Familie

Erlebnis auf dieser Seite

Die Spieluhr von Fritz Schukat
Selbstverwirklichung von Jürgen Hühnke
Haarwäsche von Uwe Neveling
Wenn du noch eine Oma hast... von Edith Kollecker
Sonntagvormittag non Uwe Neveling
Geschwister von Uwe Neveling

 

Die Spieluhr

Die Spieluhr 

von Fritz Schukat erstellt im November 2013

Unser Jüngster bekam mit 2-3 Jahren Ende der 1970er Jahre einen handtellergroßen Stoffmaikäfer, in dessen Bauch eine Spieluhr eingebaut war. Mit einer Schnur, die am Hintern mit einer Holzperle herausguckte, konnte man sie aufziehen. Sie spielte dann, so lange die Federspannung ausreichte, das Wiegenlied von Brahms: „Guten Abend, gute Nacht...“. Den Text der beiden ersten Strophen konnte er bald aus vollem Hals mitsingen und schließlich entwickelte sich daraus vor dem Schlafengehen ein Ritual, auf das er bestand - auslassen war nicht! Meine Frau wusste schon bald, wie lang man die Schnur herausziehen musste, damit das Lied sich nicht zu oft wiederholte und am Ende klangen die Töne nur noch ganz leise und das Tempo verlangsamte sich.

Dann wurde das Licht ausgemacht, aber die Tür durfte nicht ganz zugemacht werden, das gehörte ebenfalls zum Ritual. Wir mussten nicht unbedingt leise flüstern, Junior brauchte die Familiengeräusche, um beruhigt einzuschlafen. Das Gute-Nacht-Lied mit dem Käfer, Schnuller und sein Häs‘chen, das er drücken konnte und die offene Tür gehörten fast bis er eingeschult wurde zum feststehenden abendlichen Brauch, an den wir uns immer noch gerne erinnern.
Diese Zeit ging viel zu schnell vorbei.

Jetzt ist der Kerl fast 2 Meter groß, geht auf die vierzig zu und wohnt seit vielen Jahren im Usaland. Anfangs sind wir beinahe jedes Jahr rübergeflogen und trafen uns mit ihm. Aber das Fliegen ist für mich so anstrengend geworden, dass die Frau mit dem Ältesten schon mehrmals allein rübergeflogen ist. Für mich bleibt es bei gelegentlichen Telefonaten und eMails - und seit einiger Zeit „skypen“ wir. Das ist eine famose Sache, dazu braucht man einen Computer und eine kleine Spezial-Kamera mit Mikrophon. Auf Verabredung ruft man sich an und kann den Partner auf dem Bildschirm sehen. Mit viel Fantasie kann man sich einbilden, der Partner säße nur ein paar Meter entfernt auf dem Sofa und nicht am anderen Ende der Welt!

Da diese Art der Konversation via Internet kostenfrei ist, dauert solch ein Gespräch schon mal eine bis zwei Stunden. Auf unserer Seite sitzen dann Vater, Mutter und der Große, zu Weihnachten natürlich auch unser Besuch.
Gelegentlich sprachen wir mal über den kleinen Maikäfer mit der Spieluhr. Irgendwo war er. Jedenfalls ist er mit uns vor 8 Jahren umgezogen. Aber wo ist er nun...?

Wenn man nach einem Umzug etwas gezielt sucht, findet man es garantiert nicht. Dazu verhilft meist nur ein kleiner Zufall und der geschah neulich. Jahrelang war der Käfer still, aber die Spieluhr ging noch. Ich hatte den Eindruck, sie wollte nicht so recht, aber dann - wie vor Jahren - erinnerungsträchtige Töne.

Ich zog die Uhr auf, nahm meine Digicam, stellte sie auf Filmen und ließ sie laufen. Es wurde eine gut einminütige Darbietung voller Erinnerungen, Mundwinkel zitterten und die Augen wurden feucht.

Menschenskind, das ist doch schon lange vorbei! Aber es hängen so viele schöne Erinnerungen daran. Na ja, ich bereitete den kleinen Film auf und sandte ihn per eMail nach drüben.

Als wir nach Wochen wieder mal miteinander sprachen, gestand Sohnimatz, dass auch er ganz hin und her war und eine kleine Träne verdrückte.

Für unseren Herrn Sohn ist diese Erinnerung eine der frühesten seines Lebens. Ich ging damals schon mit großen Schritten auf die fünfzig zu. Wer die erreicht, glaubt landläufig, dass die zweite Hälfte des Lebens nun beginne.

