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Auf der Suche nach . . . von Uwe Neveling
Die Brücke von Uwe Neveling
Was ich mal werden wollte von Uwe Neveling
Eisenbahnromantik von Fritz Schukat

 

Auf der Suche nach . . .


von Uwe Neveling

Das Modell liegt schwer in meiner Hand. Es ist aus Metall. Es besteht aus drei Segmenten. An den beiden Frontseiten des Führerhauses ist jeweils ein gelenkiger Wagenkasten montiert, der in einer flach abfallenden Stirnfront endet. Zwei mächtige Scheinwerfer vervollständigen die elegant-aggressive Erscheinung. Den Führerstand krönen zwei Stromabnehmer; im Fahrbetrieb ist jeweils der hintere aktiv. Das ganze erinnert an ein Krokodil. Unter diesem Namen ist die Lokomotive weltbekannt. Mein Modell hat noch die ursprüngliche rotbraune Färbung.

Neben mir steht mein Freund Henning. Unsere Augen leuchten beim Anblick des Modells. „Man müsste so etwas in voller Größe sehen" meint er und ich nicke zustimmend. Der Gedanke lässt uns beide nicht mehr los. Wir studieren Prospekte und stöbern im Internet herum. Und werden fündig. Da wird doch eine Reise angeboten von St. Moritz nach Zermatt mit dem Glacier-Express. Die Reisedauer beträgt vier Tage. Das Matterhorn wollten wir schon immer mal sehen. Mit der Rhätischen Bahn haben wir im Jahr zuvor gute Erfahrungen gemacht. Danach wollen wir das Krokodil suchen. Aber wo? In Erstfeld - an der Gotthardstrecke - soll es sie geben. Standort für den Höhepunkt unserer Forschungsreise soll Interlaken sein. Von hier aus können wir uns auch noch Eiger, Mönch und Jungfrau ansehen, vor allen Dingen die berühmt berüchtigte Eiger-Nordwand. Von unseren Familien erhalten wir grünes Licht. Wir haben auch nichts anderes erwartet.

Erlebnisreiche Tage liegen hinter uns. Wir stehen vor dem Fahrkartenschalter im Bahnhof Interlaken-Ost und geben uns als Krokodil-Suchende zu erkennen. Henning konfrontiert den Verkäufer hinter der Trennscheibe mit seinen Internet-Kenntnissen: Ob es wohl in Erstfeld Krokodile gäbe? Man behandelt uns freundlich, wälzt Fahrpläne, Kollegen werden befragt. Überall Kopfschütteln. Hinter uns hat sich eine Schlange gebildet; wir blockieren den Fahrkartenschalter. Man hat jedoch Geduld mit uns. Letztendlich verweist man uns auf das Eisenbahnmuseum in Winterthur. So leicht geben wir uns nicht geschlagen und lösen eine Fahrkarte nach Erstfeld.

Wir fahren einige Stationen mit der Bahn und müssen dann umsteigen. Mit dem Postbus geht es weiter. Den Bus erkennt man an seiner gelben Farbe, an den Seiten sind Posthörner abgebildet. Es gibt nur wenige Mitreisende, wir können uns die Plätze aussuchen. Wir verlassen den Ort und fahren durch eine blühende Landschaft. Wir fahren durch Wälder. Es geht allmählich bergauf. Es wird felsig und auch die Bäume werden weniger. Die Straße schlängelt sich am Berghang immer steiler nach oben. Trotz der gewiss nicht leicht zu fahrenden Strecke strahlt der Fahrer Ruhe und Gelassenheit aus. Er hat unser Vertrauen. Ein Schild auf der Passhöhe informiert uns, dass wir 3000 Höhenmeter erreicht haben. Hier machen wir Pause. Es ist empfindlich kalt. Und es ist hier oben laut. Ein Gletscherbach schießt talwärts. Der Bachlauf ist steinig. Große Felsbrocken stellen sich dem Wasser in den Weg. Feine Wassertropfen wirbeln hoch. Es ist leicht nebelig.

