieg. Wir haben nichts vermisst, wir kannten es ja nicht.
Als das Leben langsam normaler wurde, gab es in so manchem Tante Emma-Laden auf dem Tresen ein Glas mit etwas Süßem. Es hatte einen Stiel am Ende und war hell und dunkelbraun. Unsere „Tante Emma“ hieß Bertchen und diese erzählte allen Kindern, in dem Glas, das sind Stundenlutscher. Sie heißen so, weil man eine ganze Stunde daran lutschen kann. Bonbons kannte ich nur, wenn meine Schwester heimlich welche aus Zucker in der Pfanne machte. Nun gab es so einen Lutscher für 10 Pfg. bei Bertchen. Wie habe ich zu Haus um 10 Pfennige gebettelt. Bei Papa gab es immer ein „Nein“, weil, wie er meinte, Bertchen flunkert, denn eine Stunde könne man niemals daran lutschen, Mutti aber hatte ein Einsehen. Ich bekam das Geld und rannte zu Bertchen. Eltern haben ja meistens Recht. Mein Lutscher hatte nicht mal eine halbe Stunde gehalten!
Wieder etwas später, ich konnte schon mit dem Fahrrad fahren, machten meine Freundinnen und ich eine Tour zur Marienburg bei Nordstemmen. Oben auf dem Berg vor der Burg gab es schon eine kleine Restauration. Dort konnten wir uns etwas zu trinken kaufen. Es war das Größte für uns, ein Heißgetränk. Dieses gab es in rot und in grün. Das grüne sollte Waldmeister sein und schmeckte uns besonders gut. Wenn es auch „Heißgetränk“ hieß, so konnte man es auch kalt bekommen. Manchmal gab es auch einen Strohhalm dazu, dann war unser Glück vollkommen und wir fühlten uns sofort um Jahre älter.
Es gab nun keine Lebensmittelmarken mehr und in den Läden gab es fast alles. Manchmal gab es schon einen „Fünfziger“ von Mutti zur meiner freien Verfügung. Von diesem Geld kaufte ich mir für 5 Pfg. eine kleine bunte Tüte, riss sie oben auf, feuchtete meinen Zeigefinger mit etwas Spucke an, steckte ihn in die Tüte und dann in den Mund. Es prickelte köstlich auf der Zunge.
Meine Kindheit ist schon ein paar Jahrzehnte vorbei, aber die Tüten mit dem Brausepulver, die gibt es heute noch.

 

Bullenmilch

von Annemarie Lemster erstellt am 10.03.2009

Mit fünf Jahren war ich mal wieder mit meiner Mutter bei einer Tante auf dem Land. Dort gab es 12 Kinder, die alle noch nie in einer Großstadt waren, so ich in Hannover. Wir Kinder spielten alle vor der Tür, als Tante Threse mit einer Milchkanne vor der Tür stand und rief „Milch holen“. Einige meiner Cousinen und Cousins holten die Kanne, nahmen mich an die Hand und liefen rüber zum Stall, wo mein Onkel als Schweizer (Melker) arbeitete. Mit der vollen Kanne ging es wieder rüber nach Haus. Jeder der Kinder nahm erst einmal einen Schluck aus der Kanne, so auch ich. „Die schmeckt aber nicht so wie unsere Milch!“, sagte ich. „Was habt ihr denn für Milch bei euch?“ fragte mein Cousin. „Andere.“ „Was für andere?“ „Unsere Milch schmeckt anders!“ „Wie anders? Habt ihr Ziegenmilch?“ „Nein“, die kannte ich, die hatte meine Oma und die mochte ich nicht. Die konnte es nicht sein. „Habt ihr Schafmilch?“ „Nein!“, Schafe hatte ich schon mal auf einer Wiese gesehen, Schafe fand ich doof, die Milch konnte es auch nicht sein. „Dann habt ihr doch Kuhmilch!“ „Nein, die haben wir nicht, eure schmeckt anders.“ Dann sagte mein Cousin: „Dann könnt ihr nur Bullenmilch haben!“ und lachte. Das musste es sein. Einen Bullen kannte ich noch nicht und dann kam sicher die Milch von ihm. Stolz sagte ich: „Ja!“ Alle prusteten los, sie konnten sich gar nicht einholen vor Lachen. Weinend lief ich ins Haus und erzählte alles meiner Tante. Sie nahm mich in den Arm und sagte, ich solle mir nichts daraus machen, die Burschen wissen auch nicht alles.
Als wir alle am Abendbrottisch saßen, fragte sie in die Runde: „Wer von euch ist schon einmal in einer Straßenbahn gefahren?“ Keiner meldete sich. „Hat euch Annemarie schon einmal deswegen ausgelacht?“ So wurde diese erste kleine Episode in meinem Leben beendet. Woher sollte ich wissen, dass man kuhwarme Milch in keinem Milchgeschäft kaufen konnte!
Vor einiger Zeit, auf einem Familientreffen, sah ich mal wieder jenen Cousin. Er begrüßte mich herzlich mit den Worten: „Du sag mal, trinkst du heute eigentlich immer noch Bullenmilch?“
Wir haben herzlich über unsere Kindheitserlebnisse gelacht.

 

