Unsere Erlebnisse

Erlebnisse auf dieser Seite

Dieter von Uwe Neveling
Tschüss – bis bald von Uwe Neveling
So ein Tag von Uwe Neveling
Freundinnen seit etwa 70 Jahren... von Edith Kollecker
Freundschaften von Fritz Schukat
Meine Schulfreundschaft von Annemarie Lemster

 

Dieter

von Uwe Neveling

Der Winter war lang gewesen, zu lang. Zwar hatte er einige schöne Tage gebracht mit eisiger Kälte - aber vor allem wochenlanges feuchtkaltes Schmuddelwetter mit tiefhängenden Wolken, Tage, an denen man von früh bis spät elektrisches Licht benötigte. Heute war das Thermometer endlich nach oben geklettert, und die Sonne am wolkenlosen Himmel lockte mich zu einem Spaziergang. Im Park stellte ich erfreut fest: In einer geschützten Ecke konnte man sogar schon auf einer Bank sitzen und die Frühlingssonne genießen. Ein lautes: „Bist Du das wirklich? Das gibt's doch gar nicht!" direkt neben mir ließ mich aus meinen Gedanken hochschrecken.

Die Stimme kam mir bekannt vor. Im Gegensatz zu den Gesichtern ändert sich die Stimme in all den Jahren nicht. Ich blickte auf und sah in ein mir völlig unbekanntes Gesicht. Es war rundlich und da, wo früher Haare waren, war nichts. Auch die übrige Gestalt kam mir nicht bekannt vor. Im Gegensatz zu mir war der Fremde gut gekleidet. Gegen die immer noch kühle Witterung trug er einen dicken, gut geschnittenen, dunklen Mantel. Die Bügelfalten seiner Hose waren so scharf wie ein Rasiermesser und das Schuhwerk glänzte schwarz. In ihm spiegelte sich der wolkenlose Himmel. Ich dagegen hatte mich im Astronautenlook gekleidet: dicke Hose, dicke Jacke und winterfeste Schuhe.

Ich dachte konzentriert nach. Da war doch die Stimme. Bei der Tonleiter hatte sie sich bei f und g eingereiht. Sie war nicht tief, sie war nicht hoch. Sie tönte zwischen Bass und Tenor und klang etwas belegt. Jetzt hatte ich es. Es war Dieter, ein Kamerad aus der Kinder- und Jugendzeit. Wir wohnten im gleichen Haus, hatten aber keinen intensiven freundschaftlichen Kontakt. Er versuchte immer, das Kommando an sich zu reißen. Das misslang zumeist. Wir ließen ihn mitspielen. Wenn er seinen Führungsanspruch verbraucht hatte, war er ein durchaus zugänglicher Spielkamerad. Aber so richtig auf ihn verlassen konnten wir uns nicht. Er überraschte uns immer wieder mit Vorschlägen, die wir nicht gut fanden. Fußballerisch war mit ihm nicht viel anzufangen. Er konnte den Ball nicht am Fuß führen, vielmehr verstolperte er ihn. Sein Gegenspieler hatte keine Mühe mit ihm. Bei der Mannschaftswahl wurde er fast immer als Letzter zugeteilt.

Ohne Haare sah er seinem Vater sehr ähnlich. Jetzt konnte ich auch seinen Habitus eindeutig zuordnen. Wir hatten uns zuletzt in Hamburg vor gut 50 Jahren getroffen. Wir waren uns damals rein zufällig über den Weg gelaufen. Er arbeitete als Verkäufer in einem großen Hamburger Bekleidungshaus. Am Abend hatte er sich mit Kolleginnen und Kollegen zu einem gemütlichen Treff in einer urigen Kneipe in Altona verabredet. Er lud mich ein, daran teilzunehmen. So lernte ich die Verkäuferschar eines bekannten Kaufhauses näher kennen. Zur vorgerückten Stunde erfuhr ich dann auch, wie Ladenhüter an den Mann bzw. an die Frau gebracht werden, und ich nahm mir vor, mich outfitmäßig in anderen Häusern einzukleiden. Ich bildete mir ein, dass mich das vor Ladenhütern schützen würde.