Wir fahren wieder. Es geht abwärts. Auf kurvenreicher Straße erreichen wir die Talsohle. Das Tal liegt im gleißenden Sonnenlicht; es ist angenehm warm. Wir fahren durch kleine Ortschaften. Sie sind sauber und man meint, Milch und Käse zu riechen. Plötzlich wechselt das Landschaftsbild. Die Orte werden grauer. Offenbar gibt es hier Industrie. Man sieht Werkshallen und Fabrikschlote. Die Eisenbahntrasse neben unserer Straße wird breiter und beansprucht fast die gesamte Talbreite. Auf einem gelben Ortsschild steht „Erstfeld". Der Bus hält am Bahnhof und wir steigen aus. Henning meint, auf der anderen Talseite ein Krokodil gesehen zu haben. Das ist mir entgangen. Ich betrachte das Bahngelände. Es gibt zwei Bahnsteige für den Personenverkehr, der Rest ist reine Güterabfertigung und Eisenbahndepot. Es herrscht reger Verkehr. Schnellzüge rasen Richtung Gotthard nach Italien in den Süden. Dazwischen sieht man lange Güterzüge in beide Richtungen fahren.

Wie kommt man zur anderen Talseite? Wir gehen die Hauptstraße herunter und biegen in die erste Straße links ab. Die Straße führt durch mehrere Unterführungen auf die andere Seite. Ein Schild weist uns den Weg zum Werksgelände. Und dann stehen wir vor einem Koloss aus Stahl und Eisen. Er ist zwanzig Meter lang und an die drei Meter hoch. Wir bewundern den Stangenantrieb, die großen Lichter, die mächtigen Stromabnehmer auf dem Dach des Führerhauses. Wir werfen einen Blick in das Führerhaus mit seinen vielen Instrumenten. Es gibt Kurbeln, Bremsräder wie man sie von alten Straßenbahnen kennt, Geschwindigkeitsanzeigen, Sicherungskästen und viele Knöpfe, deren Funktion uns nicht bekannt ist. Die Farbe des Krokodils ist grün. Ich weiß, dass es diesen Anstrich seit den vierziger Jahren gibt, bis dahin war es ein rotes Braun. Henning fotografiert und ich filme. Wir lassen keinen Blickwinkel aus. Doch etwas stört uns und macht uns traurig. Das Krokodil steht auf abgeschnittenen Gleisen und fährt nicht mehr. Man hat es ausgemustert. Wir blicken über das Bahngelände in die offenen Werkshallen. Dort stehen die neuen modernen E-Loks. Sie sind sicherlich kräftiger und wirtschaftlicher. Doch ihr Äußeres gibt nicht viel her. Sie sehen aus wie Blechkästen auf Rädern. Unser Krokodil dagegen hat ein Gesicht. Es hat Charakter. Es ist ein Lebewesen. Mit Technik zum Anfassen. Vor gut achtzig Jahren erblickte es das Licht der Welt. Still verlassen wir das Werksgelände.
Es ist Mittag. Wir folgen einigen Eisenbahnern in ihr Stammlokal. Die Einrichtung besteht aus Holztischen und Holzbänken. Es ist gemütlich. Das Essen scheint gut und reichhaltig zu sein. Wir setzen uns an einen Ecktisch ans Fenster. Wir bestellen. Ich überbrücke die Wartezeit und notiere auf den Rand einer Serviette:

Das Kroko lebt zumeist versteckt,
in Erstfeld wurde es entdeckt.
Es stand auf abgeschnittenen Gleisen
Und konnte nimmermehr verreisen.
Die Augen sind nun matt und feucht,
zu gerne wäre es entfleucht.
Es fehlt ihm Kraft und Energie.
Die Zugkraft heißt jetzt Agonie.

