Unsere Erlebnisse

Erlebnisse auf dieser Seite

Glauben von Edith Kollecker
Rettung durch ein Kleinkind von Walter Bosniakowski
Edith oder: Das Internet macht’s möglich von Ingrid von Husen
Wohnen im Pferdestall von Edith Kollecker
Käthe wird verfolgt Aufgeschrieben von Hans Meier

 

Glauben

von Edith Kollecker erstellt im Mai 2014

Es heißt, der Glaube versetzt Berge. So ist es auch, wenn man noch ein kleines Kind ist. Dann glaubt man an den Weihnachtsmann, Osterhasen und Klapperstorch, es wird dann einem auch alles geboten. Wird man älter, erkennt man, dass alles eine Lüge war.

Doch der Glaube an Gott ist schwerer zu beantworten. Einer sagt, es gibt einen Gott, der andere sagt, es gibt ihn nicht, keiner von beiden kann es beweisen. Also ist es der eigene Glaube, der uns den Weg zeigt. Ich wurde geprägt durch die Flucht von Pommern in den Westen 1945. Unser Treck bestand aus 12 Wagen und circa 40 Personen, eine davon war ich, 10 Jahre alt. Unsere Pferde, gut im Futter, zogen uns gemütlich tagaus tagein 5 Wochen lang von einer erbärmlichen Übernachtung zur anderen. Es durften nur kleine Kinder und alte Leute im Wagen mitfahren, die anderen mussten nebenher laufen. Einmal hieß es: "Die Flieger kommen, alles runter vom Wagen und im Galopp ins nahe Wäldchen laufen." Woher sie es wussten, weiß ich nicht. Jedenfalls musste auch meine Mutter absteigen, obwohl sie sehr gehbehindert war. Da sie aber nicht so schnell laufen konnte, zog sie mich in den Straßengraben und sagte: "Hab keine Angst, uns passiert nichts." Sie fing an zu beten, die Flieger kamen, überall schlugen Geschosse ein und weg waren sie, es hat sicher nur Sekunden gedauert. Uns war nichts passiert, den anderen aber auch nicht. Dieses Erlebnis zog sich wie ein roter Faden durch mein Leben und immer, wenn sich bei mir die Angst einstellte, erinnerte ich mich an dieses Erlebnis. Am Ende der Reise wurden meine Mutter und ich getrennt auf verschiedene Bauernhöfe verteilt. Es war das erste Mal, dass sie nicht bei mir war. Ich war das jüngste von 7 Kindern und sehr mit ihr verbunden und verwöhnt. Am Abend war ich sehr traurig, obwohl auch eine meiner älteren Schwestern bei mir war. Die Frage, wann sehe ich Mama wieder, schloss ich in mein Nachtgebet ein. Die Angst war aber unbegründet, denn am nächsten Tag brauchte ich nur über zwei Wiesen zu laufen und einen Graben überspringen und konnte sie besuchen. Das tat ich dann so oft ich konnte, denn sie hatte mir immer etwas Leckeres zum Warmhalten ins Bett gestellt, so wie Pudding oder Pfannkuchen. Bei der Familie, wo sie wohnte, waren 2 kleine Kinder. Die bekochte meine Mutter so, wie sie es von zu Hause aus gewohnt war, sieben Kinder und Topfgucker der übelsten Sorte. Meine Bauernfamilie bevorzugte wegen der schweren Arbeit deftiges Essen. Die nächste Zeit war ich mit vielem Anderen beschäftigt. Die Schule, neue Freunde, auch musste ich auf dem Bauernhof mithelfen, um mein Essen zu verdienen. Nach zwei Jahren zog ich wieder mit meinen Eltern zusammen.

Das Leben hatte sich wieder normalisiert. In meinem späteren Leben wurde ich oft auf eine harte Probe gestellt: Heirat, Kinder, Krankheit, doch durch ein Gebet, mit festem Glauben, dass alles gut geht, habe ich alles überstanden. Der Spruch. „Wenn eine Tür zufällt, geht ein Fenster wieder auf", habe ich mir verinnerlicht und so gehe ich zufrieden in den neuen Tag hinein.