Sonst war es ein angenehmer Abend. Es war interessant, einmal hinter die Verkaufskulissen blicken zu können. Vor allen Dingen hatten es mir die jungen Damen angetan. Sie sahen wie alle Verkäuferinnen gut aus. Zu näheren Kontakten ist es leider nicht gekommen. Ich habe immer noch das Gefühl, etwas versäumt zu haben. Auch der Abend ließ sich nicht wiederholen. Ich verlor Dieter aus den Augen.

Und jetzt stand er vor mir. „Setz Dich neben mich!" sagte ich zu ihm, und er setzte sich. Wir hatten uns viel zu erzählen. Er war ruhiger geworden und versuchte auch nicht, das Gespräch zu dominieren. Die Sonne zog ihren Weg Richtung Westen und näherte sich dort dem Horizont. Es war empfindlich kalt geworden. Wir verlagerten daher unser Wiedersehen in ein gemütliches Lokal. Es wurde noch ein langer Abend.

Wir lernten uns neu kennen und fanden uns sogar sympathisch, ganz anders als in den früheren Jahren, wo wir uns oftmals aus dem Weg gegangen waren. Die Erinnerungen an die gemeinsam verbrachten Jahre entfalteten eine heilsame Wirkung. Ereignisse der Vergangenheit eröffneten uns Gemeinsamkeiten, die wir früher nicht so empfunden hatten. Das macht so ein Wiedersehen wertvoll. Leider ist es nur bei diesem einmaligen Treffen geblieben. Wir haben uns wieder aus den Augen verloren.

 

Tschüss – bis bald

von Uwe Neveling erstellt am 06.07.2013

Es ist die natürlichste Sache der Welt, dass man sich im Alter an vergangene Begebenheiten erinnert. Es sind lebhafte Erinnerungen. Lebhaft bedeutet für mich erleben. Ich erlebe das Vergangene noch einmal, und zwar so, wie ich es damals empfunden habe. Das können abenteuerliche Fahrten sein. Auch die Schulzeit und die Lehrzeit sind mir gegenwärtig. Die Studienzeit, der berufliche Werdegang laufen vor meinem geistigen Auge ab. Die eigene Familie erscheint immer wieder und hier besonders die Geburt des Sohnes, der jetzt bereits 41 Jahre alt ist. Die Begegnungen mit anderen Menschen, die ich kennen lernen durfte, beeindrucken mich immer noch.

Ich frage mich, ob ich sie wiedersehen möchte. Mit den heutigen Internetmöglichkeiten ist es ein Leichtes, auf Spurensuche zu gehen. Wie geht es den Freunden aus meiner Jugendzeit, wie geht es Karl-Heinz, Reinhold und Walter? Karl-Heinz ging nach seiner Lehre nach Darmstadt. Er kam einige Jahre später wieder zurück. Ich weiß noch, dass wir ihm einen großen Bahnhof bereiteten. Wir erregten mit unserem Transparent Aufsehen; ihm war das unangenehm. Reinhold studierte Medizin in Freiburg. Er hat als Arzt Karriere gemacht. Das konnte ich auf Umwegen in Erfahrung bringen. Walter verschlug es wie mich nach Hamburg. Ich traf ihn einmal zufällig Ende der sechziger Jahre. Er gab mir seine Telefonnummer, die ich prompt verlor. Ich hatte damals kein Telefon.

Das Leben spielt manchmal verrückt. Auf einer Kanufahrt in Finnland traf ich Otto und Margot. Sie befuhren die finnischen Seen mit ihrem Aerius-Zweier. Sie kamen wie dich aus dem Ruhrgebiet. Wir verstanden uns auf Anhieb und unternahmen viele gemeinsame Fahrten mit Booten und Rucksack. Wir besuchten uns gegenseitig. Eines Tages erhielt ich einen Anruf von Otto. Mit tränenerstickter Stimme teilte er mir mit, dass Margot verstorben sei. Er verschwand dann für mich unauffindbar. Ich konnte auf Umwegen seine Adresse und seine Telefonnummer in Erfahrung bringen. Ein telefonischer Kontakt kam aber nicht zustande, und meine Briefe kamen als unzustellbar zurück.