Ich gebe es Henning. Er liest es und nickt dazu. Er sagt nichts. Ich weiß, was er denkt. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als die schönen und wertvollen Dinge des Lebens in unserem Gedächtnis abzuspeichern. Durch die Erinnerung daran machen wir sie uns wieder gegenwärtig.

 

Die Brücke

von Uwe Neveling erstellt am 18.06.2009

Sie verbindet eine Seite mit der anderen. Es ist ein schlichtes Bauwerk aus Beton; auch die Brüstung ist aus dem gleichen Material. Man hatte ihr vor vielen Jahren einen hässlichen gelbbraunen Anstrich gegeben und daran bis heute nichts geändert. Sie ruht auf zwei mächtigen Betonpfeilern. Die Fahrbahnbreite beträgt ungefähr sieben Meter, dazu kommt auf beiden Seiten ein Fußgänger-Bürgersteig von jeweils einem Meter fünfzig. Sie ist zweihundert Meter lang.

Und was ist nun das Besondere an dieser Brücke? Ich hatte schon in frühen Jahren eine Vorliebe für dieses unansehnliche Bauwerk entwickelt, überspannte es doch ein Eisenbahnbetriebswerk. In dreißig Meter Tiefe donnerten die Fernzüge unter ihr hindurch. Ihre mächtigen Maschinen hüllten die Brücke vorübergehend in undurchsichtige Dampfwolken. Laut fauchend zogen sie die elegant aussehenden Schnellzugwagen in für mich unerreichbare ferne Städte.

In dreihundert Meter Entfernung konnte man den Nordbahnhof erkennen. Er hatte nur zwei Bahnsteige. Er bediente den Regionalverkehr und beanspruchte nur einen kleinen Teil des Eisenbahntals. Der weitaus überwiegende Teil war dem Güterverkehr vorbehalten. Hier wurden Kohlezüge zusammengestellt, die Stahlwerke erhielten in Hochöfen geschmolzenes Eisenerz zur weiteren Verarbeitung, Stückgüter wurden versandfertig gemacht. Für mich war der Eisenbahnbetrieb unüberschaubar und was planlos aussah wurde planvoll abgeschlossen. Ich war fasziniert. Vor allen Dingen von den kleinen, kräftigen Rangierloks, die dampfend und pfeifend emsig die Waggons hin und her schoben.

Ich habe mir den Betrieb viele Jahre angesehen. Als ich noch klein war, musste man mich an der Brückenbrüstung hochheben. Ich protestierte, wenn man mich wieder absetzen wollte. Ich hatte doch noch nicht alles gesehen. Später stellte ich mich auf Zehenspitzen und lugte über die Brüstung. Und noch viel später lehnte ich mich an die Brüstung und schaute mir das Betriebsleben an.

Und heute? Heute fahre ich mit dem Wagen über die Brücke, langsam. Hinter mir Fahrende werden oftmals nervös. Warum fährt der Trottel vor mir so langsam, denken sie. Sie können ja nicht wissen, dass ich meinen Gedanken nachhänge und an die ehemalige Betriebsamkeit unter meiner Brücke denke. Es ist nämlich ruhig geworden. Zwischen dem Gleiswirrwarr wächst an vielen Stellen Gras. Die Gleise rosten, abgebaut hat sie aber noch keiner. Vielleicht werden sie noch einmal gebraucht. Für den Fernverkehr gibt es eine eigene Trasse. Langweilig aussehende Fernzüge werden von Elektroloks gezogen. Sie beziehen ihre Kraft aus Oberleitungen und sind von ihnen abhängig. Ganz anders die Dampfbetriebenen. Sie waren unabhängig und lebten von Feuer und Wasser. Das war Technik zum Anfassen.

Die Brücke hat alle Veränderungen überlebt. Sie ist noch genauso hässlich wie ich sie als Kind erlebt habe. Doch gibt es heute einen wesentlich Unterschied zu früher. Es bleibt keiner mehr auf ihr stehen, um sich das Geschehen unter ihr anzusehen. Alle wollen möglichst schnell auf die andere Seite und dann ihres Weges gehen.