Mein Metallbaukasten

von Bernd Schwiers verfasst 19.11.2007

Meine Liebe für die Metallbaukästen hat bei mir genau genommen nicht mit Metall, sondern mit Holz begonnen. Nach dem Krieg, so ca. 1946 oder 1947, schenkten mir Freunde meiner Großmutter, deren Sohn nicht aus dem Polenfeldzug zurückgekehrt war, einen großen „Matador“-Holzbaukasten. Das ist Bausystem, recht ähnlich den Metallbaukästen, aber eben alles aus Holz. Verbunden wird nicht mit Schrauben, sondern mit Holzstiften. Matador kommt aus Österreich und es gibt diese Kästen heute noch (www.matador.at).
Zu meinem achten Geburtstag, das war also 1949, bekam ich von meinen Eltern einen MERKUR-Metallbaukasten geschenkt. Merkur ist ein tschechisches Fabrikat. Mein Vater hatte den Kasten während seiner Wehrmachtszeit in Prag gekauft. Ich hatte den Kasten schon ein paar Jahre vorher bei meinen Eltern in einer Schublade entdeckt und war begeistert von den schönen, bunten Metallteilen, aber man schimpfte mich damals aus, weil ich in den Schränken gestöbert hatte und versteckte den Kasten an anderer Stelle.
Nun hatte ich ihn also geschenkt bekommen und er wurde zu meinem liebsten Spielzeug. Glücklicherweise war es nicht der kleinste Kasten, sondern schon einer der größeren, so dass ich viele Modelle bauen konnte. Die Teile dieses Baukastens waren sehr stabil und in kräftigen Farben bunt lackiert (ich denke, man nennt das Verfahren „pulverbeschichtet“). Das Anleitungsbuch war in Deutsch und sehr gut verständlich. Besonders begeisterte mich das Deckelbild des Kastens, allerdings verstand ich nicht, weshalb eine Schnellzuglok in eine Werkhalle einfährt. Als man nach 1990 problemlos in die Tschechoslowakei reisen konnte, entdeckt ich, dass es auch Spielzeugeisenbahnen (Spur Null) von Merkur gab. Darauf nahm das Deckelbild vermutlich Bezug. Außerdem sah ich damals in einem Geschäft in Franzensbad kleine Merkur-Teile-Packungen. Ich versäumte leider, mir davon welche zu kaufen. Es wäre sicher damals noch sehr preisgünstig gewesen.
Da ich mit meinem Baukasten jedoch bald an die Grenzen stieß und gerne auch die ganz großen Modelle aus dem Heft bauen wollte, wünschte ich mir einen Ergänzungskasten. Vermutlich 1951 oder 1952 bekam ich dann zu Weihnachten einen DUX-Metallbaukasten. Meine Enttäuschung war zunächst groß, denn die DUX-Teile passten absolut nicht zu den Merkur-Teilen. Der Lochabstand war bei DUX sehr groß; dafür waren die Löcher aber kleiner, sodass nicht einmal die MERKUR – Schrauben passten. Außerdem hatte DUX ein ganz anderes, eigenes Schraubensystem. Es waren „Schnellschrauben“ mit einem kurzen, großen Gewinde, ähnlich den heutigen „selbstschneidenden“ Blechschrauben. Es gab dazu natürlich besondere Muttern. Das System war nicht unpraktisch und ermöglichte schnelles Montieren, insbesondere, weil bei den Verbindungswinkeln das Gewinde gleich eingearbeitet war, so dass Eckverbindungen ganz schnell geschraubt werden konnten. Die Schrauben hatten außerdem einen besonderen Kopf, ein Schlitz mit in der Mitte einen runden Loch. Die Schraubendreher waren entsprechend geformt und ermöglichten damit ebenfalls ein schnelles Arbeiten, da sie nicht so leicht abrutschten. Normale Gewindeschrauben M 3 und die dazu passenden Muttern waren einige wenige dabei, und zwar lange, ca. 20 oder 25 mm, für besondere Aufgaben. Auch die Stellschrauben der Räder waren M 3- Schrauben. Eine weitere Besonderheit waren die Räder und Achsen. Stellschrauben hatten nur die Lochscheibe und das Kronrad, nicht jedoch die „normalen“ Räder; die Achsen hatten eine Längsnut und die Räder in ihrem Mittelloch eine entsprechende Nase. Inwändig (die Räder bestanden aus zwei Hälften) war ein Stück Gummi, sodass die Räder auf den Achsen hielten. Diese Technik bewährte sich leider nicht. Die Nasen, die in die Nut eingriffen, nutzten sich schnell ab, so dass die Räder zwar noch dank des Gummis auf der Achse hielten, aber es genügte gerade noch für ein Rollen, Antreiben konnte man damit nichts mehr, denn dann rutschten sie auf der Achse. Diese „Nut-Nase-Befestigung“ gab es sogar für Zahnräder, sie waren aus Kunststoff. Dort verschlissen die Nasen am ehesten. Auch die Stellringe waren in dieser Art ausgeführt.
Darauf angesprochen, warum meine Eltern mir gerade diesen Metallbaukasten geschenkt hätten, bei dem doch nichts zum Merkur-Kasten passte, antworteten meine Eltern, den Merkur-Kasten gäbe es hier eben nicht und sie hätten deshalb DUX genommen, weil der auch farbige Teile habe. Wahrscheinlich sind meine Eltern in dem Spielzeuggeschäft nicht gut beraten worden. Mit einem Fabrikat mit gleichem Lochabstand wäre mir mehr geholfen gewesen. Auch war ich mit meinem DUX-Kasten im Freundeskreis ein Außenseiter. Alle anderen hatten Märklin oder TRIX!
Trotzdem freundete ich mich recht rasch mit dem DUX-Kasten an und baute viel mit ihm. An Weihnachten bekam ich dann einen Ergänzungs-Kasten. Außerdem war vorteilhaft, dass es viele kleine, billige Teilepackungen gab, die das große Spielzeuggeschäft am Ort vorrätig hatte. In diesen Packungen gab es auch Teile, die nicht in den Kästen enthalten waren, wie die besagten Zahnräder sowie Zellophanscheiben, die als Fenster verwendet wurden. Besonders gerne baute ich einige große Modelle, wie das Propellerflugzeug, die Windmühle und den Eisenbahn-Personenwagen. Allerdings waren die DUX-Teile nicht so gut lackiert, wie die Mer- kurteile, Der Lack blätterte oder platzte an den Schraublöchern ab und natürlich auch, wenn man ein Teil mal biegen musste.
DUX bot übrigens auch einen Baukasten an, mit dem man unter Verwendung einiger Sonderteile eine E-Lok für Schienenbetrieb (vermutlich Spur NULL) bauen konnte. DUX hatte auch Autobaukästen und einen Kinderfilmprojektor mit Märchenfilmen im Programm. Als Ergänzung zu den Metallbaukästen wurden später auch noch ein Uhrwerkmotor sowie zwei „Getriebekästen“ angeboten. Dies alles wurde mir nach und nach geschenkt. Die Einsatzmöglichkeiten für den Motor waren allerdings gering. Die Getriebekästen enthielten viele Teile, die mich begeisterten, wie Zahnräder, Schnecken, Zahnstangen, Kettenräder und Ketten, auch eine Baggergreifer. Auch enthielt der Getriebekasten Räder und Zahnräder nur noch mit Stellschraube, die Achsen hatten keine Nut mehr und die bisherigen Schnellschrauben waren normalen M3-Schrauben und Muttern gewichen. Man hatte also bei DUX eine Hinwendung zur „klassischen“ Metallbaukastentechnik gemacht.
Nachdem ich nach der Lehre zu Hause ausgezogen war, geriet mein Metallbaukasten in Vergessenheit, auch, weil er immer noch in der elterlichen Wohnung lag, ich jedoch an verschiedenen Plätzen im In- und Ausland tätig war. Erst als ich in Hamburg sesshaft und Familienvater geworden war, dachte ich wieder daran, aber mein Kasten lag noch bei meinen Eltern in Süddeutschland. Als ich dann Anfang der 1970er-Jahre mal für einige Tage im Krankenhaus lag, erzählte mir mein Bettnachbar, dass er einiges an gebrauchtem Märklin-H0-Eisenbahnmaterial habe, das er verkaufen wolle. Eine „elektrischen Eisenbahn von Märklin“ war einer meiner Kinderträume gewesen, die sich nie erfüllt hatten. Deshalb griff ich jetzt zu, für mich und meine Söhne. Wie sich dann herausstellte, befand sich bei dem Eisenbahnmaterial eine auch Menge an Märklin Metallbaukastenmaterial, zwei Kästen mit vielen Teilen und dazu noch ein ELEX-Kasten, der aus der Vorkriegszeit zu sein schien, allerdings nicht vollständig. ELEX war der Elektro-Bastelkasten von Märklin. Man konnte damit verschiedene kleine Elektrogeräte (Schwachstrom natürlich) basteln, wie Klingel, Spannungsmesser, Morseapparat usw. Zwar baute ich mit meinen Söhnen gelegentlich mit diesen Märklin-Teilen und bei sich bietender Gelegenheit holte ich auch meinen alten Metallbaukasten aus der elterlichen Wohnung zu uns in den Norden, aber es wurde nie mehr solch ein Lieblingsspielzeug, wie es in meiner Jugend gewesen war. Hinzu kam noch, dass damals gerade die Fischer-Technik aufkam, ein technischer Baukasten mit vielen, ansprechenden Kunststoffteilen.

Nachdem nun einer meiner Enkel lebhaftes Interesse an Werkzeug und Schrauben erkennen ließ, habe ich meine alten Metallbaukästen vom Dachboden geholt und gelegentlich bauen wir dann gemeinsam etwas, einen Kran, einen Bagger oder ein Auto. Auch habe ich inzwischen im Internet nachgeschaut, was auf dem Gebiet angeboten wird. DUX gibt es schon lange nicht mehr, nur noch gebraucht bei ebay. MÄRKLIN und TRIX haben die Sparte „Metallbaukästen“ schon vor einigen Jahren aufgegeben, aber es gibt eine Firma in Eisenach, ehemaliger DDR-Betrieb, die schöne Metallbausätze anbietet, allerdings sind die Teile nicht mit Märklin kompatibel. Auch die tschechische Firma MERKUR gibt es noch bzw. schon wieder und sie exportiert auch nach Deutschland. Die meisten Teile sehen noch genauso aus wie bei meinem alten Kasten aus den 1940er-Jahren. Es gibt auch eine lose Vereinigung von Metallbaukastenfreunden. Sie nennen sich „Schrauber“ und die meisten sind aus meiner Generation, aber es sind auch jüngere und sogar einige Frauen dabei. Sei treffen sich einmal im Jahr in einem Hotel und bringen ihre „Bauwerke“ mit.

 

Kindheit im Dritten Reich

von Jürgen Hühnke

Nachgeborene fragen Eltern, Großeltern oder andere Zeitzeugen oft: "Wie konnte es angehen, dass Ihr dem NS-System zugestimmt, jeder auf seine Weise ihm gedient und unter Not und Leiden zwar nicht bis zum letzten Blutstropfen, aber doch bis zum bitteren Ende für es geglaubt und gekämpft habt? Inzwischen leben von der Tätergeneration nur noch wenige, so dass allenfalls wirklich Unschuldige, nämlich die Kinder von damals, Auskunft geben können.
Von den damals Erwachsenen hören die Wissbegierigen viel Unwahrscheinliches, vornehmlich die Behauptung, man habe nichts von Konzentrationslagern gewusst. Es müssen jedoch Abertausende gewesen sein, die als SS-Wachmannschaften in solchen Lagern oder in Sonder- und Exekutionskommandos Dienst taten oder haben tun müssen. Und davon soll wirklich nicht das Geringste nach außen gedrungen sein? Was ist mit der beliebten Drohung, jemanden ins KZ zu bringen? Ich behaupte, dass selbst diejenigen, die damals Kinder waren, etwas von den Schrecken der Terrorherrschaft ahnen oder erkennen konnten, wenigstens im Ansatz, wenn auch freilich nichts Direktes vom grenzenlosen Morden. Dazu drei Flashlights meines Erinnerns:
1.) Auf dem Obsthof meines Großvaters arbeiteten zwei Iwans. Sie hießen wirklich so: der eine ein hagerer Ingenieur aus dem Moskauer Industriegebiet, der andere ein gedrungener, etwas plumper Bauer aus der Kiewer Gegend. Für mich als Kind waren sie so etwas wie die Urbilder russischer Seelenmenschen. Zwar waren auch Anton Draškovič, der reichlich faule und arrogante jugoslawische Oberst mit seinem mehre Zentimeter langen kleinen Finger der rechten Hand, und der rundliche Südfranzose Alphonse freundliche und kinderliebe Kriegsgefangene, doch an die Iwans reichten sie nicht heran. Alphonse entpuppte sich am Ende gar als Gauner. Obwohl er mit meinem Großvater im Schwarzbrand aus Äpfeln scharfe Schnäpschen gemacht und sie mit ihm freudig verkostet hatte, stahl er ihm im Mai 1945 kurzerhand das Motorrad. Die beiden Russen mit ihrer Seele und Hilfsbereitschaft, ihrem Fleiß und ihren elegischen Liedern blieben einfach Vorbilder, die mich vor den rassistischen Einflüsterungen von Propaganda und Schule bewahrten. Rebellische Aufwallungen fochten mich an, wenn ich einem Trupp bewachter Rotarmisten begegnete und ihnen nicht einmal eine rohe Kartoffel zustecken durfte.
2.) Als Neunjähriger ging ich 1944 durch die Stader Schwingewiesen heim, wohl vom Besuch bei einem Onkel. Als ich die weiße Fußgängerbrücke über das Flüsschen passierte, kam eine Me 112* auf mich zugeschossen, rauschte wenige Meter über meinen Kopf hinweg und bruchlandete auf der Weide hinter mir. Der Tag war sonnenklar, und ein Luftkampf mit einem alliierten Jäger hatte wohl nicht stattgefunden. Der ledergekleidete Pilot, offenbar fast unverletzt, kletterte aus seiner Kanzel, als schon ein VW-Kübelwagen - Feldjäger oder SS - den schmalen Fußweg herangerast kam. Die Männer sprangen heraus und nahmen den Bruchpiloten in ihre Mitte - in Gewahrsam, erscheint es mir rückblickend. Schon damals machte mich diese Allgegenwart des Systems hellhörig und -sichtig. Mir war klar, dass der Unglücksrabe für den Schaden an seinem Fluggerät zur Verantwortung gezogen werden würde.
3.) Ebenfalls 1944 muss es gewesen sein, als ein Tischlerssohn aus der Nachbarschaft auf Kurzurlaub nach Hause kam und auch uns besuchte. Vielleicht habe ich die Erinnerung später um Wissen ergänzt und sehe ihn daher in schwarzer Uniform vor meinem geistigen Auge. Was der Mann erzählte, war so ungeheuerlich, dass die Erwachsenen uns Kinder aus der Nähe verbannten und bei der internen Weitergabe nur tuschelten. Eigentlich kann es sich bei seinem Bericht nur um SS-Dienstgeheimnisse gehandelt haben, um Erfahrungen im KZ oder bei den Einsatzgruppen im Osten.
erstellt am 27.02.2005