Will ich die verloren gegangenen Freunde wiedersehen? Ich gebe zu, dass ich mich davor scheue. Es könnte ihnen nicht gut gehen, vielleicht leben sie auch nicht mehr. Ich möchte sie unversehrt sehen, so wie sie sich in meiner Vorstellungswelt abgebildet haben. Ich gehe einfach davon aus, dass es sie immer noch gibt, dass sie sich wohl fühlen, und dass sie sich gerne an die gemeinsame Zeit zurückerinnern. Sie sind Bestandteil meines Lebens. Und das soll in alle Ewigkeit so bleiben. Ich wünsche meinen Freunden alles erdenklich Gute. Meine Erinnerung an sie garantiert ihnen ein langes, gesundes Leben. In Gedanken treffen wir uns regelmäßig und lassen die alten Zeiten – wie das bei Freunden üblich ist - wieder auferstehen.

Tschüss Freunde – bis bald.

 

So ein Tag

von Uwe Neveling 18.01.2012

„Horst-Dieter hat angerufen. Es geht ihm gut“ sagte mir meine Frau. Gestern hatte mich Heini darüber informiert, dass Horst-Dieter schon seit einiger Zeit im Krankenhaus sei, Herzinfarkt. Ich versuchte, Horst-Dieter telefonisch zu erreichen. Das Gespräch kam nicht zustande. Mit Horst-Dieter verbindet mich eine jahrelange Freundschaft. Als ich 1961 nach Hamburg kam, hatten er und seine Frau sich intensiv um mich gekümmert.

Ich hatte eine unruhige Nacht und träumte von Kathetern, die über die Arterie zum Engpass im Herzen geführt wurden. Über einen Monitor konnte man sehen, ob der Katheter richtig positioniert war. Unter hohem Druck wurde der Katheter aufgeblasen und so die Ablagerungen in der Engstelle platt gedrückt. Das Blut konnte wieder fließen. Mit einem feinen Drahtgeflecht wurde der reparierte Durchgang abgesichert.

Ich wachte auf und erinnerte mich, was ich im Traum erlebt hatte. Es war Mittwoch, und ich musste zur Schreibwerkstatt. Es sollte seit langer Zeit wieder ein schöner Tag werden. Das hatte es schon lange nicht mehr gegeben, blauer Himmel und Sonne. Ich konzentrierte mich auf die Gesprächsrunde. Es waren lebhafte Gespräche, die mich vorübergehend von meinen Problemen ablenkten. Gegen Mittag war ich wieder zu Hause und erhielt die frohe Botschaft, dass Horst-Dieter angerufen habe. Ich rief sofort zurück.

Am Telefon war er wie immer. Nach einer Woche auf der Intensivstation arbeite er jetzt an der Rehabilitation. Mit der Entlassung rechne er in zwei Wochen. Ich fragte ihn, wie es zum Herzinfarkt gekommen sei. Er antwortete mir, das habe er den Arzt auch gefragt. Nachdem er alle Negativeinflüsse verneinen konnte, hatte ihn der Arzt auf sein Alter verwiesen. Auch dadurch könnten Störungen am Herzen auftreten. Das machte mich nachdenklich. Horst-Dieter ist zwei Jahre älter als ich, und ich habe nicht so gesund wie er gelebt. Wir haben uns dann gegenseitig Mut gemacht.

Das Gespräch endete nach einer halben Stunde. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich konnte wieder klar denken und wünschte mir, es würde mehr Tage wie diesen geben. So ein Tag führt dazu, dass man Nebensächlichkeiten als schmückendes Beiwerk betrachtet. Sie sind bedeutungslos. Auf das Wesentliche kommt es an. Es prägt das Leben und füllt es mit Werten, die letztendlich die Erinnerung ausmachen.

Ich erinnere mich gerne an meine Vergangenheit. Sie hilft mir, die Zukunft zu bewältigen. Dazu zählen insbesondere Freundschaften, die ich in der Vergangenheit erfahren durfte.

 

Freundinnen seit etwa 70 Jahren...