 

Rettung durch ein Kleinkind

von Walter Bosniakowski

Im Herbst 1944 musste unser Dorf, dass nahe an der Grenze (erst polnische, anschließend russische Grenze) lag, wegen der anrückenden Front geräumt werden. 7 Tage dauerte die Flucht im Treck bis in die Nähe von Allenstein. Dort bekamen wir Unterkunft bei einem Kleinbauern. Auf Anordnung der Partei durften wir nicht weiterziehen. Um die Weihnachtszeit bekamen wir vom Bürgermeister des kleinen Dorfes die Nachricht "rette sich wer kann, die Front kommt näher". Da wir wegen des hohen Schnees nicht mit dem Pferdewagen weiterreisen konnten, kam um die Mittagszeit die russische Front - eine deutsche Front gab es nicht - am 31.Januar 1945 zu uns. Russische Soldaten haben sofort aus "unserem Haus" geschossen. Da wir am Dorfausgang wohnten, waren nur noch einzelne Häuser vorhanden. Ich sollte nun zu einem entfernten Gehöft gehen und den deutschen Soldaten sagen, dass sie sich ergeben sollen. Meine Mutter war natürlich entsetzt darüber und weinte und wollte mich nicht gehen lassen. Nach einigem hin und her musste schließlich der Bauer los gehen. Er kam nach kurzer Zeit wieder zurück und berichtete, dass sich dort noch 50 deutsche Soldaten aufhielten. Die russischen Soldaten blieben noch über Nacht bei uns und haben noch vom Boden des Hauses geschossen. Als Unterlage benutzten sie unsrer Federbetten. Am nächsten Morgen zogen sie weiter. Am darauf folgenden Tag kam ein Pferdeschlitten über unseren Hof mit scheinbar zwei russischen Offizieren, sowie zwei berittenen Soldaten, die wohl als Eskorte dienten. In genau dem Moment fielen Schüsse. Zwei der Soldaten und ein Pferd waren Tot. Für uns war das das Schlimmste was passieren konnte, da wir unter den Verdacht kamen deutsche Soldaten versteckt zu haben. Wir, das waren 5 Frauen, der alte Bauer, sowie 4 Kinder. Mann holte uns aus dem Haus und wir mussten uns in einem Schuppen aufstellen - die Kleinen vorne und die Großen dahinter. Eine Mutter hielt ihr Kleinkind, welches einen dunklen Krauskopf hatte auf ihrem Arm. Einige Meter vor uns standen mehrere Soldaten mit ihren Gewehren in den Händen und warteten. Ein Vorgesetzter mit krausem schwarzen Haar und kleinen Schlitzaugen kommt auf uns zu und bleibt stehen und schaut uns an. Er geht zu der Mutter mit dem Kind auf dem Arm und entnimmt es ihr. Er herzte und küsste das Kind und gibt es der Mutter zurück. Anschließend spricht er mit den Soldaten die daraufhin fortgehen. Einer der Soldaten brachte uns noch einige Lebensmittel und forderte uns auf das Wohnhaus zu löschen, in dem man vorher Feuer gelegt hatte. Das Feuer konnte zwar gelöscht werden, wegen des Qualms und Gestankes der verbrannten Bettdecken konnte das Haus jedoch nicht mehr genutzt werden. Unser Bauer ging nun unter Gefahr zum nächsten Nachbarn, um zu fragen, ob wir dort unterkommen können. Dort sah er viele Leichen - erschossen. Vermutlich weil der dortige Junge noch das HJ Abzeichen an seiner Kleidung hatte. Mein Abzeichen hatte ich auf Drängen meiner Mutter vor dem Einmarsch der Russen weggeworfen. Nach weiteren Unterkünften wollten wir dann nicht mehr suchen. Wir lebten die nächsten Wochen im Kuhstall, bis man uns in ein anderes Dorf vertrieb. Das sind Erlebnisse aus meinem 15. Lebensjahr. Warum schreibe ich das ? Durch ein Kleinkind sind 10 Personen gerettet worden. In der Weihnachtszeit singen wir Christen : "Christus der Retter ist da", auch Er ist als ein kleines Kind gekommen. Für mich ist dieser Jesus Christus eine Realität in meinem Leben seit meinem 21. Lebensjahr, als ich Ihn als Retter erfahren habe. Lange Zeit habe ich an diese Erlebnisse nicht mehr gedacht. Durch die Gedenkfeiern zum 60 jährigen Kriegsende wurden diese Geschehnisse wieder wach gemacht.