* Bemerkung
Ein Flugzeug mit der Typenbezeichnung Me 112 gab es im 2. Weltkrieg nicht.
Als diese Geschichte erstmals veröffentlicht wurde, erhielten wir eine eMail unter falschem Namen und falscher Adresse. Darin wurde der Bericht unseres Autors in übler Weise in Frage gestellt.
Trotzdem haben wir uns entschlossen, den Urtext hier einzustellen, weil wir der Meinung sind, dass es nicht auf die exakte Typen-Bezeichnung ankommt. Die Bruchlandung einer deutschen Militärmaschine und die Beobachtungen, die der Autor als fast 10-Jähriger machte, sind glaubhaft dargestellt worden. Daran haben wir keinen Zweifel.
Fritz Schukat, Redaktion
01.06.2011

 

Kinderspiel

von Jürgen Hühnke erstellt am 27.02.2006

Das Kind ist wieder enorm gefragt, nachdem seinetwegen lange eine depressive Stimmung herrschte. Über Jahre und Jahrzehnte hinweg kam Kindheit nur als Negativum vor: Alle Fehlhaltungen und Defizite der Menschen wurden von Psychiatern, Kriminologen und Strafanwälten als Ergebnisse verkorkster Kindheiten bejammert. Angesichts von PISA schloss sich das Lamento über die wachsende Verdummung der Kleinen an. Als aber die Familien- und Rentenpolitik den „demographischen Faktor“ entdeckte, schlug die Stimmung endlich um.
Nachdem Piratenkinder schon mit Thomas Gottschalk Goldbären oder mit Käpt'n IGLU Fischstäbchen und Goldschätze erobert hatten, darf inzwischen eine kesse Göre "Fruchtalarm!" in die Kamera krähen. Wird damit aber die Kindheit besser dran sein?
Bei manchen Elterninitiativen für Tempo-30-Straßen fällt auf, dass gar nicht der Verkehrslärm bekämpft werden soll, sondern eher das Fehlen von Bolzplätzen angeprangert wird. Die Kleinen hätten keine Möglichkeit zum Spielen, heißt es selbst aus Siedlungen, die aus Villen und Bungalows auf je weit über tausend Quadratmeter großen Grundstücken bestehen, welche ursprünglich in einen Wald hineingetrieben worden sind, während auf dem Hinterland noch Dutzende von Hektar Forst zu finden sind.
Allerdings ist einsehbar, dass Bälle auf Asphalt besser springen als auf bemoostem Waldboden. Aber aus diesem Grund Spielstraßen bauen? Einsehbar ist auch, dass die Eltern es nicht gerne sähen, wenn ihre Ableger die Pflanzen des großen, gepflegten Gartens spielend beschädigen könnten. Also müssen die Kids auf die Fahrbahn. Man verweist sie nicht auf die riesigen Waldflächen, wo man doch prächtig Räuber und Gendarm ("Schandudel", sagten wir früher) spielen kann. In einer von Fernseher und Joystick bestimmten Welt der Reizüberflutung fehlt es den Alten wie ihren Nachkömmlingen an der sonst so viel beredeten Phantasie und Kreativität, Möglichkeiten für das kindliche Spiel auszumachen. Vielleicht könnten da Berichte von Zeitzeugen über ihre Kindheit und ihre Kinderaktivitäten, ganz ohne Nostalgie, hilfreich sein.

 

Das Spielzeugauto

von Jürgen Hühnke 23.04.2004

Die zehn Gebote unterlegen dem Diebstahl wie dem Ehebruch dasselbe Motiv, wenn sie verlangen, man solle seines Nächsten Weib und Gut nicht begehren. Von dem kleinen Lastauto das mich als Achtjährigen zum Dieb machte, ging jedenfalls ein unwiderstehlicher Reiz aus. An technischer Perfektion und Detailtreue konnte es mit meiner Sammlung internationaler Jagdflugzeug aus Aluminium, die mein Vater vom Frankreichfeldzug heimgebracht hatte, durchaus nicht mithalten. Es war eher grobschlächtig zu nennen, ein einfaches Holzmodell, doch glänzte es in rotem und blauem, wohl auch gelbem Hochglanzlack so verlockend, dass ich es einfach aus dem Kleinkaufhaus mitnahm, wo es unmittelbar am Eingang die Blicke auf sich lenkte, Blickfang in einem Laden, der vorwiegend mit Textilien handelte. Als ich mit dem Spielauto unter dem Arm nach Hause kam, fiel mir ein, dass ich etwas bei mir trug, für das es eigentlich keine plausible Motivation gab, so dass ich es meiner kleinen Schwester, die vor der Haustür im Sandkasten saß, gönnerhaft als Geschenk zu überreichen beschloss. Das war nun lieb gedacht, aber doch zu kindlich, denn merkwürdigerweise fanden die Erwachsenen mein Tun erklärungsbedürf-tig und verwickelten mich durch investigatives Nachfragen in arge Inqui-sitionsnöte. Das Ende vom Lied war, dass ich den fälschlich begehrten Gegenstand zurückbringen und mich umständlich bei der Geschäftsleitung entschuldigen musste.

 

Ritterlicher Minnedienst

von Jürgen Hühnke verfasst 2003

Vor der legendären ersten Liebe gibt es wohl für gewöhnlich noch die - nennen wir sie einmal: allererste Liebe. Das ist eine weit vorpubertäre Begegnung mit dem anderen Geschlecht, aber keine Sandkastenkameradschaft, sondern ein wenn nicht erregendes, so doch zart bewegendes Phänomen, ein Seelenzustand, wie man ihn sich, jedenfalls als Kind, bei einem spanischen Caballero oder einem französischen Chevalier vorstellen mag.
Die Umworbene hieß Antje, war acht oder neun Jahre alt wie ich, ging mit mir in dieselbe Grundschulklasse. Wir hatten einen Teil des Weges gemeinsam, und so trafen wir uns ab und an auch einmal am Nachmittag. Wir durchstreiften einen großen Wald auf einer ausgedehnten Endmoräne, einfach nur so, beobachteten dieses oder jenes an Tieren oder Waldfrüchten, naschten wohl auch an diesem oder jenem.
Einmal stolperte Antje über eine knorrige Baumwurzel. Sie selbst war unbeschadet, doch ihr Schuhwerk hatte es erwischt. Bei einer ihrer Sandalen waren die Riemchen von der hölzernen Sohle gerissen, kleine und weiße, am Rande verdickte und rote Bänder aus Kautschuk oder Kunstharz - damals steckte die Kunststoffchemie noch wortwörtlich in den Kinderschuhen.
Das Missgeschick gab mir Gelegenheit, meiner jungen Dame ritterliche Dienste zu erweisen und den Schaden männlich-geschickt zu beheben. Ich nahm mir einen Stein und schlug die Heftzwecken oder Nägelchen wieder in das Holz. Am Ende streifte ich Antje die Sandale wieder über das zarte Füßchen.