 

Was ich mal werden wollte

von Uwe Neveling erstellt 01.07.2010

Nach dem Kriegsende war unsere Wohnung ein Sammelort für die Heimkehrenden. Wir hatten eine Dreizimmerwohnung, die bald aus den Nähten platzte. So mussten meine Großeltern bei unseren Nachbarn auf dem gleichen Flur ein Zimmer mieten. Sie schliefen dort nur, tagsüber wohnten sie dann bei uns.

Die Nachbarn mochten mich, und ich besuchte sie auch des öfteren. Es war ein kinderloses Ehepaar. Sie kannten meine Vorliebe für Eisenbahnen. Eines Tages unternahmen sie mit mir eine Fahrt in die Nachbarstadt. Wir fuhren natürlich mit der Bahn. Wir wurden von einer alten Dampflokomotive gezogen, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Wir saßen in alten Abteilwagen auf Holzbänken. Durchgehende Wagen hatte unser Zug nicht. Nach einer halben Stunde erreichten wir unseren Zielbahnhof. Unsere Nachbarn besuchten Bekannte und hatten mich als zusätzlichen Besucher angekündigt. Ich war somit kein Überraschungsbesuch.

Die Bekannten wohnten direkt an einem großen Güterbahnhof. Wir mussten in den vierten Stock. Und das war auch gut so. Konnte ich mir doch von hoch oben den Bahnbetrieb ansehen. Ich saß den ganzen Nachmittag am Fenster und war fasziniert vom Rangierverkehr. Überall dampfte und zischte es, Waggons wurden auf einen Rangierberg geschoben und liefen dann selbstständig den Berg hinunter, über Weichen und Gleiskreuzungen wurden sie zu Güterzügen zusammengestellt. Bahnarbeiter bremsten die Waggons mit Gleisschuhen ab, die sie vor die Waggoneinheiten auf die Gleise stellten. Die Wagen schoben den Gleisschuh Funken sprühend vor sich her und mit so verringerter Geschwindigkeit stießen sie sanft auf den vor ihnen stehenden Wagen.

Sollte ich kein Lokomotivführer werden, wollte ich Gleisschuharbeiter werden.
Weil ich so still war, hielten mich alle für einen besonders braven Jungen. Dabei wollte ich doch nur in aller Ruhe die Eisenbahn betrachten. Ich ließ mich dabei nur ungern stören. An diesem Tag sind wir erst sehr spät wieder nach Hause gefahren. Natürlich wieder mit der Bahn.

 