Also, wenn es mit der Gesundheit so bleibt, hätte ich schon Lust, hundert zu werden - warten wir es ab! 22 Jahre sind eine verdammt lange Zeit, vor allem, wenn man sie noch vor sich hat!

 

Selbstverwirklichung

Jürgen Hühnke erstellt im Juli 2014

Meine Generation war eigentlich noch ganz „normal", also fast gut bürgerlich; sie wuchs aber hinein in die verrückten Zeiten der 68er Rebellion, der Hippies und der nach Indien orientierten Transzendental-Meditativen, die ihr Geld dafür verschwendeten, in den Ashrams von Gurus im Sex zu schwimmen - und was dergleichen esoterischen Unsinns mehr ist. Meine Generation redete nicht wie Spätere unablässig von Selbstverwirklichung, was auch hirnrissig gewesen wäre, ist doch jeder halbwegs vernünftig gemeisterte Lebensweg an sich schon Selbstverwirklichung genug. Einer meiner Schulfreunde hatte es da schlechter getroffen, nicht weil er Pastor geworden war, sondern weil ihm sehr spät, da er bereits Vikar war, am Einsatzort die jüngste Schwester alter Grundschulfreundinnen, als liebreizende Abiturientin in die Quere gekommen war. Überstürzt rasch wurde geheiratet, beide surften nur so auf Glückswogen und wurden ein eingespieltes Team von Pastorenehepaar, bei dem die junge Frau unermüdlich und kreativ - vor allem aber aus eigenem Antrieb und ohne jeden Zwang - die Jugendarbeit in die Hand nahm und den Chor leitete. Als er seine Karriere in der hannöverschen Landeskirche mit dem Amt eines Superintendenten krönte, lief sie - mittlerweile Mutter von drei Söhnen - ihm plötzlich davon. Sie fühlte sich zu kurz gekommen, beanspruchte nun, studieren zu dürfen wie andere Abiturientinnen, wolle Versäumtes nachholen, naja, und sich selbst verwirklichen. Sie suchte sich einen neuen Lebenspartner und ließ sich scheiden. Scheidung in einem evangelisch-lutherischen Pfarrhaus (und das noch vor Margot Käßmann) - der Landessuperintendent schäumte, mein Freund wurde auf einen Landpastor zurückgestuft. Ein gewisser Vorteil lag allerdings darin, dass das Kirchenrecht dem Beamtenrecht angeglichen ist und folglich zwar Titel zurückgestuft werden können, aber die Bezüge als „wohlerworben" gelten.
Wenn ein Beamter sich selbstverwirklicht, schlägt sich das eben in seinem Einkommen nieder.

 

Haarwäsche

von Uwe Neveling erstellt im August 2014

Unser Sohn war ein Jahr alt und schlief im Kinderzimmer. Wir hatten das Zimmer säuglingsgerecht eingerichtet. Gleich hinter dem Kinderbett stand der Wickeltisch. Auf dem Wickeltisch hatten wir die für die Säuglingspflege notwendigen Elemente gelagert. Dazu gehörten Babycreme, Öle, Wattestäbchen für das Näschen und für die Ohren, weiche Tücher, Haarbürste und ähnliches mehr. Die Windeln verwahrten wir unterhalb der Wickelfläche in separaten Fächern. Alles lag griffbereit; unserem Kleinen sollte es an nichts fehlen.

Kleine Kinder brauchen viel Schlaf. Zwischen 18 und 19 Uhr waren zumeist die Spielstunden zu Ende. Er wurde für die Nacht zurecht gemacht und bekam sein Fläschchen. Wir legten ihn in sein Bett und wünschten ihm eine gute Nacht. Die aufgezogene Spieluhr sollte ihn mit einem Schlaflied in das Land der Träume begleiten. Das gelang zwar nicht immer, aber manchmal schon. Immer dann, wenn es im Kinderzimmer ruhig war, wurden wir unruhig. Wir schlichen auf Zehenspitzen ins Zimmer und sahen nach ihm. Meist schlief er dann auch und wir machten uns dann wieder leise davon. Diese Prozedur wiederholte sich am Abend mehrfach, bis auch wir erschöpft zu Bett gingen.