 

Edith oder: Das Internet macht’s möglich

Ein Wiedersehen nach sechzig Jahren.
Von Ingrid von Husen aufgeschrieben 2010, erg. Sept. 2011

So oft ich mich auch mit Menschen von früher über die schweren Nachkriegsjahre unterhalte, so treffe ich nie jemanden, der in der Zeit richtig gehungert hat. Es hieß dann, ja es war zwar alles knapp und es gab oft Steckrüben, aber richtig gehungert haben wir nicht. Sicher haben das viele Menschen verdrängt, aber ich kann es nicht vergessen. Jede Scheibe Brot, die mir schimmelig wird und ich entsorgen muss, macht mir ein schlechtes Gewissen – und somit kommen auch die Erinnerungen zurück.

Die Jahre der Entbehrungen fielen in die Zeit meiner Pubertät. Ich hatte immer Hunger. Meine alleinstehende Mutter war voll berufstätig. Wo und wann sollte sie also etwas organisieren? Auch Tauschobjekte hatten wir auf Grund der Ausbombung – wie so viele andere Menschen – nicht. Ich erinnere mich, dass, wenn morgens die Haustür klappte und meine Mutter zur Arbeit ging – ich war zu der Zeit ein Schlüsselkind – ich aus dem Bett hüpfte, mir meinen Brotkasten, der auf dem Tisch stand, mit ins Bett nahm und meine ganze Tagesration auf einmal verschlang. Meist war es Brot mit dünn geschmierter Margarine und ein wenig Zucker darauf. Noch heute esse ich gerne Zuckerbrot (Nostalgie?) dann aber mit dicker Butter darunter. Die Form und Farbe des Brotkastens ist mir noch heute in Erinnerung. Selbst, wie es sich anfühlte, wenn ich den Deckel öffnete. Der Kasten war goldfarben und der Deckel hatte ein geriffeltes Muster.

Ich beschreibe es hier so ausführlich, damit der Leser sich meine Freude und mein Glück vorstellen kann, was es für mich bedeutete, als eines abends mein biologischer Vater vor unserer Tür stand, von dem wir sehr lange nichts gehört hatten. Was der alles mitbrachte!!! Ich kam mir vor, wie im Schlaraffenland. Unter anderen leckeren Sachen war auch ein schneeweißes Brot, wie es nur die „Amis“ hatten. Natürlich auch „Gutebutter“ Ich weiß, dass ich schon mein Nachthemd an hatte und als ich das Brot und die Butter sah, fragte ich sofort meine Mutter, ob ich wohl ein Stück haben könnte. Sicher habe ich – das immer hungrige Mädchen – Brot und Butter gierig verschlungen und sicher hat das auch meinem Vater zu denken gegeben. Ab der Zeit hat er für mich gesorgt. Er kam nun in Abständen und brachte Lebensmittel. Einmal stellte er einen Zentner Kartoffeln in unseren Keller, in dem wir derzeit wohnten. Wie man weiß, waren auch Kartoffeln damals knapp.

Mein Vater hatte inzwischen geheiratet. Seine Tochter Edith war 5 ½ Jahre jünger als ich. Es lief darauf hinaus, dass ich sehr oft bei ihm zu Hause war. Seine Frau war ganz reizend zu mir – und Edith erst! Wir waren beide begeistert, plötzlich eine Schwester zu haben und außerdem gab es im Hause meines Vaters immer gut und satt zu essen.