Eisenbahnromantik

von Fritz Schukat aufgeschrieben am 20. Januar 2010

Mein Freund wurde kürzlich 75 Jahre alt. Er wohnt im Schwarzwald, und der ist nun mal leider sehr, sehr weit von uns entfernt. Um dort hinzukommen, habe ich - schon allein wegen des winterlichen Wetters - die Eisenbahn gebucht, und zwar im Internet. Zum Schalter braucht man heutzutage nicht mehr zu gehen, man druckt sich seine Fahrkarte am heimischen PC selber aus! Das hab ich natürlich nicht geschafft, ein netter junger Mann, ein Bekannter von uns hat das dann für mich gemacht!
Ich habe mich auf die Eisenbahnfahrt gefreut! 650 km im „5-Stunden-Ritt“ auf dem ICE. Mit dem Auto - erst recht bei dieser winterlichen Witterung - nicht zu toppen.
Der ICE hält von Hamburg bis Baden-Baden nur 5x jeweils für ein paar Minuten. Der Höllenritt geht mit Hochgeschwindigkeit meist auf schnellen geraden Strecken und durch extra gebaute Tunnel fast lautlos und rüttelfrei, so dass man zeitweise sogar Getränke abstellen kann, ohne dass man befürchten muss, dass sie umfallen.
Diesen Komfort gab es früher nicht, aber daran kann sich heute kaum noch einer erinnern. Ich weiß jedenfalls noch aus eigener Erinnerung, dass es außer der ersten und zweiten Klasse auch noch eine dritte Klasse bei der Eisenbahn gab. Ganz früher soll es sogar noch eine vierte Klasse gegeben haben, aber an diese Zeit erinnert sich aus meiner Umgebung keiner mehr. Ein bisschen lauter gedacht, war dies der Anfang einer netten Gesprächsrunde in dem Abteil, in dem ich meinen Sitzplatz reserviert hatte.
„Früher gab es ja auch noch Raucherabteile! Und wenn man als Raucher zufällig in einem Nichtraucherabteil saß, ging man nach draußen, denn auf dem Gang konnte man überall rauchen!“ „Da kann ich aber was anderes berichten“, sagte mein Gegenüber, „ich fand einmal keinen Platz auf dem Gang und ging durch die gläserne Schwingtür in den Wagenteil, in dem sich die „Erster-Klasse-Abteile“ befanden. Als nun der Kontrolleur kam, verwies er mich zurück in den 2.-Klasse-Bereich, denn ich hätte ja für diesen Wagenteil keine Fahrkarte gelöst!“ Die Kontrolleure mit ihren schicken, blauen Uniformen, den Goldknöpfen und den roten Ledergürteln, die quer über die Schulter getragen wurden, waren Respektspersonen und wandelnde Auskunftsbüros. Und sie hatten einen unbestechlichen Blick - ich bin selbst auf langen Fahrten nie ein zweites Mal kontrolliert worden!
Überhaupt, früher waren die Abteile nicht so bequem, wie heute. Polstersitze kannte nur die 1. Klasse. Die 2. Klasse hatte wohl schon stoffbezogene Sitze, aber in der 3. saß man auf blanken Holzbänken. Auf manchen Museumsbahnen, sogar noch auf Kleinbahnstrecken, wie der Harzer Schmalspurbahn, die heute noch mit Dampfmaschinen zum Brocken hochfährt, gibt es Großraumwagen, in denen die Abteile nur angedeutet sind. Man sitzt sich gegenüber, und zwischen den Bänken stehen halbhohe Abgrenzungen, darüber an Hochstreben die Gepäcknetze. Auch die Fenster ließen sich ein Stück weit öffnen. Das gibt es heute nicht mehr, dafür kleben ein paar unverständliche Piktogramme rechts und links neben einem dicken roten Punkt, auf den man bei Gefahr mit dem dort verplombten Hammer hauen muss.
Die einzelnen Wagen waren mit „Ziehharmonikas“ verbunden, über der Kupplung lagen jeweils 2 halbrunde Eisenplatten übereinander, die fürchterlich quietschten, wenn es in eine Kurve ging. Man hörte die Außengeräusche dort praktisch ungefiltert und der Wind wehte einem durch die Kleidung. Ganz früher gab es an beiden Wagenenden sogar noch freie Perrons, die nur mit Eisengeländern abgesichert waren. Man stand dort auch bei höheren Geschwindigkeiten draußen im Freien! Das war dann eine ziemlich wackelige und windige Sache.
Die Gleise lagen auf dicken Holzbohlen in Kiesbetten, aber es gab kleine Zwischenräume, die so genannten Schienenstöße. Wenn der Zug dort rüberdonnerte, waren eindeutige Knattergeräusche zu hören, die auch heute noch die Chronisten zu kindlichen Lautmalereien ala „rattatat-rattatat“ anregen. – Sie sehen, auch ich kann nicht darauf verzichten! Heute sind die Gleise kilometerlang verschweißt und die Züge fahren ohne die altbekannten „rattatat“-Laute darüber! Ich habe schon öfter Freunde und Bekannte gefragt, ob sie sich erklären können, wieso es bei dieser Technik offenbar nicht zu den bekannten temperaturbedingten Ausdehnungen der Gleisstränge komme, die es auch heute noch - physikalisch gesehen - geben müsste. Den Trick haben wir noch nicht gelöst, er wird aber ganz einfach sein – denke ich!
Die Signaltechnik war pure Handarbeit. In Stellwerken standen handbetriebene Hebel, die mit runden Eisengewichten beschwert waren. Mit diesen Hebeln wurden Signale, Vorsignale und Schranken bedient, die z.T. hunderte von Metern entfernt waren. Da die Drähte sehr stramm gespannt waren, summten sie, wenn sie bewegt wurden. An viel befahrenen Straßen standen aber auch Schrankenwärterhäuschen, in denen die Schrankenwärter rund um die Uhr meist nach Fahrplan, aber auch nach entsprechenden Telefondurchsagen ihrer Pflicht nachkamen. Die Bundesbahn hatte ihr eigenes Telefonnetz, das unabhängig von der Deutschen Post (später Telekom) funktionierte.
Merkwürdig war auch die Sache mit den Bahnsteigkarten. Wenn man jemanden am Zug verabschieden wollte, musste man eine Bahnsteigkarte für 20 Pfg. ziehen und diese an der Sperre abknipsen lassen. Dort saßen in mehreren kleinen Schalterhäuschen seitenverkehrt Bahnbeamte nebeneinander, die darauf aufpassten, dass niemand ohne gültige Fahrkarte auf den Bahnsteig kam. Diese Häuschen konnte man nur einzeln passieren und wenn sie nicht besetzt waren, wurde der Durchgang mit einer Kette versperrt.
Wir hatten einen tollen Gesprächsstoff gehabt, der mit vielen kleinen Erlebnissen untermalt wurde. Schade nur, dass die vier Personen, die am intensivsten mitmachten - auch ältere Semester wie ich - schon in Frankfurt/M. umstiegen. Dennoch verging die restliche Zeit der Fahrt bis Baden-Baden bei nettem small-talk wie im Flug!