Es war wieder einer dieser Abende, an dem wir uns vorgenommen hatten, nicht ständig nach ihm zu sehen. Wir hatten es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht und den Fernseher eingeschaltet. Ich konnte mich aber auf das Programm nicht richtig konzentrieren. Im Kinderzimmer war es verdächtig ruhig. Eisern hielten wir eine halbe Stunde durch und schauten nicht nach unserem Sohn. dann hielten wir es nicht mehr aus. Wie schon so oft, gingen wir leise ins Kinderzimmer. Wir öffneten die Tür und bekamen einen gewaltigen Schrecken. Zur Einschlafprozedur gehörte auch eine Nachtbeleuchtung, die ein einschläferndes Dämmerlicht verbreitete. Das was wir sahen, wurde durch den schwachen Lichtschein noch verstärkt. Aus dem Kinderbett blickte uns ein schneeweißes Gesicht mit schwarzen Augen an. Der Kopf, zu dem das Gesicht gehörte, bewegte sich von links nach rechts und von rechts nach links und grinste uns teuflisch an. Im Kinderbett stand ein geheimnisvolles Wesen, das uns weiß gefärbte Hände entgegen streckte. Das Wesen quietschte auch noch fröhlich und rüttelte am Bettgitter. Wir schalteten das Licht ein.

Unser Sohn war putzmunter und zeigte mit seinen Fingern auf eine von ihm geöffnete Cremedose. Er holte mit seiner Hand wieder eine volle Ladung Creme und schmierte sie in sein Gesicht und in seine Haare. Das ganze war für ihn ein großartiges Spiel. Wir verschlossen die Dose und beförderten sie aus seiner Reichweite. Das gefiel ihm gar nicht. Er quittierte unsere Handlung mit einem nicht enden wollenden Geheul. Es sollte für ihn noch schlimmer kommen. Irgendwie mussten wir ihn entcremen. Die Frage war: Wie? Ich rief die Schwiegereltern an. Sie hatten immerhin zwei Kinder groß gezogen und wussten sicherlich Rat. Mein Schwiegervater war früher bei einer Öl produzierenden Firma tätig gewesen. „Mit Hautcreme beschmiertes Haar bekämpft man mit Öl" war sein Rat.

Aus dem Babygesicht wurde zuerst die Creme entfernt, und wir konnten unseren Sohn in Teilen schon wieder erkennen. Seine Begeisterung für den Säuberungsprozess hielt sich in Grenzen. Für die Haare nahmen wir Speiseöl. Etwas anderes hatten wir nicht. Und es funktionierte. Die weiße Creme ließ sich entfernen.
Seine blonden Haare waren aber jetzt fettig und schimmerten dunkel. Im nächsten Gang wurde mit Haarshampoo das Fett aus den Haaren gewaschen. Das geschah mehrere Male. Ein letzter Wasserguss und wir hatten unseren Sohn wieder. Eine gute halbe Stunde hatten wir ihn in der Mangel. Er war danach ziemlich erschöpft. Kein Wunder, hatte er doch während der ganzen Zeit laut geschrien.

Wir wissen nicht, ob er uns dankbar war. Wenn man ihn heute danach fragt, kann er sich an die Waschorgie nicht mehr erinnern. Das ist für mich ein Zeichen, dass es ihm nicht geschadet hat. Oder schlummern in ihm im Verborgenen noch Neurosen, die erst später ausbrechen. Ich habe Zeit und warte ab.

 

Wenn du noch eine Oma hast...

von Edith Kollecker erstellt im Juni 2014

Mir war das Glück hold, ich konnte meinen kleinen Enkel Simon von Geburt an begleiten. Sein erstes Lächeln, die ersten Schritte, wenn auch etwas unbeholfen und seinen ersten kleinen Wortschatz „Oma“! - es lief mir wie Öl runter. Ich war alt genug, um viel Zeit für ihn zu haben, um mich mit ihm zu beschäftigen und noch jung genug, mit ihm auf dem Fußboden mit Lego zu bauen oder in die Höhle zu krabbeln, die wir unterm Tisch gebaut hatten. Wir luden uns den Bollerwagen voll mit Spielzeug und Essen und marschierten singend „Heidiwitzka her Kapitän, wir wollen beide, beide bummeln gehen" zum Spielplatz. Er konnte sehr früh singen und mochte meine Lieder, obwohl sie seinem Alter entsprechend nicht angebracht waren. Für die Kinderlieder war dann seine Mutter zuständig. Mit 3 Jahren blieb er eine ganze Woche alleine bei uns in Quickborn. Später fuhr er mit Oma und Opa in den Urlaub. Als er dann zur Schule kam, war ich nur noch für das Mittagessen zuständig. Ich denke, Oma und Enkel haben sehr viel von einander profitiert.