 

Fitschern

Von Jürgen Hühnke

Ludologen, also Spieltheoretiker, mögen den Gegenstand ihrer Wissenschaft als „zweckfreies Tun" erklären, doch die utilitaristischer gesonnenen Pädagogen und Soziologen deuten das Spiel als Einübung in Erwachsenenrollen (Räuber und Gendarm, Doktor, Kaufmann - oder, gegenüber einer Puppe, „Mutti“). So wird denn sogar das putzige Treiben eines Kätzchens mit dem Garnknäuel zum Mausefang-Training.
Insofern lässt sich sagen, Spiel bilde symbolisch die Wirklichkeit ab. Das kann vor allem für das „Fitschern“ gelten - andere nannten es „Klimpern“ und viele wohl noch ganz anders -, ein Schulhofspiel der Jahre 1944 bis etwa 1947. Entsprechend dem extrem geringen Tauschwert der durch Rüstungspolitik pervertierten Reichsmark wurde mit und um Geld gespielt.
Die Schüler wussten zwar nicht, dass 1923 das gute alte Sparstrumpf-Bürgertum so inflationär kollabiert war wie der durch die exorbitanten Kriegsanleihen ab 1915 gemästete Staatshaushalt, der inzwischen nochmals über das Winterhilfswerk korrumpiert worden war; sie mochten aber atmosphärisch das Debakel der Währung erkannt haben.
Also warfen sie Kleinmünzen an die Wand des Schulhauses oder an die Schulhofmauer. Gewonnen hatte, wessen Groschen danach den geringsten Abstand zur Mauer aufwies. Fitschen war also auch ein Geschicklichkeits-spiel, denn nur ein gut berechneter vorsichtiger Wurf im elliptischen Bogen ließ die Mauer weit unten ohne zu großen Aufprall treffen.
Der Gewinner durfte nun die Groschen der Mitschüler einsammeln doch sie gehörten ihm erst nach einer weiteren Geschicklichkeitsprobe: Er musste die zu Türmchen aufgestapelten Münzen, Handfläche nach oben, auf die Fingerspitzen schichten und hochwerfen, dann die Hand blitzartig um hundertachtzig Grad herumdrehen, die Türmchen treffen und mit raschem Griff das Geld einfangen. Wer zu hart an die Münzen geschlagen hatte, brachte sie selbstverständlich völlig außer Kontrolle. Vielleicht hilft jemandes Erinnerung mir auf, was im negativen Fall mit den zersprengten Groschen geschah. Gab es womöglich landschaftliche Varianten dieses Schulhofspiels?
erstellt am 17.03.2006

Zur Frage:
In Berlin hieß dieses Spiel „Klimpern“. Wenn die Münzen auf der Handaußenseite aufgestapelt waren, musste man sie hoch schmeißen und dann nach ihnen grapschen. Fielen Münzen runter bzw. konnte man sie nicht fangen, kam der als nächster ran, dessen Münze an zweiter Stelle von der Wand entfernt lag.
Fritz Schukat, 31.05.2011

 

Boot unter

von Hans Meier vom 06.06.2011

1963 gab es ein Baggerloch Ecke Theodor-Storm-Straße/Friedrichsgaber Straße In Quickborn-Heide. Einige benutzten es auch als Müllkippe. Man hatte es dann mit Erdreich zugeschüttet und später wieder frei gebuddelt. Heute dient es als Regensammelbecken.
Mit abgesägten Autodächern, die vortrefflich als Flösse dienten, befuhren wir Kinder den See. Mit langen Stöcken bewegten sie sich auf dem nicht so tiefen Grund vorwärts.

Im Winter bewegten sich nun einige Kinder auf dem Autodach stakend durch die Eisschollen.
An Land wollten sie ein paar andere Kinder zusätzlich aufnehmen. Man musste schon etwas springen, um auf dem Autodach zu landen, dann wackelte das Dach etwas, aber es ging.

Nun wollten aber mehr Kinder mitgenommen werden, so sprangen zu viele auf einmal, und das Dach fing an hin und her zu pendeln. Jedes Mal nahm es etwas mehr Wasser auf. Panik brach aus, zu viele wollten auf einmal an Land springen, und das Autodach schubste nach hinten und bekam nun richtig Wasser hinein. Ich kleiner Steppke war noch übrig geblieben. Die Kinder sahen wie das Dach schon unter Wasser war, und ich stand schon bis zu den Knöcheln im Wasser. Aufgeregt schrien die Kinder vom 2 Meter entfernten Ufer, ich möge doch endlich springen und an Land kommen.

 

Heute eine Idylle Der See an der Theodor-Storm-Straße Ecke Friedrichsgaber Straße im Mai 2012

 

Doch ich war vom Geschehen wie gelähmt und verstand nicht gleich. Langsam sank ich immer tiefer, bis das eiskalte Wasser mir bis zur Brust stand, nun schwamm ich endlich an das Ufer, wo die Kinder mich herauszogen.

Mit eiligen Schritten liefen die Kinder mit mir zur Falkstraße (damals der Meisenweg), wo ich in triefend nasser Kleidung bei Minustemperaturen entsetzlich fror. Bei einer kinderreichen Familie bekam ich erst einmal neue Kleidung.

Außer dem Schreck trug ich noch nicht einmal eine Erkältung davon.

 

Milchzähne

von Fritz Schukat erstellt im Okt. 2010

Mit den Zähnen ist das so eine Sache. Erst haben wir keine. Dann kommen sie raus und es tut entsetzlich weh, jedenfalls bis sie dann endlich draußen sind. Wir selbst haben zwar keine Erinnerung daran, aber die Eltern! Nach 6-8 Jahren bekommen wir unsere zweiten Zähne. Aber ehe die dann nachgewachsen sind, müssen ja die alten - also die Milchzähnchen - raus! Meistens tut das auch wieder weh. Wenn man älter wird, erinnert man sich kaum noch daran, s'ist ja auch schon so lange her.
Ich habe aber noch eine dunkle Erinnerung daran, überlagert natürlich von den irren Geschichten mit der Schnur um den Zahn oder ähnlich gruselige Extrak-tionsversuchen. Unsere Eltern schickten uns immer zu Oma – Oma konnte das. Sie wusste auch, ob der Wackelzahn schon „reif“ war oder ob wir noch einen Tag warten mussten. Sie redete und redete und dann gab es einen Ruck, und schon war der Übeltäter draußen. Ein bisschen Blut, auch schon mal eine Träne, aber wenn Oma den Zahn dann hoch zeigte, waren wir glücklich! Oma hatte - wenn ich mir das so überlege - bestimmt gaaanz viele Milchzähne gezogen! Sie hatte ja selbst 4 Kinder, und eine Generation später kamen dann 4 Enkel nach, die ganz in der Nähe wohnten. Und auch Nachbarkinder kamen zu ihr. Aufgehoben hat sie die Dinger nicht. Wo auch immer sie abgeblieben sind, weiß ich nicht. Die Zähnchen sind ganz sicher den Weg alles Irdischen gegangen - weg damit, ohne viel Gewese.
Gewese haben wir erst gemacht, als wir dann selber Kinder hatten. Meine Frau hat für unsere beiden Knaben kleine Töpfchen, in denen die herausgezogenen Milchzähnchen aufbewahrt werden. Der letzte ist sicher vor über 25 Jahren dort hinein gewandert. Übrigens, die Zähnchen wurden immer in ein Schnapsglas gelegt, in dem sich ein bisschen Wasser befand. Am anderen Morgen lag dann ein Markstück drin - für Carsten hatte sich der Zahn in einen Silberling ver-wandelt!
Neulich habe ich so ein Töpfchen wieder einmal in der Hand gehabt. Ein bisschen versonnen habe ich damit geklappert. Wie viele das waren hab ich natürlich nicht gezählt, aber bestimmt keine 28 - die Weisheitszähne wachsen ja erst später und haben keine Vorläufer. Gut, wenn ich solch Töpfchen für meine zweiten Zähne haben würde, es wären bestimmt schon 29 Stück drinnen. Und jeder einzelne hat mich mit vielen Schmerzen verlassen.
Ich nähere mich langsam aber stetig – zumindest oral gesehen - dem Stadium, in dem ich während der ersten Monate meines Lebens war - zahnlos!

 