Der Preis von 20 Pfg. für die Bahnsteigkarte war „...die anteilige Gebühr für die Versicherungsprämie, die sonst über die Fahrkarte mit abgedeckt wurde“, so hatte man uns das in der Ausbildung beigebracht. Es könnte aber auch zur Beschäftigungspolitik unter dem Versorgungsgedanken der Regierung gehört haben, denn in diesen Schalterhäuschen saßen oft Kriegsversehrte. Wer z.B. nur einen Arm hatte, bekam eine - auf einer Stange am Fußboden befestigte – Zange. Zum Knipsen trat er dann unten auf ein Pedal wie bei der Nähmaschine.
Die blinden Kriegsversehrten wurden zu Auskunfts- und Fernsprech-/ Telegrafiepersonal
ausgebildet.

In unserem Haus saß ein blinder Kollege am Fernschreiber, der ließ den Streifen durch seine Finger gleiten und las uns gleichzeitig die Meldung vom Ticker vor.

Am Hauptbahnhof Hamburg hatte ein Kollege ein in Brail-Blindenschrift erstelltes Fahrplanbuch. Ich habe ihm oft zugesehen und war fasziniert von seinen Lesefingern.

Das Telefonnetz der Bahn hieß BASA, „BahnAmtliche-SprechAnlage“. Es lag immer am Gleis in u-förmigen Betonteilen mit einer entsprechenden Abdeckelung - heute sagt man auch Rasenbord dazu. Dieses bahneigene Telekommunikationssystem wurde 1996 von der Arcor (einem Joint Venture-Unternehmen aus Mannesmann und Deutscher Bank) übernommen und war zweitgrößter Festnetzanbieter neben der Telekom.

Übrigens, die die Fernzüge begleitenden Postverteilungswagen waren dagegen Eigentum der Bundespost (jetzt Deutsche Post)