Mir war es leider nicht vergönnt, eine Oma zu haben. Sie starb schon im Alter von 38 Jahren und hinterließ einen Mann und 7 Kinder. Die Pflege der Kinder übernahm dann meine Uroma, bis die Kinder sich selbst versorgen konnten. Sie starb mit 96 Jahren an dem Tag als ich geboren worden bin. Dieses hat meine Mutter mir erzählt.

Doch da war ja noch mein Opa! Ich habe ihn als alten, mürrischen, geizigen Mann in Erinnerung. Wenn wir ihn besuchten, sah uns ein großer, herrlich leuchtender Augustapfelbaum entgegen. Er wartete nur darauf, von uns gepflückt zu werden! Aber nein, wir durften nur die Äpfel nehmen, die schon auf dem Boden lagen und die waren alle wurmstichig. War Opa mal nicht in Sicht, oh wie schön, verpetzte uns der Hund mit seinem Gebell. Er war an einer langen Kette angebunden, sah ungepflegt aus und war genauso griesgrämig wie sein Herr.

Der Minihof von meinem Opa bestand aus einer Kuh, einem alten Pferd, zwei Schafen und ein paar Hühnern, Enten und Gänsen. Gackerte irgendwo ein Huhn, ging er das gelegte Ei suchen, denn die Hühner gingen zum Legen nicht immer in das von ihm vorgesehene Nest. Das Produkt von seinen Tieren und das Gemüse aus seinem kleinen Garten, verkaufte er sonnabends auf dem Markt in Köslin.

Zu meiner Zeit hatte er eine Haushälterin. Sie war schon etwas älter und hatte die Angewohnheit, „...komm ich heute nicht, komm ich morgen!“ Hatte der Opa Geburtstag, schickte meine Mutter meinen Bruder und mich schon zum Kaffee dort hin. Von Kuchen keine Spur und die Äpfel waren tabu. Sie hatte allerdings schon den Hefeteig angerührt und als meine älteren Schwestern abends nachkamen, haben sie dann die Pfannkuchen (Berliner) ausgebacken. Mein Bruder und ich hatten großen Hunger und haben ziemlich viel von den noch warmen Hefeteilchen gegessen, das nahm uns unser Magen nachts übel.

Etwas Gutes hat sie aber vollbracht, und das verdient Respekt. Als sie auch flüchten mussten, hat sie meinen Opa mit der Schiebkarre zum Sammelplatz fast 2 km geschoben. Mein Opa ist mit 96 Jahren 1956 in der DDR verstorben. In jedem Brief, den er an uns schrieb, stand zum Schluss: „In der Heimat, da gibt‘s ein Wiedersehen!“, so sehr war er noch mit der Heimat verbunden.

Meine Eltern haben der alten Heimat nicht nach gejammert, sie fühlten sich dort wohl, wo die Kinder in der Nähe waren und wo sie eine Arbeit hatten. Der letzte Umzug war zu uns nach Quickborn 1963. Sie waren damals 70 Jahre alt. Ein altes Sprichwort lautet, „alte Bäume soll man nicht verpflanzen“. Bei meinen Eltern traf das nicht zu, sie haben sich bei uns sichtlich wohlgefühlt, denn sie lebten noch gute 15 Jahre. Es hat sicher dazu beigetragen, weil wir zwei Kinder hatten. Stephan war 5 Jahre und Martina wurde erst geboren.

Meine Mutter war eine geborene Oma. Es war ihr nichts zu viel. Sie hörte sich stundenlang das Geräusch von der Mundharmonika an, die Martina geschenkt bekommen hatte, rein pusten und Luft holen. Auch später das Üben für ein Flötenkonzert, da konnte schon mal der Nachmittag draufgehen.

Mein Vater war für das Kinderwagenschieben zuständig. Nie hatte er eins von seinen 7 Kindern gefahren, dazu hatte er damals keine Zeit. Jetzt marschierte er stolz 2 km bis Ellerau und zurück. Leider hatte er die Angewohnheit, den Wagen nicht zu schieben, sondern zu ziehen. Pfeife rauchend kam er dann zu Hause an. Die Frage: „Wo hat sie denn die ganzen Sachen?“ Mütze, Handschuhe, Schuhe, Strümpfe, alles was die Kleine zu fassen kriegte, hatte sie rausgeworfen. Sein Kommentar: „Dunnerlitchen!“ Er setzte sich aufs Fahrrad und sammelte alles wieder ein, hatte auch alles gefunden.