Meine ersten Erinnerungen an meinen Vater waren nur spärlich. Wenn er auf Urlaub kam und uns besuchte, er war bei der Marine, habe ich stets seine Matrosenmütze bewundert und die langen, seidigen Bänder durch meine Hände gleiten lassen.

Später in der Nachkriegszeit, als ich öfter bei seiner Familie zu Besuch war, war er selten zu Hause. Er war ein sehr introvertierter Mann, zu dem man schwer Kontakt bekam. Ich, ein schüchternes Mädchen – da tat sich gar nichts zwischen uns, zumal mir die ganze Situation sowieso sehr suspekt war!

Edith habe ich als kleines, fröhliches, patentes und sehr herzliches Mädchen in Erinnerungen. Stolz hat sie mich überall rumgereicht, um zu verkünden, dass sie nun eine Schwester habe.
Sie ähnelte ganz und gar ihrer Mutter, während ich äußerlich sehr meinem Vater glich.

Nach meiner Jugendweihe, als ich bald sechzehn Jahre wurde, habe ich den Kontakt von mir aus abgebrochen. Warum? Ich weiß es heute wirklich nicht mehr!

Im Mai 2010 hat mich meine Schwester nun über das Internet gefunden. Ich hatte bis dahin schon etliche Geschichten auf der Webseite der Norderstedter Zeitzeugen veröffentlicht, und da ich noch meinen Mädchennamen trage, der ja auch einen gewissen Erkennungswert hat, habe ich immer gehofft, es würde sich mal ein Mensch aus der damaligen Zeit bei mir melden. Und nun das! Es ist wie ein Wunder! Die Begegnung mit Edith hat mich sehr aufgewühlt und somit die Erinnerungen an die damalige Zeit in mir wach gerufen, als wenn es gestern gewesen wäre.

Edith hatte sich an den Moderator der Gruppe gewandt, der die Sache dann an mich weiter geleitet hat. Meine erste Mail lautete: „Ja, ich bin es – hoch lebe das Internet!“ Darauf haben wir noch einige Male hin und her gemailt. Beim ersten Telefonat war erst Stille, in der keine sich getraut hat, was zu sagen, dann haben wir ein wenig geheult und dann gab es Fragen über Fragen. Es war sofort Nähe da!

Edith ist eine warmherzige, humorvolle und patente Frau, die mit beiden Beinen auf der Erde steht. Ich bin sehr glücklich, nach sechzig Jahren wieder eine Schwester zu haben und hoffe sehr, dass wir uns nicht wieder verlieren!

 