Von Edith Kollecker gespeichert am 20.09.2010

Ich weiß nicht genau, wie alt ich war, aber es war noch vor unserer Schulzeit, als Ursel und ich immer zusammen spielten. Wir wohnten auf einem kleinen Hügel, sie im Tal, in einer Kate. Bei uns war das Haus immer voll, ich hatte noch 6 ältere Geschwister und jeder
versuchte mich zu erziehen.
Ursel war ein Einzelkind, deshalb spielte ich lieber bei ihr. Ihr Vater war im Krieg, die Mutter alleinerziehend und sehr geschickt. Sie baute uns Höhlen, Schaukeln und eine Turnstange. Sie konnte einfach alles, ob Radflicken oder Lampen anbringen. Trotzdem war die Familie in unserem Ort nicht so beliebt, fast alle Familien waren evangelisch, nur sie waren katholisch und kamen aus dem Osten. Die Oma, die am Ende der Kate wohnte, konnte nicht einmal richtig deutsch sprechen. Mich störte es nicht und meiner Familie auch nicht, die waren vielleicht froh, wenn ich eine Weile aus dem Haus war.
Wenn mich Ursels Mutter zu sich holte, um mit Ursel zu spielen, kam sie in Gummistiefeln, hatte eine Herrenjacke an und eine komische Mütze auf, das war schon auffallend, denn alle Frauen bei uns gingen nur mit Kopftüchern. Sie nahm mich huckepack, trotzte Regen, Eis und Schnee und marschierte mit mir ins Tal, wo Ursel schon am Fenster stand und auf mich wartete. So konnte die Mutter getrost ihrer Arbeit nachgehen, oder einkaufen fahren, aber mit gehobenen Finger, denn sie kannte ihre Kinder. Wenn wir dann alleine waren, machten wir oft Dummheiten, mal banden wir die Ziegen los, die zielsicher den Hang hochkletterten, um an die Himbeersträucher zu kommen. Alleine bekamen wir sie nicht mehr nach Hause. Das Donnerwetter folgte so gleich.
Ein anderes Mal kletterten wir aus dem Fenster, wenn die Mutter uns einsperrte, um Besorgungen zu machen. Wir ließen die Fenster im Winter sperrangelweit offen. Ursel bekam dann eine Tracht Prügel und ich wurde nach Hause gejagt. Doch lange dauerte der Hausarrest nicht. Ich stand oben und guckte traurig ins Tal, Ursel stand unten am Fenster und heulte erbärmlich. Das konnte auch die strengste Mutter nicht lange aushalten und die beiden Freundinnen durften wieder zusammen spielen. Wenn wir wirklich mal Streit miteinander hatten, war ich die Schwächste und bekam das Meiste ab. Sie musste mich aber auch erst mal kriegen, ich konnte sehr schnell laufen.

Ursel kam auch oft zu uns. Meine Mutter war nicht so pingelig, sie hatte wenig Zeit, so gab es keine Verbote, was auch wir immer anstellten. Zum Essen ging ich immer gerne zu Ursel. Es gab oft Pudding oder Eierkuchen, das kam bei uns nur sonntags auf den Tisch. Dann wurden wir zusammen eingeschult und gingen vier Jahre gemeinsam in die 3 km entfernte Schule. Im März 1945 begann unsere 6 wöchentliche Flucht, auch da waren wir täglich zusammen, obwohl uns zehn Wagen von einander trennten. In der neuen Heimat angekommen, waren wir das erste Mal getrennt, jeder wohnte an einem anderen Ort. Nach zwei Jahren zogen wir in den gleichen Ort und gingen wieder in die gleiche Schule. Wir waren wieder unzertrennlich.
Als wir so 16 Jahre alt waren, gingen wir gemeinsam zum Tanzen. Ich übernachtete dann bei ihr und es gab viel zu erzählen. Es hätte so schön sein können, wenn nicht die Mutter da gewesen wäre. Das Gekicher an der Straßenecke mit anderen Jugendlichen nahm dann ein jähes Ende, weil ihre Mutter als Rammbock vor uns stand und uns ins Haus beorderte. Sie hatte sicher schon lange am Fenster gestanden. Das war Ursel sehr unangenehm.
Als ich dann nach Ellerau zog, konnte ich nur einmal im Jahr meine Eltern besuchen. Doch jedes Mal habe ich auch Ursel besucht. Sie war bei meiner Hochzeit und ich bei ihrer. Dann war erst mal Funkstille. Außer Weihnachtsbriefe lief nichts. Es hatte jeder mit sich zu tun, es kamen Kinder, es wurde ein Haus gebaut.
Beim zwanzigjährigen Schultreffen waren wieder die freundschaftlichen Gefühle da. Wir schreiben uns seitdem Briefe und wenn ich in der Gegend bin, besuche ich sie immer noch. Anfang Juni war es dann wieder soweit. Wir haben viel von früher erzählt.
Leider ist sie seit 2 Monaten Witwe und der nächste Besuch wird sehr schwer für uns sein.