So lebten drei Generationen friedlich unter einem Dach und mich hat es geprägt, eine gute Oma zu sein. So hatte sich jetzt der Kreis geschlossen!

 

Sonntagvormittag

von Uwe Neveling

Die Woche hat für mich sechs Arbeitstage. Dabei beträgt die wöchentliche Arbeitszeit achtundvierzig Stunden, für Überstunden fallen zusätzliche Zeiten an. Bei diesem ausgefüllten Arbeitsleben freue ich mich immer auf den Feierabend. Die Feierabendvergnügungen sind jedoch zeitlich eingeschränkt. Am nächsten Tag muss ich früh aufstehen. Ich habe ein großes Schlafbedürfnis und gehe daher zumeist noch vor Mitternacht zu Bett. Meinen Freunden geht es ebenso. Wir halten das für normal und vermissen nichts.

Nun sollte man meinen, dass wir das Versäumte oder knapp Bemessene am Samstag nachholen. Schließlich können wir am Sonntagvormittag doch ausschlafen. Weit gefehlt! Neben den zehn Geboten gibt es auch noch Kirchengebote. Da heißt es u.a.: Du sollst an Sonn- und Feiertagen der heiligen Messe andächtig beiwohnen. Da die Gottesdienste immer am Sonntagvormittag stattfinden, ist an Ausschlafen nicht zu denken. Man könnte den Besuch der heiligen Messe ausfallen lassen. Doch dann meldet sich das schlechte Gewissen. Das hat man uns Katholiken von Kindheit an eingeprägt. Außerdem legt auch die Familie großen Wert auf die Einhaltung der kirchlichen Riten, vor allen Dingen die Großeltern. Ich hatte es noch nicht einmal zum Messdiener gebracht und stehe daher unter besonderer Beobachtung meiner mir dennoch wohlgesonnenen Großeltern. Dazu zählt auch die regelmäßige Beichte mit der anschließenden Kommunion.

Damit ich und meine Freunde den Gottesdienstbesuch nur nicht vergessen, werden wir durch lautes Glockengeläut darauf aufmerksam gemacht. Die Liebfrauenkirche verfügt über ein prächtiges Glockenpaar. Ich kann mich noch daran erinnern, dass die Glocken Anfang der neunzehnhundertfünfziger Jahre erneuert wurden. Staunend haben wir zugesehen, wie sie feierlich von außen am Turm hinaufgezogen und dann in eine obere Einstiegsluke hineingezogen wurden. Beim anschließenden Probeläuten erhielt die Kirche ihren unverwechselbaren Klang. Dabei ist es dann auch geblieben. Wir erkennen unsere Kirche am Klang ihres Geläuts.

Es werden vier Sonntagsmessen angeboten: Frühmesse um 7 Uhr, Morgenmesse um 8 Uhr, Hochamt um 10 Uhr und Spätmesse um 11.15 Uhr. Der Ablauf ist bei allen Messen fast gleich. Man variiert in der Predigt und in der Anzahl der Lesungen aus dem Alten und dem Neuen Testament. In der Eucharistie erfolgt durch den Heiligen Geist die Verwandlung von Brot und Wein zu Leib und Blut Christi. Die Verwandlung wird mit einem kleinen Glockengeläut unterstützt. Der Glockenstrang führt durch das Deckengewölbe zu einem auf dem Kirchendach sitzenden kleinen Türmchen, in dem die Glocke hängt. Von außen kann man die Glockenschwingungen sehen. Es ist ein feierliches Läuten. Der Klöppel schlägt nur einmal an die Glocke und wird dann abgebremst. Das ganze wiederholt sich fünf bis sechs Mal. Ich hätte auch gerne einmal an dem Glockenstrang gezogen. Das geht aber nicht, denn ich bin kein Messdiener. Einige meiner Freunde sind es und dürfen diese wichtige Tätigkeit ausüben. Ich setze mich immer in die Nähe des Glockenseils. Wenn ein Freund das Seil bedient, flüstert er mir zu: Der nächste Zug ist für dich. Ich schließe die Augen und sehe mich am Seil ziehen. Es ist nur ein kurzer Augenblick, er macht mich aber froh.