Seepferdchen, Frei- und Fahrtenschwimmer

von Fritz Schukat 2. Version erstellt am 02.09.2010

Unser Jüngster - Jahrgang 1976 - lernte bereits mit 4 Jahren schwimmen. Nach etlichen Übungsstunden bekam er mit anderen Kindern in einer Norderstedter Schwimmschule feierlich das Seepferdchen verliehen. Ich fand das zwar sensationell, aber mit dieser Auffassung stand ich allein da, denn es gehörte zu dieser Zeit schon zu den Selbstverständlichkeiten, die man den Kindern - nach Meinung seiner Mutter - einfach zu bieten hatte!
Na gut, ich war damals in punkto Kindererziehung nicht „up to date“ und bin das heute schon gar nicht mehr, liegt vielleicht daran, dass ich noch immer kein Opa bin, denn Enkel haben wir leider auch noch nicht.
In meiner Jugend war das alles ganz anders. Noch mit 11-12 Jahren war ich unheimlich wasserscheu und schwimmen konnte ich damals natürlich auch noch nicht. Ostern 1947 bekamen mein zwei Jahre jüngerer Cousin und ich einen Schwimmkurs geschenkt. Bei erfolgreichem Bestehen winkte die Urkunde für den Frei- und Fahrtenschwimmer. Die ersten Trockenübungen in einem Hallenschwimmbad in Berlin fand ich blöd, die anschließenden Schwimmversuche an einer langen Angel bereiteten mir dann doch ziemliches Unbehagen, aber ich stand auch das durch.
Als es eine Woche später zur zweiten Schwimmstunde gehen sollte, war mein Ausweis weg - unauffindbar. Ich musste üble Verleumdungen über mich ergehen lassen, denn jeder aus der Familie wusste, dass ich wasserscheu war. Aber ich war unschuldig, denn viel später fand sich der Ausweis an einer Stelle wieder, zu der ich unmöglich Zugang gehabt haben konnte. Ich war halbwegs rehabilitiert. Doch da war seine Gültigkeit schon lange abgelaufen und - ich konnte schwimmen, denn ich hatte es mir selbst beigebracht!
Und das kam so.
Knapp 1 km von uns entfernt verlief der innerstädtische Landwehrkanal. Ein paar 100 Meter weiter zweigte ein Seitenkanal ab, der zur Spree führte. Damit der Schiffsverkehr ungehindert abfließen konnte, gab es an diesem Knotenpunkt eine relativ große Wasserfläche. Das Wasser im städtischen Kanalsystem floss zwar nicht merklich und wurde durch etliche Schleusen zusätzlich behindert, aber bis zu dieser Zeit kurz nach dem Krieg war es noch relativ sauber, so dass es an dem besagten Wasserknoten sogar ein Schwimmbad gab. Es war mit Sicherheit schon so alt wie das Kanalsystem. Ich will das nicht beziffern, aber auf ganz alten Stadtplänen ist es auch schon zu finden. Studentenbad hieß es offiziell, aber wir nannten es wie die Generationen vor uns einfach nur „Studte“.
Der Badebetrieb fand hinter einem Bretterverschlag statt, an dem innen ein Laufsteg für den Bademeister angebracht war. Die Wasserfläche in diesem Geviert war etwa 15 x 40 m groß. An der Seite des Frauenbeckens gab es Umkleidekabinen, die man von zwei Seiten betreten konnte. Über seitliche Stufen kam man direkt aus der Kabine ins Wasser.
Die Schwimmfläche war durch ein Seil, das an Korken auf der Wasseroberfläche schwamm geteilt. Der kleinere Teil war ursprünglich den Frauen vorbehalten, aber damals sah das niemand mehr als zwingend an. Tief war es dort auch nicht, mir reichte das Wasser nur etwa bis zur Brust. Ich konnte mich also mit einem Bein immer auf dem Grund abstützen und machte dann meine Schwimmübungen, wie ich sie in meiner einzigen Schwimmstunde im Hallenbad gelernt hatte. Nach drei-vier Besuchen im „Studte“ konnte ich tatsächlich schwimmen und hatte auch meine Wasserscheu überwunden. Mein Seelenfrieden war wieder hergestellt und ich war auch ohne Urkunde stolz auf mich.
Ende der 1940er Jahre wurde das Bad aus hygienischen Gründen geschlossen, weil das Wasser merklich unsauberer wurde.

 

Ausland

von Uwe Neveling

Berge, Täler, Flüsse, Seen bilden natürliche Grenzen; politische Grenzen sind dagegen oftmals willkürlich. Auch Straßen, ganze Straßenzüge können Grenzen darstellen.

Ich denke zurück an die Jahre 1945 bis 1948. Ich wohnte damals in der Andreas-Hofer-Str.. Die zerbombte Stadt war für uns ein großer Abenteuerspielplatz. Zu unserem Gebiet gehörten neben der Andreas-Hofer-Str. die Steubenstraße, Püttmannsweg und der Freigrafendamm. Die genannten Straßen waren fast quadratisch angeordnet, aber nur fast. Während die Andreas-Hofer-Str. und der Püttmannsweg parallel verliefen, sie mündeten rechtwinklig in den Freigrafendamm, schlängelte sich die Steubenstr. durch das Gelände und fand nur mühsam Anschluss an die kurzen Seiten unseres Straßenrechtecks.

In diesem Gebiet waren meine Freunde und ich die Könige. Wir hielten uns zumeist in unserem Viertel auf und erprobten unsere Kräfte. Nach von uns festgelegten Regeln wurde geboxt und gerungen. Wir achteten darauf, dass immer nur gleichstarke Paare aufeinander trafen. Es ging fair zu. In den Pausen tauschten wir Briefmarken und Bücher oder halfen uns bei den Schularbeiten. Damals machte ein Buch die Runde. Es trug den Titel: „Elf Jungen und ein Fußball“. Der Inhalt ist mir noch gegenwärtig. Eine Straßenmannschaft hatte eine vernichtende Niederlage erlitten. Mit 8 : 0 war man gedemütigt worden. Aber die elf Jungen ließen die Köpfe nicht hängen und bereiteten sich auf den Rückkampf vor. Sie verdienten sich nebenbei etwas Geld und kauften sich einen Fußball, mit dem sie eifrig trainierten. Das Rückspiel wurde 2 : 1 gewonnen. So wie diese Elf wollten wir auch sein, und wir gaben uns sogar die Namen unserer Helden.

Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Wir, das waren Reinhold, Karlheinz, Willi, Dieter, Theo, Walter und ich. Mit Tennisbällen – irgendjemand hatte immer einen Ball in der Hosentasche – wurden Turniere im Köppen ausgetragen. Der Ball wurde hochgeworfen und dann auf das Tor des gegnerischen Spielers mit dem Kopf gestoßen. Wenn der Gegner den Ball nicht halten konnte, war das ein Tor. Wir spielten meist bis zehn, bei fünf war Halbzeit. Es gab auch Tennisturniere; Küchenbretter dienten als Tennisschläger. Wir waren erfinderisch.

Wir trugen auch Straßenkämpfe aus. Eines Tages – ich kam gerade zu unserem Treffpunkt – sagte Karlheinz: Es gibt Ärger mit den Leuten vom Verbindungsweg; sie wollen sich mit uns prügeln. Ich blickte mich um und sah wie sich eine Horde wild entschlossener Jungen auf unser Gebiet zubewegte. Wir mussten sofort reagieren. Unser Waffenarsenal bestand aus Stöcken, dicken Baumästen und Eisenstangen. Die lagen immer griffbereit in einem nur uns bekannten Versteck. Wir rüsteten daher blitzschnell auf und rannten mit Gebrüll auf den Gegner los. Wir müssen furchtbar ausgesehen haben. Der Gegner rannte von uns fort so schnell ihn die Füße nur tragen konnten. Richtige Feindberührungen gab es nur selten; es waren meist Scheingefechte. Wer am lautesten brüllte, hatte gewonnen.

Für uns war das Gebiet jenseits unseres Straßenviertels Ausland. Wenn wir das Gebiet einzeln betraten, waren wir sehr vorsichtig. Besuchte ich meine Großeltern in der Rombergstr., so machte ich immer einen großen Bogen um das feindliche Gebiet. Ich querte die Wittener Straße, ging ein kleines Stück in die Velsstraße hinein und bog dann rechts in die Ulmenallee ab. Die stieß rechtwinklig auf die Rombergstr.. Ich besuchte damals die Schule an der Wasserstr.. Der Weg führte durch Feindesland. Der Schulweg war jedoch neutrales Gebiet. Das hatten wir untereinander ausgemacht. Es gab zwar gelegentlich Übergriffe, die dann zu neuen offiziellen Straßenkämpfen führten, aber im Großen und Ganzen wurde die Neutralität beachtet. Glockengarten, Pappelbusch und Wasserstraße waren somit sicher.

Später haben wir dann gegen die Ausländer Fußball gespielt. Ich war der einzige, der einen Fußball besaß und war daher sehr gefragt. Ich nutzte das aber nicht aus. Den Ball haben wir gehegt und gepflegt. Er wurde regelmäßig mit einer Speckschwarte eingerieben. Jeder durfte ihn auch mal mit nach Hause nehmen. Ich nahm ihn zumeist mit ins Bett; meine Freunde taten das sicher auch. Unser Sportplatz lag oberhalb des Freigrafendamms. Damals durfte jeder den Platz nutzen. Wenn wir dort spielten, dann war das ein Heimspiel, das wir fast immer gewannen. Die Unebenheiten des Platzes waren uns vertraut. Das nutzten wir aus; der Gegner tat sich damit schwerer. Auswärts spielten wir am Lohberg im Ausland. Da verloren wir dann auch schon mal. Ein Fußballspiel zog sich über Stunden hin, denn wir spielten nicht nach Zeit, sondern nach Toren. Bei zehn Toren war Schluss.

Mit unseren Gegnern, den Ausländern, haben wir dann später Freundschaft geschlossen. Es ist wie so oft im Leben: Aus Gegnern werden Freunde. Gibt es etwas Schöneres?

aufgeschrieben am 23.09.2005
erstellt am 06.08.2010

 

Blechdose und Tanne

von Uwe Neveling erstellt am 24. Sept. 2003

1945 kehrten wir in eine zerbombte Stadt zurück. Wir, das waren meine Mutter und ich. Einen Vater hatte ich nicht mehr; der war 1941 in Russland gefallen. Gefallen, das klingt so als könnte man wieder aufstehen. Konnte er aber nicht. Kopfschuss! Begraben in Isorai.
Wir kehrten nicht nur in eine zerbombte Stadt zurück, sondern auch in eine halbzerbombte Wohnung. Die Schwester meiner Mutter, meine Tante Mia, hatte während unserer kriegsbedingten Abwesenheit unsere Wohnung in der Andreas-Hofer-Str. übernommen. Das war unser Glück. So hatten wir doch wenigstens eine Bleibe. Anderen ging es vergleichsweise viel schlechter.

Wir richteten uns ein und nahmen noch weitere Familienmitglieder bei uns auf: Oma Jettchen, Opa Heinrich, Tante Maria und Kusine Christa. Allmählich wurde es eng.