 

Freundschaften

von Fritz Schukat Erstellt am 17.11.2010 redigiert im Juni 2011

Papas einer Freund hieß Willi S. Er wohnte zwei Häuser weiter, in der Neuköllner Weserstraße, auch im Quergebäude, auch im Erdgeschoss. Onkel Willy war verheiratet und hatte eine Tochter. Sie war unwesentlich älter als ich, hatte einen Silberblick und ich mochte mit ihr nicht spielen, sie aber auch nicht mit uns. Onkel Willi war sicher so alt wie mein Vater, damals als wir noch in der Weserstraße wohnten, also kurz nach Beginn des 2. Weltkriegs so um die 32-33 Jahre alt. Ich kenne ihn eigentlich immer nur fröhlich. Er hatte ein glattrasiertes Gesicht, trug immer ein verschmitztes Lächeln zur Schau und hatte immer eine Schiebermütze auf. Mein Vater war mit ihm gut Freund, er kam öfter zu uns und ich war auch öfter drüben.

Eines Tages kam Onkel Willi mit einem dicken Verband um seine Hand zu uns und erzählte auch wieder mit einem verschmitzten Lächeln, er habe sich beim Holzhacken den halben Daumen und die oberen Glieder des Zeige- und des Mittelfingers abgehackt. Einfach so, und es habe nicht einmal gemerkt! Er habe ein paar Holzlatten zu Brennholz zerhacken wollen und hatte schon einen größeren Haufen Kleinholz fertig, als er etwas ungeschickt zuschlug und einen kleinen Schmerz in der Hand verspürte. Ein bisschen blutete es. Mist, dachte er bei sich, und du hast schon wieder kein Taschentuch bei dir, um das Blut abzutupfen. Als er die Hand hob und seine abgehackten Finger auf dem Hackklotz liegen sah, habe er erst einmal die Hand wieder rangehalten, damit sie wieder da hinkommen, wo sie hingehörten, aber sie blieben einfach liegen und da erst habe er realisiert, was geschehen sei. Was dann weiter passierte und wer ihn dann als erstes versorgte, daran erinnere ich mich zwar nicht mehr, aber weshalb es so schmerzlos passierte. Er habe nämlich zuvor das Beil ordentlich geschliffen, es wäre schön scharf gewesen! Die Wunden verheilten und trotz der fehlenden Fingerglieder störte ihn das nicht wesentlich. Und vor allem, er blieb weiterhin so fröhlich, wie wir ihn kannten.

Es gab noch einen weiteren Onkel Willi, ebenso alt wie der mit den abgehackten Fingern, auch verheiratet. Auch dort gab es eine Tochter. Auch den Onkel Willi kannte ich bereits seit meiner Kindheit, er gehörte ebenso irgendwie zu uns. Aber die Familie wohnte etwas weiter weg, nämlich in der Weichselstraße. Da bin ich anfangs nur mit meinem Vater hingegangen, nach dem Krieg vielleicht ein-, zweimal auch allein. Wenn Familienfeste gefeiert wurden, war die Familie G. immer dabei, während ich mich nicht erinnere, dass der andere Onkel Willi uns nach dem Krieg noch oft besuchte. Er ist wohl dann weiter weggezogen.

Die Freundschaften meines Vaters zu seinen beiden Willis - zumindest zu Willi G. - waren lebenslange Freundschaften. Sie kannten sich bereits aus der Schulzeit und blieben Freunde fürs ganze Leben.

Mein Vater lebte nach dem Tod unserer Mutter ewig lange mit seiner Bekannten zusammen. Sie war die Frau Schukat, unter ihrem eigenen Nachnamen kannte sie keiner mehr. Und eigentlich gab es keinen vernünftigen Grund, weshalb die beiden nicht heirateten. Wir drängten Vater ständig, aber erst als ich ihm drastisch verklickerte, dass seine Lotte keine Rente von ihm bekäme, wenn er als erster gehen würde, entschloss er sich, sie zu heiraten. Willi G. war schließlich Trauzeuge dieser späten Hochzeit. Zwei Jahre später verstarb mein Vater mit 67 Jahren.