Wohnen im Pferdestall

von Edith Kollecker gespeichert 11.02.2004

Am Ende unserer Flucht aus Hinterpommern mit dem Streckenthiner Treck landeten wir in Petersdorf auf Gut Kartzfehn. Auf unserer 5 Wochen langen Flucht schliefen wir in Kuhställen, auf Heuböden und in Schulen. Jetzt wurden wir auf die umliegenden Bauernhöfe verteilt. Meine Schwester Irmi und ich bekamen bei einem Bauern einen Verschlag auf dem Heuboden, der sich von innen als ganz passabel herausstellte. Meine Mutter fand 800 m weiter mit dem Rest der Familie eine Unterkunft. Diese Bauersfrau war wohl die einzige, die sich über die Einquartierung freute. Ihr Mann war im Krieg, und so war sie mit ihrem alten Vater und zwei kleinen Kindern alleine auf dem Hof. Jetzt hatte sie Hilfe bekommen. Als dann der Krieg zu Ende war, meine Schwestern in der Stadt in Stellung gingen und mein Vater wieder gesund heimkam, suchte er sich auf einem kleinen Moorgut Arbeit und Unterkunft. Mich, als jüngstes Kind, nahmen sie mit, allerdings war ich auch schon fast 12 Jahre alt.
Unsere Wohnung bestand aus der Knechtekammer im Pferdestall. Ein zusammengenageltes Bett mit einem Strohsack darin für meine Eltern und ein ausgefranstes Chaiselongue für mich. Ein kleiner Kohleofen war auch vorhanden. Da nur für einen Topf Platz war, wurden zuerst die Kartoffeln gekocht und ins Bett gestellt, damit sie warm blieben. Dann kam das nächste Gericht, wenn überhaupt etwas da war. Es war alles auf kleinstem Raum.
Wenn wir uns gewaschen haben, mit Waschlappen und Seife in einer kleinen Schüssel, wurde das Fenster mit einem Bettlaken zugehängt. Purer Luxus war das fließende Wasser auf der Diele, schon der Pferde wegen.
Das Plumpsklo war innerhalb des Gebäudes und durch die Pferde war es im Winter immer warm. Dafür hatten wir Unmengen von Fliegen. Obwohl wir immer 2-3 Fliegenfänger aufgehängt hatten, die oft gewechselt werden mussten, und obwohl das Gesurre der Fliegen in uns Ekel erregte, weil eine von uns ab und zu mit den Haaren daran hängen blieb, wurden sie nicht weniger. Meine Mutter legte dann einmal die Woche Tabletten aus, die einen widerlichen Gestank verursachten. Nach zwei Stunden konnten wir die auf dem Fußboden liegenden Fliegen auffegen und verbrennen, dann hatten wir für ein paar Tage Ruhe.
Nach einiger Zeit hatte der Gutsverwalter ein Einsehen und gab mir eine Futterkammer zum Schlafen. Als wir sie von Mäusen, Spinnen und Futterkisten befreit hatten, konnte ich mir mein erstes eigenes Reich einrichten. Das kleine eiserne Fenster, das sich nicht öffnen ließ und ziemlich weit oben war, nahm ich in Kauf. Dafür hatte ich aber schon elektrisches Licht an der Decke. Es musste allerdings von außen angeknipst werden. Dort habe ich gelebt, bis ich 1952 nach Schleswig-Holstein übersiedelte.
Mit etlichen Verbesserungen lebten meine Eltern noch bis 1963 in ihrem Reich und kamen dann zu uns in die Quickborner Heide, in unser Haus, das mein Mann und ich in Eigenleistung erbaut hatten.

 

Käthe wird verfolgt

Aufgeschrieben von Hans Meier am 28.11.2007

Käthe war um die sechzig Jahre alt, als ich sie im Jahr 2004 kennen lernte. Ich traf sie in Quickborn. Käthe war ein Mensch, der einem "ein Ohr abkauen" konnte, jedenfalls konnte sie sehr lange reden, ohne Luft zu holen. Und da ich ihr einmal von der Quickborner Geschichtswerkstatt berichtete, erzählte sie mir von ihrer Heimat Ostpreußen. Sie wurde in Deutsch-Krone geboren.

Ich traf Käthe immer häufiger, und wir tranken oft einen Kaffee, den sie ausgab. Doch irgendwann war sie verändert. Sie sagte, dass sie verfolgt würde, ein Mann beobachte sie. Ich dachte erst, dass sie sich täuschte, oder dass sie sich wichtig machen wollte, doch ihr Mann, den ich inzwischen auch kennen gelernt hatte, bestätigte mir dies. Käthe wirkte sehr ängstlich auf mich. Sie schleiche schon an den Mauern entlang und schaue ständig nach hinten und nach vorne, sagte sie mir einmal. Irgendwann tauchte der Mensch dann am Bahnhofsplatz auf, weil er mittlerweile wohl herausbekommen hatte, dass sie in der Bahnhofsstraße wohnte. "Er sitzt ständig in seinem 'Mercedes' und wartet, bis ich herauskomme, oder er taucht irgendwo in Quickborn auf, wenn ich unterwegs bin", erzählte sie.