Es war ein kalter harter Winter. In der räumlichen Enge wärmten wir uns gegenseitig. Bevorzugter Aufenthaltsort war die Küche. Sie war recht groß. Ein Küchenherd der Marke Küppersbusch wärmte Raum und Menschen. Kohle war Mangelware. Aber wir hatten Holz. Tante Mia hatte es besorgt. Tante Mia konnte das. Bekanntlich musste damals alles irgendwie organisiert werden. Sie war unser Organisator. Das Holz wurde sogar in ofenfertigen Scheiten geliefert.

Früh am Morgen wurde eingeheizt. Der Erste, der aufstand, reinigte zunächst den Ofen von den Ascheresten des Vortages, schob zerknülltes Zeitungspapier in das Feuerloch und legte Holzspäne und ein großes Holzscheit auf das Papier. Es war ein Kunstwerk aus Papier und Holz. So wurde es von dem Künstler auch behandelt. Er zündete ein Streichholz und hielt die Flamme ans Papier. Atemlos beobachtete er, wie die Flamme auf das Papier übersprang, Holzspäne und Holz ergriff. Dabei explodierte das harzhaltige Holz. Das Holz der Tanne neigt nun leider einmal zur Explosion. Für alle anderen war das explodierende Holzstück das Signal zum Aufstehen. Der Küchenherd funktionierte somit dreifach: Kochen, wärmen, wecken.
Man konnte mit dem Tannenholz aber noch mehr machen. Dazu musste es in papierdünne Späne geschnitten werden. Ferner benötigte man eine Blechdose. In die Dose wurden rundum kleine Löcher geschlagen. Durch zwei Löcher am oberen Rand wurde ein langer Draht oder ein Bindfaden gezogen. Draht war besser. Der konnte nicht durchbrennen. Denn in die Dose kamen nun die dünnen Holzspäne. Das Holz musste harzhaltig und auch etwas feucht sein. Aber gerade so feucht, dass man es noch anzünden konnte. Es qualmte, krachte und stank fürchterlich, wenn wir mit unseren Qualmdosen um den Block zogen.

Meine Freunde und ich wirbelten die Dosen durch die Luft und sorgten so für den erforderlichen Luftzug. Die Erwachsenen sahen das gar nicht so gerne. Aber das kümmerte uns nicht. Ist es doch schön, etwas Verbotenes zu tun. Konnten wir doch so den Erwachsenen den Ärger heimzahlen, den sie uns gelegentlich angedeihen ließen.

 

Eine Mutter berichtet

aufgezeichnet für Uwe Neveling erstellt am 05.09.2008

Am 11.7.1937, an einem Sonntag, kam der sehnlichst erwartete Sohn und Enkel der Familie Neveling an. Wir hatten uns noch nicht auf einen Namen festgelegt, da in den Familien Neveling-Hüning der Name Heinrich vorrangig war. So waren Peter, Uwe, Heiner und Rainer im Gespräch. Am Montag beim Arztbesuch am Krankenbett sagte ein Arzt: „Es steht schon in der Zeitung“, darauf die Mutter des Neugeborenen: „Wie heißt denn das Kind?“
„Unser Sonntagsjunge Heiner ist angekommen!“
(Kommentar: Man hat sich noch rechtzeitig vor der Taufe auf den Rufnamen Uwe einigen können).

Zunächst gedieh unser Sohn prächtig. Im Alter von ca. 2 Jahren erwischte ihn dann der Keuchhusten. Als nichts half, beschlossen wir, durch Beziehungen in 2000 m Höhe zu fliegen. Ein Arzt und ein Pilot, der für eine Stunde nur 36,-- RM für den Sprit bezahlen musste und die Sache gern machte, sorgten für den uralten 4-Sitzer, der nur bei klarem Wetter starten konnte, da ihm sämtliche heute selbstverständliche Apparate fehlten. Für die neue Mutti war das eine aufregende Sache, die aber nichts einbrachte.
Im Winter 1943 herrschte eine barbarische Kälte. Mein Sohn spielte mit meiner Haarklammer (7 cm lang), steckte sie in den Mund und schon war sie in seinem Magen. Er musste dann operiert werden, da rohes Sauerkrautessen nicht half. Aus dem Krankenhaus zurück, kam sich Uwe sehr interessant vor und ich hörte, dass er seinen Spielkameraden erzählte, dass er einen Reißverschluss am Bauch habe. Vorher habe er aber eine Aprikose (Narkose) bekommen.

Dann kam der unselige Krieg, bzw. er war da. Wir wurden evakuiert, zuerst nach Scharbeutz, dann Kandern in Baden. Durch Hamburgs Bombardierung mussten wir ja Scharbeutz räumen. Es fuhren fast keine Züge. Fahrplanmäßig schon gar nicht. Von Scharbeutz (ich hatte 1. Klasse gelöst) fuhren wir abends ab nach Lüneburg. Dort sollte umgestiegen werden. Ich hatte die Gesellschaft eines jungen Mannes, der auch Probleme hatte, und der mir sehr half. In Lüneburg waren die Bahnsteige schwarz von Menschen, die auch in den Süden wollten, egal wohin es ging. Im Kampf ums Einsteigen hatte ich mit meinem kleinen 6-jährigen Sohn keine Chance. Der hilfreiche junge Mann rief dann aus einem Zugfenster, ich solle ihm meinen Sohn reichen. Er verschwand und kam zunächst nicht wieder. Ich stand heulend auf dem Bahnsteig bis sich 2 Soldaten meiner erbarmten und auch mich durchs Zugfenster schleusten. Wo aber war mein Sohn??? Nun, der junge Mann hatte einen Platz gefunden und kam durch das Gedränge nicht mehr durch. Nach einiger Zeit fand ich dann auch meinen Sohn und den hilfreichen Mann wieder. Wir saßen sogar im richtigen Zug, der nach Weil am Rhein fuhr. Es hört sich heute vielleicht nicht so aufregend an, für mich war es ungeheuerlich. Tiefflieger hatten wir auch.

In Kandern wurde er dann eingeschult. Es tat sich aber nicht viel im Unterricht. Immerhin mussten aber Zeugnisse gegeben werden. Beim Singen gab es Schwierigkeiten. Es war nie gesungen worden. So musste jedes Kind irgendein Lied singen. Einer sang: „Ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst...“, ein anderer: „Du hast Glück bei den Frauen, bel ami....“ Uwe war entsetzt darüber. Uwe sang: „Du hast Glück bei der Flak, Erna Sack!“
Eigentlich war Uwe ein braver Bursche. Da ich ja auch manchmal den Vater ersetzen musste und handgreiflich wurde, bzw. strengere Methoden anwenden musste, hatte ich immer Angst, ihm weh zu tun.

Gerade fällt mir noch ein, Uwe fuhr immer mit dem Fahrrad zur Schule. Er hatte einen Unfall und fuhr ein Auto an (Lloyd), immerhin wohl ein klappriger Kasten. Uwes Fahrrad hatte keinen Schaden, aber das Auto.
. . . wenn man solche Rückblicke hält, ist man doch erstaunt, welche Situationen man meistern musste und konnte.

Hier enden die Aufzeichnungen. Niedergeschrieben wurden sie am 15. und 16. Juni 1987.

 

Freischwimmer

von Uwe Neveling aufgestellt am 19.08.2010

Ich blättere in einem alten Dokumentenordner. Es ist schon erstaunlich, was früher wichtig war und aufgehoben wurde: Zeugnisse, Studienbücher, Kaufmannsgehilfenbriefe, Arbeitsverträge, Leistungs- und Abschlussbeurteilungen und noch vieles mehr. Das alles ist teilweise schon 50 Jahr her. Ein vergilbtes Stück Papier fällt mir auf. Es ist von kleinem Format und hatte ursprünglich eine kräftige blaue Farbe gehabt. Es ist ein Frei- und Fahrtenschwimmerzeugnis. Mir wird darin bescheinigt, am 23.2.1953 den Freischwimmer gemacht zu haben. Ich erinnere mich noch genau, wie die Leistung zustande kam. Ich musste 15 Minuten schwimmen und zum Abschluss aus 1 Meter Höhe ins Wasser springen. Das Wasser war 30 Grad warm. Bei dieser Temperatur schwitzt man sogar im Wasser. Ort des Geschehens war das Bergmannsheil in Bochum. Das Bergmannsheil ist ein großes Krankenhaus, und das Wasserbecken war für die Kranken auf 30 Grad aufgeheizt worden. Wie bin ich dahin gekommen?

Der Bruder meines Vaters war bei der Bergbauberufsgenossenschaft beschäftigt. Das Bergmannsheil gehörte mit zum Einflussbereich der Genossenschaft, und so konnte ich durch Fürsprache meines Onkels die bergmännischen Badefreuden genießen. Das 15-minütige Dauerschwimmen im warmen Wasser war anstrengend. Der Höhepunkt war dann der Sprung vom Beckenrand. Das Wasser umspülte meine Füße. Dennoch schien das Wasser beim Runterblicken unendlich weit entfernt zu sein. Ich schloss die Augen und sprang mit den Füßen voran, d.h. ich plumpste ins Wasser. Die Zeit vom Absprung bis zum Eintauchen erschien mir endlos lang. Ich hatte es aber geschafft.