Weshalb ich diese eigentlich profane Geschichte erzähle? Sie fiel mir ein, als mein Freund vor kurzem verstarb, mit dem mich ebenfalls eine lebenslange Freundschaft verband. Einer geht immer zuerst. Aber wer eine solche Freundschaft erleben durfte, kann sich glücklich schätzen, denn die Erinnerungen an die gemeinsamen Zeiten überleben und versöhnen zugleich, weil sie unwiederholbar sind.







 

Meine Schulfreundschaft

von Annemarie Lemster aufgeschrieben am 06.09.2010

1950 bekamen wir in unserer Klasse eine neue Schülerin. Da stand ein kleines dünnes Mädchen vor der Klasse und stellte sich vor. Ich heiße Isolde Ruffer und komme aus Brunkensen. Sie bekam einen Platz zugewiesen und setzte sich. Isolde - wie kann man denn so heißen? Ich hatte so einen Namen noch nie gehört. Nach der Stunde hatten Isolde und ich den gleichen Weg nach Haus. Diesen Weg gehen Isolde und ich bis zum heutigen Tag immer noch gemeinsam, mal mehr oder weniger intensiv.
Die Freizeit verbrachten wir, wenn es ging, immer gemeinsam. Die Schule beendeten wir und erlernten einen Beruf als Verkäuferin. Isolde verkaufte später Schuhe und ich den Leuten Fleisch. Es war eine schöne Zeit, denn die Abende gehörten uns, man spielte viel Gesellschaftsspiele und langsam wurde immer mehr über das andere Geschlecht gesprochen. So verliebten wir uns auch fast zur gleichen Zeit. Unsere Freunde verstanden sich auch, und nun waren wir vier Freunde.
1958 begann für uns ein Schicksalsjahr. Wir wollten heiraten. An einem Sonntag im November wurde in der Kirche von der Kanzel verkündet, dass Isolde und Walter sowie Annemarie und Dieter das Aufgebot zur Eheschließung bestellt hatten. Als wir die Kirche verließen, wurde hinter uns getuschelt: „Das ist aber eine schöne Freundschaft, die heiraten auch zur gleichen Zeit, das find ich schön.“ Wir taten, als hätten wir es nicht gehört und gingen schnell weiter. Gewollt war diese Gemeinsamkeit zwar nicht, nur im Leben gibt es Situationen, die dulden keinen Aufschub. Noch zweimal wurde an den darauf folgenden Sonntagen das Aufgebot verlesen, dann kam unser großer Tag, aber da jeder bei der Hochzeit der anderen dabei sein wollte, heiratete Isolde vor mir. Im darauf folgenden Jahr bekamen wir dann unsere ersten Kinder. Nun spazierten wir wieder gemeinsam, jetzt mit unseren Kinderwagen durch die Stadt. Bald hörten die Gemeinsamkeiten aber auf, ich verließ Sarstedt und zog mit meiner Familie nach Northeim, Isolde blieb am Ort.
Die folgenden Jahre sahen wir uns selten und ein Telefon hatten damals nur ganz wenige Leute. Für Briefe fehlte sehr oft die Zeit, denn meine Familie vergrößerte sich in jedem Jahr. Aber fuhren wir einmal zu meinen Eltern, musste ich immer auch zu Isolde. Diese Treffen waren wunderbar, es war immer, als hätten wir uns erst gestern verlassen. Die Zeit verging, die Kinder wurden größer, da verbrachten wir mit unserer Kinderschar gemeinsame Campingurlaube an der Ostsee und weitere Jahre später, wir wohnten jetzt in Quickborn, die Kinder waren alle schon aus dem Haus, da zogen wir gemeinsam durch die Bayerischen Wälder. Später haben wir auch einen gemeinsamen Urlaub auf Mallorca verbracht. Als dann Isolde ihren Mann beerdigen musste, war es keine Frage, ich fuhr sofort zu ihr und blieb zwei Wochen bei ihr. Nun sind wir beide Zweiundsiebzig und sehen uns leider nicht mehr so oft. Nur, jetzt hat ja jeder ein Telefon und diese Telefonate dauern dann wie früher, als wir uns unsere Erlebnisse im Straßengraben sitzend erzählten.

Liebe Isolde, ich habe dich nicht um Erlaubnis gefragt, ob ich unsere Geschichte veröffentlichen darf, aber da wir uns so gut kennen, wirst du einverstanden sein, denn - wer kann denn noch über eine so lange Freundschaft berichten?