Ihr Mann schlich ihr schließlich eines Tages hinterher und wollte den Mercedesfahrer zur Rede stellen, aber der gab Vollgas und fuhr davon. Auch Käthe, die mittlerweile des Ganzen schon überdrüssig war, lief eines Tages auf den Wagen zu, um den Mann zu Rede zu stellen. Auch da fuhr der Wagen mit viel Gas davon.

Die Zeit verging. Eines Tages traf ich Käthe wieder in der Fußgängerzone. Sie lud mich zum Kaffee ein und sagte, dass sie mir unbedingt etwas sehr Wichtiges erzählen müsse, denn in der bewussten Sache sei nun eine entscheidende Wende eingetreten. "Man hat ja so seine Beziehungen…", deutete sie vielsagend an, und deswegen hätte sie nun unter der Hand durch das Nummernschild die Adresse des Mercedesfahrers in Norderstedt herausbekommen. Sie hätte allen Mut zusammen genommen und dort angerufen.

Der Mann habe sich am Telefon für sein Verhalten bei ihr erst einmal entschuldigt. Dann erzählte er ihr, als er sie das erste Mal gesehen hätte, habe er seinen Augen nicht trauen wollen. Käthe würde bis aufs Haar genauso aussehen, wie seine im letzten Jahr verstorbene Frau! Er habe dies nicht fassen können und musste immer wieder nach Quickborn fahren. Käthe sagte dann weiter, sie hätten sich am nächsten Tag zum Essen verabredet. Ich gab ihr meine Telefonnummer, damit sie mich auf dem Laufenden halten könnte, wenn es etwas Neues geben würde.

Einen Tag später trafen wir uns wieder zum Kaffeetrinken, und Käthe war ziemlich aufgeregt. "Wir waren Fisch essen in der Kieler Straße, und der Mann hatte Bilder von seiner verstorbenen Frau mitgebracht", erzählte sie. "Das da auf den Fotos, die er mir zeigte, das war doch ich, oder? Wie aus dem Gesicht geschnitten!" Dann stellte sich heraus, dass sie die gleichen Vorlieben für Fisch hätte, sogar die gleichen Musikinterpreten mochte und vieles mehr. Und sie war nicht nur im gleichen Jahr geboren, sondern auch am gleichen Tag! Und zwar in Deutsch Krone! Unglaublich. Käthe hatte noch eine Zwillingsschwester, die Sie befragte "…aber die wüßte auch nicht mehr", meinte sie. "Ich muss heute noch unbedingt zu meiner Mutter", erklärte Käthe, "die wohnt hier in Altenheim Klingenberg. Ich ruf dich dann wieder an!".

Abends erzählte sie mir dann am Telefon, was sie von ihrer Mutter erfahren hatte, und was ihre Mutter nie vorher erzählt hätte. Bisher ging die Familie davon aus, sie hätte zweieiige Zwillinge geboren, beides Mädchen, eines mit dunkleren Augen und dunklem Haar und das andere mit helleren Augen und hellem Haar. Angeblich hätte eine jüdische Ärztin die Kinder zur Welt gebracht. Die Mutter hätte die Ärztin in ihrem Haus versteckt, erzählte sie.

Jetzt war klar, dass damals noch ein drittes Kind geboren wurde, dass es also eine Drillingsgeburt war. Langsam fügte sich ein Bild zusammen und Käthe glaubte, endlich die Wahrheit über ihre Geburt, über die Geburt der Drillinge zu kennen, denn nun hatte sie auch die Lebensgeschichte der dritten, ihrer echten Zwillingsschwester von dem Mann aus Norderstedt erfahren.

Nach der Darstellung ihrer Mutter soll es so gewesen sein:
Die Russen waren schon kurz vor Deutsch-Krone, als sie die drei Mädchen zur Welt brachte, zwei eineiige Zwillinge und ein drittes Kind, auch ein Mädchen. Die eineiigen Mädchen wären sehr geschwächt gewesen. Käthes Zwillingsschwester wäre es dann jedoch so schlecht ergangen, dass die Ärztin dringend riet, sie in das nahe gelegene Krankenhaus zu bringen. Die Russen flogen inzwischen auch Bombenangriffe auf die frontnahen Städte, zu denen jetzt auch Deutsch Krone gehörte. Das völlig überfüllte Krankenhaus sei ebenfalls bombardiert worden, und es hätte viele Tote gegeben.