Der Bademeister gratulierte mir zu der exzellenten Leistung und überreichte mir das Freischwimmer-Zeugnis. Etwas störte mich im Zeugnis. Es war vom Landesverband Rheinland, Bochum gehört aber seit jeher zu Westfalen. Als Westfale wollte ich mit einem Rheinländer nicht verwechselt werden. Das war aber leider nicht zu ändern, es stört mich sogar heute noch. Weit wichtiger war, dass ich mein Ziel erreicht hatte.

Im Jahr davor machten wir eine Klassenwanderung zum Edersee. Damals konnte ich als Einziger nicht schwimmen. Während alle anderen im See herumtollten, plantschte ich am Ufer mit festem Boden unter den Füßen herum. Ich kam mir dabei ziemlich einsam vor. Das konnte mir nun nicht mehr passieren. Ich hatte es sogar schriftlich und war nun berechtigt, ein entsprechendes Stoffabzeichen zu tragen.

 

Sommer

von Uwe Neveling erstellt am 13.08.2009

Anfang der fünfziger Jahre waren meine Freunde und ich im Sommer aktive Sportler. Schwimmen, Fußballspiel und Radtouren waren unsere Lieblingsbeschäftigungen. In den Sommerferien ging es schon ganz früh morgens los, Mahlzeiten nahmen wir nur unregelmäßig ein. Und wir kamen erst sehr spät abends nach Hause, zum Ärger unserer Erziehungsberechtigten.

An der Straße zum Zentralfriedhof gab es ein großes Kornfeld. Später hat man dort Häuserblocks gebaut. In einem davon haben wir auch gewohnt. Aber das war wie gesagt später. Im Sommer – es muss im August gewesen sein – wurde das Korn gemäht. Das Stoppelfeld war dann unser Fußballplatz. Hier trugen wir unsere Heimspiele gegen andere Straßenmannschaften aus. Man verabredete sich zumeist kurzfristig zu einem Vergleichskampf. Immer dann, wenn man einen von einer gegnerischen Mannschaft traf, forderte man ihn heraus. Mit Handschlag wurden Hin- und Rückspiele vereinbart. Und so spielten wir gegen den Verbindungsweg, gegen die Steubenstraße, gegen Püttmannsweg, gegen die Velsstraße. Wir waren gut und gewannen sehr oft. In einer Straßentabelle – wenn es so etwas gegeben hätte – wären wir Spitzenreiter gewesen. Wir waren verdammt gut.
Zum Schwimmen gingen wir ins Freibad nach Werne und blieben dort den ganzen Tag. Sonnenbaden war nichts für uns. Das war was für Mädchen. Wir waren fast nur im Wasser. Schwimmen und Tauchen waren die von uns bevorzugten Disziplinen. Vor allen Dingen das Tauchen hatte es uns angetan. Wir wollten es Hans Hass gleich tun. Seine Tauchabenteuer in der Karibik und im Roten Meer waren für uns Vorbilder. Seine Filme hatten wir damals alle gesehen. Ich besitze einige seiner Produktionen auf DVD. Ich schau sie mir gelegentlich an und verbinde gedanklich die Vorführung mit den eigenen sommerlichen Schwimmvergnügungen. Wer am längsten Tauchen konnte, war dann der Tauchkönig und wir nannten ihn Hans nach unserem Idol. Ich kann mich nicht erinnern, dass man auch mich mal Hans genannt hätte. Im Tauchen war ich wohl nur guter Durchschnitt. Das Manko machte ich durch besseres Fußballspielen wieder wett.

Bei unseren Radtouren übernachteten wir in Jugendherbergen. Ein Jugendherbergsausweis war für uns Pflicht. Wir fuhren nach Holland, Belgien, England und an die Nordsee. Die sommerliche Hitze konnten wir gut vertragen. Es war eine gesunde, trockene Hitze. Sie ließ uns Luft zum atmen. In Belgien – es war in Brüssel – habe ich das erste Mal Pommes frites gegessen, natürlich mit Majo. Es ist etwas Besonderes, im Ursprungsland der gebackenen Kartoffelstäbchen dieses Tütengericht zu sich zu nehmen. Es hatte uns so gut geschmeckt, dass wir gleich zwei Tüten verdrückten. Ich sehe mich noch immer auf dem Grand Place in Brüssel stehen und die Pommes genussvoll verzehren. Es war ein sehr warmer Sommertag gewesen. Die Wärme des Tages war an den Abend weiter gegeben worden. Unter all den fremden Menschen fühlten wir uns als Weltenbummler. Wir beobachteten und analysierten unser Umfeld. Wir waren neugierig. Uns interessierte nicht nur das Was, sondern auch das Warum. Der warme Sommertag hatte uns erfrischt und nicht – wie das heute sehr oft passiert – erdrückt.

 

Wasser für Mensch und Tier

von Heinz Münchow 1. Speicherdatum 27.12.2006

Oft hört man von Schwierigkeiten mit der Wasserversorgung. Mal hat man zu viel davon - Hochwasser in Bächen und Flüssen, Regengüsse bei Unwetter, und mal ausgetrocknete Wasserläufe bei Trockenperioden!

Als Jüngling aus der Großstadt wurde ich zu Verwandten aufs Land verschickt und hier lernte ich, was man alles mit Wasser machen kann, z.B. trinken, Essen kochen, sauber machen, Vieh füttern.

In der Küche stand immer ein mit frischem Wasser gefüllter Eimer mit Schöpfkelle. Diese Schöpfkelle wurde auch zum Wassertrinken benutzt.

Die im Hause gewaschene Wäsche wurde draußen gespült. Draußen gab es nämlich Wasser genug! Meine Verwandten hatten eine Wassermühle! Zum Wäschespülen hockte meine Tante am Ufer des Mühlenteiches. Das Wasser im Mühlenteich war sauber genug, um dort die Wäsche zu spülen.

Im Mühlenteich und im Mühlenbach gab es natürlich viele Fische. Ich fragte meinen Onkel, ob ich wohl das Angeln versuchen könnte. Er sagte nicht nein und gab mir eine Angelrute. Ich nahm mir vor, Forellen zu angeln. Auf welchen Köder beißen Forellen am besten? Regenwürmer zu suchen und sie auf den Haken zu spießen, das war nicht mein Fall. Ich versuchte es mit Weißbrot-Kügelchen. Schwupp, schon biss ein Fisch an, aber welch ein Schock für mich! Der Haken war dem Fisch ins Maul eingedrungen und aus dem Auge wieder herausgetreten. Diesen Anblick vergesse ich nie! Ich habe nie wieder geangelt!

Im Teich gab es auch Aale. Meine Tante bereitete einen Fang zum Räuchern vor. Sie ging zum Mühlenteich. Etwa 10 Aale sollten geräuchert werden. Zunächst kamen alle zehn in eine Schüssel mit Salz, damit sie entschleimt würden. Dann wurden ihnen einzeln die Köpfe abgeschnitten und die Haut abgezogen. Und was jetzt geschah, habe ich mit eigenen Augen gesehen: Ein Aal entglitt den Händen meiner Tante. Dieser Aal - ohne Kopf und ohne Haut - rutschte in den Mühlenteich und schwamm in Schlängelbewegungen davon.

Ich habe mich seitdem vom Fischefangen ferngehalten.

 

Überschwemmungen

von Annemarie Lemster erstellt am 21.02.2007

Es muss so um 1946-47 in Sarstedt, einer kleinen Stadt zwischen Hildesheim und Hannover, gewesen sein. Der genaue Zeitpunkt ist mir nicht mehr bekannt. Er ist auch für meine Geschichte nicht so wichtig. Wichtig ist aber, dass sie sich wirklich so zugetragen hat.
Durch Sarstedt fließt die Innerste, ein Fluss, der sein Wasser aus dem Harz bekommt. Im Frühjahr, wenn starke Regenfälle waren und die Schneeschmelze einsetzte, wurde aus diesem sonst so ruhigen Fluss ein reißender Strom. In dem oben genannten Jahr war es mal wieder besonders schlimm. Meine Großeltern wohnten nicht weit von der Kirche entfernt. Dort war wohl der tiefste Punkt der Gemeinde. Die Polizei warnte die Bevölkerung: „Die Innerste hat nur noch wenige Zentimeter, dann tritt sie über die Ufer“, wurde immer wieder durch Lautsprecher verkündet. Opa und Oma brachten ihre Hühner und Kaninchen auf den Boden, ja sogar die Ziege musste dort hin. Die Bevölkerung war in großer Sorge.
In der Stadtmitte war die Steinbrücke, die über die Innerste führt. Dort wurde ständig gemessen, wie viel Zentimeter Platz noch zwischen Wasser und Brücke waren. Das Land vor und hinter dem Ort war längst überschwemmt. Da gab es einen Bäcker, bei dem floss das Wasser hinten in die Backstube rein und vorn aus der Ladentür mit Getöse wieder heraus. Es waren schlimme Tage.
Bei Opa und Oma, die im Hochparterre wohnten, machte das Wasser vor der Haustür halt und so war auch nur etwas in die Kirche eingedrungen. Die Brücke hielt stand und nach ein paar Tagen stieg das Wasser nicht mehr, es fiel langsam wieder. Als die Brücke für Fußgänger wieder freigegeben wurde, sah man den Pastor mit einem Waschbottich auf der Straße. Er wollte in die Kirche. Da sie aber nicht trockenen Fußes erreicht werden konnte, stellte er den Bottich ins Wasser und ruderte auf der „Wasserstraße“ in sein Gotteshaus. Dort angekommen, läutete er die Glocken zum Zeichen, dass „das Schlimmste“ vorbei ist und das Wasser nicht mehr steigt. Wir waren alle sehr froh, wussten wir doch, nun geht es auch Oma und Opa gut. Telefone so wie heute, um eine Nachricht zu geben, hatten die wenigsten, man war immer auf die Mund-zu-Mund Propaganda angewiesen.
Heute gibt es in Sarstedt nicht mehr solche schlimmen Hochwasser. Im Harz gibt es Stauseen, und der Flusslauf ist jetzt auch anders.