Eines Tages erzählt mir ein Verwandter, der auch Probleme mit dem sonntäglichen Kirchenbesuch hat, dass ein Geistlicher ihn davon befreit habe. Allerdings mit der Auflage, dass er, wann immer ihm danach ist, in die Kirche gehe und bete. Es müsse nicht ein Sonntag sein, jeder andere Tag sei auch recht. Diese Vorgabe habe ich auch für mich in Anspruch genommen. Ich besuche die Kirche aus eigenem Antrieb heraus und formuliere ein freies Gebet. Danach fühle ich mich frei von Schuld und kann auch am sonntäglichen Vormittag befreit ausschlafen. Gott ist großherzig und wird mir diese Erleichterung nicht Übel nehmen.

 

Geschwister

von Uwe Neveling erstellt am 28.02.2007

Hat man Geschwister, so ist man nicht allein. Von Nachteil jedoch ist, dass man alles mit ihnen teilen muss. Dieser Nachteil wird durch gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfestellung aufgehoben. Die Vorteile überwiegen, voraus-gesetzt man versteht sich. Zu dieser Erkenntnis kommt man allerdings erst im Laufe vieler Jahre. Jedenfalls war es bei mir so. Der Weg zum Heute war beschwerlich und er war nicht immer schmerzlos. Eigentlich bin ich ein Einzelkind. Wenn jemand fragte: Wo sind die Kinder? war nur ich gemeint. Ich kam dann angelaufen und ließ mich begutachten. Meistens kam ich gut dabei weg. Das änderte sich als ich 12 Jahre alt war. Meine Mutter heiratete wieder und ich hatte plötzlich einen Bruder und eine Schwester. Sie waren fast genauso alt wie ich. Aber ich konnte überhaupt nichts mit ihnen anfangen.

Die Schwester trug eine dicke Brille. Dadurch wurde ihr äußeres Erscheinungsbild stark verfremdet. Damals sah sie aus wie eine Kräuterhexe. Erst als sie sich im Alter von 60 Jahren an den Augen operieren ließ, wurde sie ansehnlicher. Sie trägt jetzt keine Brille mehr, kleidet sich elegant und genießt ihr neues Leben. Nach der Augenoperation soll sie ausgerufen haben: Ich sehe Farben. Und das sagte sie auf Englisch. Sie ist Mitte der fünfziger Jahre nach England gegangen und dort auch geblieben. Sie hat sich vor Jahren einbürgern lassen und ist jetzt eine Engländerin, die englischer ist als die einheimische Bevölkerung. Sie kümmert sich um kranke Menschen und sieht darin ihre Berufung.

Der Bruder war in meinen Augen ein Schwächling. Wenn wir aneinander gerieten, verlor er zumeist. Er hatte zwei linke Füße und war zum Fußballspielen nicht zu gebrauchen. Er war allerdings ein guter Radfahrer, das muss ich neidlos anerkennen. Mit seiner Schwester kam er überhaupt nicht zurecht. Die beiden waren wie Hund und Katze. Ich musste auch einmal erleben, wie er ihr mit der Kante eines Brotbrettes auf die Stirn schlug. An der Stelle bildete sich sofort eine Beule. Die Schwester sah dadurch nicht besser aus und einer Kräuterhexe noch ähnlicher. Er war technisch sehr interessiert. Er nahm die kompliziertesten Geräte auseinander und baute sie funktionsfähig wieder zusammen. Diese Fähigkeit kam ihm später zu Gute. Er lernte bei einer großen Autofirma und war später in leitender Funktion im Konstruktionsbereich tätig. Ich habe mit beiden keinen engen Kontakt. Gelegentlich sieht man sich und tauscht oberflächliche Gedanken aus. Wir sind zu gegensätzlich und haben keine gemeinsamen Interessen.

Einen sehr engen Kontakt habe ich dagegen mit dem jüngsten Bruder meines Vaters. Er hat mir alles beigebracht, was Väter ihren Kindern beibringen. Er ist mein Onkel und war stolz darauf, dass er im Alter von 13 Jahren bereits einen Neffen hatte. Ich habe ihn unlängst gefragt, warum er sich so intensiv um mich gekümmert habe. Er sagte, er betrachte mich als seinen Bruder, denn seine leiblichen Geschwister seien für ihn zu alt gewesen. Das stimmt. Die Altersdifferenz zwischen ihm und meinem Vater beträgt 20 Jahre. Wenn ich mir einen leiblichen Bruder gewünscht hätte, dann meinen Onkel. Und wenn ich es richtig bedenke, dann ist er auch in Wirklichkeit mein Bruder.