Wie überlebte nun ihre Zwillingsschwester? Die Mutter erklärte das so: Kurz nach der Bombardierung sei eine Frau in das zerstörte Krankenhaus gekommen, um ihr eigenes Baby zu suchen, das wahrscheinlich am gleichen Tag wie Käthe und ihre Schwestern geboren wurde. In der Säuglingsstation hätten die Babys aus Platzmangel dicht gedrängt neben einander gelegen. Die Frau hätte wahrscheinlich wegen der gleichen Daten oder der Ähnlichkeit das einzige überlebende Kind, offenbar Käthes Schwester, an sich genommen, in der Gewissheit, es wäre ihr Kind, das als einziges den Bombenangriff überlebt hätte. Ihr eigenes Kind war zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich unter den Toten. Käthes Mutter sagte, sie hätte geglaubt, dass nun ihr Baby tot sei. Dann flüchtete sie mit den beiden gesunden Kindern aus Deutsch-Krone, um den Russen nicht in die Hände zu fallen.
Die Familie kam schließlich nach Schleswig Holstein, und zwar nach Barg, das liegt in der Nähe von Bargfeld-Stegen, nördlich von Ahrensburg. Nachdem Käthe längst verheiratet war, zog sie 1997 mit ihrem Mann nach Quickborn, wahrscheinlich auch, um in der Nähe ihrer Mutter zu sein.

Käthe wollte nun unbedingt Nachforschungen anstellen, um etwas über ihren Vater zu erfahren, doch sie biss überall auf Granit. Wo immer sie sich auch hinwandte, sie kam nicht weiter, ihre Gesprächspartner waren kurz angebunden. Schließlich erfuhr sie, dass ihr Vater als Parteigenosse in Deutsch-Krone angeblich viel zu sagen gehabt hätte. Käthe hatte mir nie erzählt, was aus ihrem Vater wurde.

Was Käthe bis dahin erfahren hatte, war aber doch nicht die ganze Wahrheit. Ihre Mutter lag in Sterben. Ein paar Tage vor ihrem Tod im Quickborner Altenheim Klingenberg erzählte die Mutter Käthe wie es wirklich war. Es war alles ganz anders, denn sie wollte Käthe nicht die Wahrheit sagen weil sie doch immer so empfindlich sei. Die Sache mit dem Krankenhaus stimmte nicht, ihr Vater hatte ihre Zwillingsschwester kurz vor der Flucht einfach weggegeben. Töchter hatten für ihn sowieso keinen Wert, und so kam es, dass ein befreundetes kinderloses Ehepaar das Kind mitnahm. Man hatte sich dann endgültig aus den Augen verloren.

Ohne von einander zu wissen, kam Käthes eineiige Zwillingsschwester - der dritte Drilling – im Jahre 1958 nach Norderstedt. Sie sind sich nie begegnet. Keiner hatte geahnt, dass all die Jahre eine Schwester im Nachbarort wohnte. Käthes Zwillingsschwester verstarb im Jahre 2003 in Norderstedt und hinterließ einen trauernden Mann, der ungefähr ein Jahr später in Quickborn seinen Augen nicht trauen wollte, weil er glaubte, dort seine verstorbene Frau gesehen zu haben.

Längere Zeit hörte ich nichts mehr von Käthe. Von anderen, die auch ihre Geschichte kannten, erfuhr ich, dass wieder dieser Mann aus Norderstedt aufgetaucht wäre und Käthe erneut beobachtete. Konnte er den Tod seiner Frau nicht verwinden?

Das letzte, was ich von Käthe hörte war, dass sie im Jahre 2005 aus Quickborn 'unbekannt verzogen' war.