 

Die Sammeltasse

von Annemarie Lemster erstellt am 06.03.2009

Es muss 1950 gewesen sein, ich feierte meinen 12. Geburtstag. Zum Kaffee wollte meine Tante Lene kommen. Es wurde Nachmittag und ich freute mich schon auf meine Tante. Tante Lene brachte mir immer etwas Gutes mit.
Da war sie endlich und wie ich vermutete, hatte sie ein Paket in der Hand. Nun kam das Übliche, was ich gar nicht so gern hatte: „Ach da bist Du ja! Wie groß Du schon wieder geworden bist!“ Dabei strich sie mir dann immer durch mein Haar. „Dein Haar ist aber immer noch so dünn, ach das wird schon. Kannst Du denn auch einen Knicks?“ „Den hab ich doch schon gemacht.“ „Ach ja! Hier, ich habe Dir etwas mitgebracht. Es ist etwas für Dein späteres Leben. Du bist jetzt so alt, da muss man schon vorsorgen.“
Ich hatte mich so auf ein Geschenk von Tante Lene gefreut, aber nun war ich doch etwas verunsichert. Mit gemischten Gefühlen packte ich das Geschenk aus. „Och, eine Tasse“. Nun wurde mir erklärt, das sei keine gewöhnliche Tasse. „Das ist eine Sammeltasse, etwas sehr Schönes und auch Wertvolles“. Wir waren ausgebombt und hatten alles verloren. Aus diesem Grund gab es in unserem Haushalt so eine Tasse nicht. Ich dachte nur, „...so ein doofes Geburtstagsgeschenk“.
Mutti besorgte einen Karton, in den die Tasse gut verpackt hineingelegt wurde. Es sollten in den kommenden Jahren noch mehr Tassen in den Karton kommen. Als ich heiratete, habe ich mit Dankbarkeit den Karton ausgepackt und war stolz auf meine kleine Sammlung.
Heute stehen bei einer Einladung zum Kaffee nur noch ganz selten Sammeltassen auf dem Kaffeetisch.
Schade! Ich mag sie heute noch gern ansehen.

 

Meine Straße

Andreas Hofer 

von Uwe Neveling

Er steht auf einem hohen steinernen Podest. Die Figur ist etwa zweieinhalb Meter hoch. An den Füßen trägt sie Stiefel; die Stulpen sind umgeschlagen. Die Hosenbeine stecken in den Stiefelschäften. Ein breiter Gürtel gibt der Hose Halt. Die Gestalt ist mit einem Wams bekleidet. Die Jacke ist nicht zugeknöpft. Ein mächtiger Bart kräuselt sich um das Kinn. Das Kopfhaar wird von einem breitkrempigen Hut bedeckt. Ein langer Säbel hängt links am Gürtel. Die linke Hand umklammert eine dunkle Fahne. Die rechte Hand schwingt leicht nach vorne.

Ich stehe vor dieser Figur. Unten in der Stadt, in der Hofkirche, habe ich sie schon einmal gesehen. Da ist sie aus hellem Marmor und hält mit der rechten Hand den Fahnenstock. An der Fahne hängt ein nicht zu übersehendes schwarzes Tuch. Das will man erst dann entfernen, wenn der südliche Landesteil mit dem nördlichen wiedervereinigt ist. In der Hofkirche verbreitet die Figur eine staatsmännische Stimmung. Hier, auf dem Bergisel, sieht sie vierschrötig, breit und kräftig aus. Das gefällt mir schon besser. Sie entspricht dann auch meinen Vorstellungen, die ich mir bereits als Kind gemacht habe. Die Straße, in der ich eine Zeitlang gewohnt habe, ist nach ihm benannt. Es ist Andreas Hofer, der Tiroler Freiheitsheld, der sich gegen Napoleon aufgelehnt hatte und nur durch Verrat in die Hände der Franzosen fiel. Er wurde dann einen Tag später hingerichtet, das war 1810.

In der Andreas-Hofer-Straße habe ich zehn Jahre meiner Kindheit verbracht. Auch nach späteren Umzügen zog es mich immer wieder zu dieser Straße hin. Hier bemalten wir mit Kreide die Bürgersteige, entwarfen Gleiskörper, die wir mit Rollschuhen abfuhren, spielten Tennis mit Küchenbrettern, köpften Tennisbälle auf das gegnerische Tor. Hier zerschoss ich mit einem volley aus der Luft angenommenen Fußball eine Fensterscheibe. Im Winter warfen wir Schneebälle durch von den Bewohnern leichtfertig offen gelassene Badezimmerfenster. Ich und meine Freunde gründeten Straßenmannschaften im Ringen und Fußball. Das machten andere Straßenzüge auch. Wir waren aber die besten und hatten diesen guten Ruf zu verteidigen, was auch zumeist gelang. Vor den Häuserblocks gab es niedrige Begrenzungsmauern. Hier saßen wir in den Ruhepausen, sammelten und tauschten Briefmarken oder machten gemeinsam Schulaufgaben. Es gab viel zu tun, in meiner Straße.

Ich bin neulich wieder dagewesen. Ursprünglich war die Straße zweihundert Meter lang. Da, wo früher ein Feldweg war, ist sie verlängert worden. Sie bringt es jetzt auf gute sechshundert Meter. Es wurden auf beiden Seiten neue Häuserblocks gebaut. Ich bin etwas traurig, dass man meine Straße so verfremdet hat. Ich schließe die Augen und blende die Aktualität aus meinem Gedächtnis. Jetzt sehe ich die Straße so, wie ich sie in meiner Erinnerung aufbewahrt habe. Es ist wieder meine Andreas-Hofer-Straße.

 

Frau Groß posiert barbrüstig

von Jürgen Hühnke

Seit mehr als zehn Jahren besteht das Klischee von den in Parallelgesellschaften sich organisierenden Migranten und die Debatte um das von den Politikern Rüttgers und Merz dagegen empfohlene Remedium deutsche Leitkultur". Da auch die Flüchtlinge, Heimatvertriebenen und Ansiedler „Migrationshintergrund" haben, frage ich mich, ob nicht auch auf der Ebene der Mikroethnien, also der, deutschnational formuliert, „Stämme", vulgo Landsmannschaften, die Bildung von „angestammten" oder folkloristischen Parallelgesellschaften möglich wäre, zumal diese Menschen ja bei der ansässigen Bevölkerung, der man viel Wohnraum wegrequirierte, nicht gerade auf Wohlwollen stießen.
In das Großfamilien-Haus meines Opas war die Ostpreußin Frau Groß mit ihren Kindern Friedrich und Brigitte, zehn und acht Jahre alt, eingewiesen worden. Vom Königsberger Immanuel Kant weiß man, dass er sein Haus täglich auf die Minute Punkt 17 Uhr zu einem Spaziergang verließ. Diese Abhängigkeit zeigte auch Frau Groß, weniger auf den Chronometer als auf den Kalender bezogen, eine Art parallelgesellschaftlichen Spleens.
Regelmäßig im Spätherbst - es wird wohl der bei Landleuten bestimmende Michaelis-Termin gewesen sein - mussten Friedrich und Brigitte ihre Sommerkleidung ablegen und zu winterlichen Hosen greifen samt den langen Unterhosen, mit denen sie sich gewiss beim Umkleiden für den Sportunterricht Hohn zugezogen haben werden. Am 1. Mai wurde die schreckliche Unterwäsche auf ein halbes Jahr magaziniert und durch ein Sommeroutfit samt Kniestrümpfen ersetzt.
Ob er nun aus der Kriegsgefangenschaft endlich entlassen oder sonst wie seiner Familie zugeführt worden war - eines Tages stand Herr Groß vor der Tür. Im Unterschied zu den vielen, vielen Fällen, in denen Ehen in der Nachkriegszeit Knall auf Fall in die Brüche gingen, flammte bei den Großens die Liebe neuerlich heiß auf und führte bald zu Kind Nummer drei. Bezüglich der Versorgung dieses Töchterchens regierte abermals der Kalender. Pünktlich nach zwei Jahren endete die Stillzeit. Als die Kleine ihren zweiten Geburtstag feiern konnte, bat Frau Groß meine Tante Hannelore, sie fotografisch abzulichten. Zu diesem Zwecke legte sie Bluse, Hemd und BH ab, was für mich Dreizehnjährigen, dem die weibliche Anatomie bis dato nur aus Doktorbüchern bekannt war, eine willkommene Gelegenheit zur Begutachtung fraulicher Brüste in natura wurde. An diese Milchquelle wurde die Kleine gelegt, die - als wisse sie, es sei das letzte Mal - eifrig davon Gebrauch machte. Das Bilddokument über dieses Abstillen wurde in einem eigens für das Kind angelegten, alle seine Lebenshöhepunkte gleichermaßen festhaltenden Fotoalbum archiviert.